fem_arc collective

Architektur als Verhandlungsprozess

Wie können Raumpraktiken jenseits mehrheitsgesellschaftlicher Normen die Disziplin der Architektur verändern? Seit 2018 setzt sich das Berliner Kollektiv fem_arc dafür ein, den Architekturdiskurs radikal zu erweitern und diesen nachhaltig zu verändern. Sie sehen Unterschiede nicht als Mangel oder Problem, sondern als Ausgangspunkt für neue Lösungsansätze.

Text: Lara Stöhlmacher und Ana Rodriguez Bisbicus, fem_arc

In dem Projekt „Gossip“ stellt das Kollektiv Klatschgeschichten aus Nachbarschaften wie dem Frankfurter Bahnhofsviertel (links) oder dem Kiez am Kottbusser Tor in Berlin (unten) in Schaufens­tern aus
Foto: Duygu Atceken

In dem Projekt „Gossip“ stellt das Kollektiv Klatschgeschichten aus Nachbarschaften wie dem Frankfurter Bahnhofsviertel (links) oder dem Kiez am Kottbusser Tor in Berlin (unten) in Schaufens­tern aus
Foto: Duygu Atceken

Architektur als Disziplin ist, wie viele andere Dinge, eingebettet in Machtstrukturen. Das ist selbst dann so, wenn sie wohlwollend und nicht direkt zum Zweck des Machterhalts dominanter Gruppen eingesetzt wird. Architektur und andere zugrunde liegende Fachrichtungen, wie Geometrie und Geographie, sind in patriarchalen, kolonialen, kapitalistischen und ableistischen Gesellschaften entstanden. Die Arbeitsweisen, Konzepte und Strukturen, auf die Planer:innen ihre Arbeit stützen, entspringen ebenso wie viele der Normen und Standards diesen Gesellschaften und ihren auf Vereinfachungen beruhenden Weltbildern. Als wir vor ca. zehn Jahren anfingen, Architektur zu stu­dieren, fanden wir uns in stark de-politisierten Architekturinstitutionen wieder. An der Universität zitierten die Lehrenden die immer gleichen Referenzen und verwiesen auf vermeintlich universelle Normen, die die Lebenswelten des ähnlich homogenen Lehrkörpers widerspiegelten. Allein schon innerhalb unseres Kollektivs aber versammeln sich Menschen mit so unterschiedlichen Biografien, Erfahrungen und Interessen. Aus unserer kollektiven Struktur entsteht eine Gleichzeitigkeit, mit der wir in unseren Projekten seitdem einen Umgang finden.


Foto: Robert Schittko

Foto: Robert Schittko

Komplexität zulassen
In Räumen überlagern sich eine Vielzahl von persönlichen Geschichten, sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Strukturen. Unser gestalterischer Anspruch als Planer:innen ist, dieser Vielstimmigkeit nicht mit einfachen Antworten oder Leitlinien zu begegnen. Wir verstehen uns als Moderator:innen von Verhandlungsprozessen mit Raumbezug. In unseren Projekten setzen wir uns komplizierten und unbequemen Situationen aus, die uns mit uns unbekannten Erfahrungen konfrontieren. Als vermeintlichen Expert:innen fehlen uns oft die Antworten. Um möglicherweise irgendwann verständliche Worte zu finden, müssen wir erst einmal genau zuhören. Das fühlt sich meist ungewohnt bis unangenehm an, denn wir sind als Archi­tekt:innen ja trainiert, Visionen zu verkaufen, die Räume verändern. Aber es ist notwendig, wenn wir Menschen und ihren Lebenswelten wirklich begegnen wollen. Uns ist wichtig, nicht so zu tun, als gäbe es die eine, objektive Wahrheit. Genauso wenig gibt es einen Entwurf, der für alle gleich gut passt. Es gibt subjektive Erfahrungen und viele Widersprüche im Raum. Sich diesen als Planer:in immer wieder auszusetzen und zuzuhören, kann helfen, die eigene Normalität zu hinterfragen und mehr Komplexität zuzulassen.

In verschiedenen Formaten wie Stadtrallyes, beim Tanzen oder Malen entwickelte das Kollektiv eine gemeinsame Sprache mit den Jugendlichen
Foto: fem_arch

In verschiedenen Formaten wie Stadtrallyes, beim Tanzen oder Malen entwickelte das Kollektiv eine gemeinsame Sprache mit den Jugendlichen
Foto: fem_arch

Perpektivwechsel
Bei unserem Projekt „IBA… (Ich Baue Auch…)” ist unser Ansatz zum Beispiel, in Workshops und offenen Aktionen im Stadtraum über einen längeren Zeitraum zu untersuchen, wie Mädchen und queere Jugendliche den Stadtraum erfahren und wie dieser aussehen würde, wenn er auf Grundlage ihrer Erfahrungen gebaut würde. Wir erproben momentan Methoden, die den Lebenswelten der Jugendlichen mehr entsprechen als die Planungswerkzeuge, die wir an Universitäten gelernt haben. Dabei knüpfen wir auch an die Arbeit von Sozialarbeiter:innen und an die Erfahrung von Jugendeinrichtungen an. Diese Arbeitsweise ist für uns nötig, um überhaupt erst in den Austausch kommen und langfristig eine gemeinsame Sprache entwickeln zu können. Wir bieten unsere Methoden an, aber wollen auch lernen, was die Methoden der Jugendlichen sind, und wie z. B. Tanzen, Stadtralleys oder Malen neue Zugänge zu Räumen in der Stadt schaffen.

Für das Projekt "IBA…" experimentiert fem_arc mit Mädchen und queeren Jugendlichen, um von ihren Perspektiven auf den Stadtraum zu erfahren
Foto: Duygu Atceken

Für das Projekt "IBA…" experimentiert fem_arc mit Mädchen und queeren Jugendlichen, um von ihren Perspektiven auf den Stadtraum zu erfahren
Foto: Duygu Atceken

Lebenswelten verknüpfen
Für ein anderes Projekt haben wir gerade Klatschgeschichten im Frankfurter Bahnhofsviertel gesammelt und untersucht, wie sich unterschiedliche Menschen das Bahnhofsviertel sehr verschieden erzählen. Klatsch verstehen wir als alltägliche Gesprächsform, in der Menschen Informationen teilen, um sich besser in der Stadt zurechtzufinden. Wenn wir uns als Planer:innen wirklich mit der gesamten Bandbreite an Lebenswelten in städtischen Räumen auseinandersetzen und nicht nur mit den Blasen, zu denen wir einfach Zugang haben, dann lernen wir, wie vielschichtig und kontrastreich die Stadtgesellschaft ist.

Im Frankfurter Bahnhofsviertel ist dies sehr stark ausgeprägt. Auf extrem kleinem Raum leben Menschen gemeinsam, deren Leben unterschiedlicher nicht sein könnte. Es ist erstaunlich, wie wenig Überschneidungspunkte es zwischen diesen Lebenswelten gibt, obwohl wir in Städten auf engstem Raum zusammenleben. Nur weil wir z. B. im gleichen Mietshaus wohnen, heißt das nicht, dass wir "sozial durchmischt” sind und ein Verständnis für die Erfahrungen unserer Nachbar:innen haben. Für unser Projekt sammeln wir also möglichst unterschiedliche Geschichten aus Nachbarschaften und zeigen diese in Schaufensterinstallationen vor Ort. Wir beobachten ein großes Interesse an diesen Installationen von Seiten der Nachbar:innen. Durch das zufällige Aufmerksamwerden entsteht die Möglichkeit für neue Verbindungen und Allianzen.

Wenn wir als Planer:innen nicht den Regeln folgen, Neues ausprobieren und prozessoffen mit Menschen arbeiten, kann das auch mal zu keinen Ergebnissen führen. Manchmal laufen Annahmen ins Leere oder Personen, die wir gern erreichen würden, haben kein Interesse. Aber als Gruppe können wir gemeinsam reflektieren und uns gegenseitig unterstützen. In unserer gemeinsamen Arbeit als fem_arc collective haben wir verstanden, wie wichtig es ist, sich zusammen zu schließen und sich zu trauen, etwas Eigenes anzufangen. Das kann auch mal nicht funktionieren, das kann anstrengend sein und frustrieren. Es aber erst zu probieren, ist der entscheidende Schritt.

fem_arc collective

Team: Lara Stöhlmacher, Ana Rodriguez Bisbicus
www.fem-arc.net

insta: fem_arc
team@fem-arc.net

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