Vier Meter über der Elbe

Archiv der Avantgarden, Dresden

Wie eine Knobelbox wirkt das sogenannte Dresdner Blockhaus von außen. Betritt man den schlichten quadratischen Baukörper und versucht, seine Logik zu verstehen, scheint das Rätsel erstmal unlösbar: Nicht nur der schwebende Betonkubus kann einen schwindlig machen, auch die Geschossordnung kann verwirren. Bei einer näheren Betrachtung ist die Lösung jedoch ganz einfach, fast könnte man meinen, dass es so und nie anders hätte sein können. „Etwas Einfaches zu machen, ist meistens extrem schwierig“, gibt der Architekt Enrique Sobejano zu.

Vom Dresdner Hauptbahnhof ist die architektonische Landschaft beim Begehen der Prager Straße, die über die Seestraße und anschließende Schloßstraße auf die Augustusbrücke zuläuft, durchaus vielfältig. DDR-Bauten der Moderne wie die 240 m lange Prager Zeile oder der im Stil des sozialistischen Klassizismus wieder aufgebaute Altmarkt platzieren sich zwischen einzigartigen Barockbauten. Nur wenige hundert Meter voneinander entfernt stehen der Kulturpalast und die barocke Kathedrale am Elbufer im angenehmen Kontrast zueinander. Als Spitze dieses imaginären Dreiecks dürfte man sich die wiederrichtete Frauenkirche denken. Wer dann auf der Augustusbrücke weitergeht und der Dresdner Altstadt den Rücken kehrt, blickt auf ein scheinbar unscheinbares Gebäude, das den Blick auf den bekannten Goldenen Reiter beinahe versperrt.

Dabei ist die Geschichte des Blockhauses alles andere als unscheinbar – im Gegenteil: Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich die Stadt an Stile und Epochen angepasst hat. Im 18. Jahrhundert als Neustädter Wache erbaut, diente das freistehende Gebäude in der DDR bis 1989 als Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Das beliebte Restaurant im Obergeschoss blieb sogar bis 1994 geöffnet. Nach einer Nutzung für Veranstaltungen durch das Land Sachsen und als kurzzeitiger Sitz der Sächsischen Akademie der Künste und anderer Institutionen ist hier seit Mai 2024 das Archiv der Avantgarden zu Hause. Mit der Schenkung von über 1,5 Millionen Objekten zu den Avantgarden des 20. Jahrhunderts durch den Kunstsammler Egidio Marzona erhielt das Blockhaus seine neue Bestimmung.

 

Schwereloser Beton

Das seit 2013 wegen Hochwasserschäden leerstehende Blockhaus wurde vom spanisch-deutschen Büro Nieto Sobejano Arquitectos umfangreich ausgebaut. Während aus Denkmalschutzgründen die Fassade und das äußere Erscheinungsbild saniert und repariert wurden, ist im Inneren des Gebäudes von den früheren Nutzungen nichts mehr zu erkennen: Das barocke Gebäude wurde komplett entkernt, nur seine Hülle steht heute noch. Dieser radikale Eingriff war nicht zu umgehen und so entschied sich 2016 die Wettbewerbsjury für einen Entwurf, der einen ähnlichen Ansatz wie das von ­Staab Architekten im nicht weit entferntem Albertinum umgesetzte Konzept vorschlägt: das Sicherstellen der Schaustücke vor der Gefahr einer Elbüberflutung. Nieto Sobejano Arquitectos entschieden sich dafür, das Archiv in einem Betonkubus unterzubringen, der über dem offenen Erdgeschoss und dem Ausstellungsbereich schwebt.

Opposition und Abstand

„Den Überraschungseffekt, den man beim Betreten des Gebäudes spürt, spiegelt den Charakter der Avantgarden wider“, erklärt Enrique Sobejano, Gründer von Nieto Sobejano Arquitectos. Stets brechen diese mit einer herrschenden Ordnung – auch wenn der vermeintliche Fortschritt nicht immer im Namen einer emanzipierten Welt stattfindet, wie der italienische Futurismus zeigt, der weitgehend vom faschistischen Regime aufgenommen wurde. Wir wollten die Schwere der Geschichte des Gebäudes mit dem Aufbruchcharakter der Avantgarden in Bezug setzen. Der Bruch mit der Tradition, den sie innehaben, sollte auch in der Architektur sichtbar werden.“ Sobejano erklärt, dass die Idee der Opposition das gesamte Projekt durchdringt: Die Aufgabe lautete, in einem historischen Gebäude, Texte und Objekte zur Literatur, Kunst, Musik, zur Architektur und zum Design der avantgardistischen Bewegungen des 20. Jahrhundert in einem Neubau in Einklang zu bringen. „Diese Idee der Opposition“, so Sobejano weiter, „haben alle am Projekt Beteiligten verstanden und bis zum Ende durchgespielt.“ Räumlich spürbar wird diese Opposition vor allem beim Aufschauen in die Lücken, die sich zwischen den jeweiligen Raumvolumen bilden.  Aus Stahl verkleidete „Abstandshalter“ bilden den Übergang vom Kubustragwerk auf die Erschließungskerne und stärken diesen Eindruck. Die dadurch entstehenden Zwischenräume machen beim Hochschauen die schwebende Monumentalität der Konstruktion erfahrbar.

Der Kontrast wird auch durch die Materialwahl deutlich. Alle tragenden Bauvolumen sind aus Beton realisiert und heben sich von den weiß verputzten Innenwänden des Bestands ab. Die Oberflächen in rauer Schalbetonoptik spiegeln die Qualität der Konstruktion: „What you see, is what you get“, so Sobejano. Der eigentümliche Charakter und die Skulpturalität des Würfels konnte so nur durch das Einsetzen von Beton erreicht werden: „Hätten wir ausschließlich mit Materialien wie Stahl oder Holz gearbeitet, wäre die Umsetzung der Entwurfsidee nicht möglich gewesen. Um den freien Grundriss zu ermöglichen, hätten wir mit aufwendigen räumlichen Fachwerken arbeiten müssen, die von den Exponaten und den weiteren Nutzungen im Gebäude abgelenkt hätten“, erklärt der Architekt.

Der Kubus selbst wird von vier trapezförmige Stahlbetonträgern gehalten, die sich der Dachform anpassen und von der Forschungsplattform aus sichtbar sind.

Die Last wird von den Trägern in die Ecken der Bestandsfassade geleitet. An dieser Stelle musste der Bestand ertüchtigt werden, sichtbar wird dieser Eingriff jedoch wie an der restlichen Fassade nicht. Weiter verteilt sich die Last über drei Vierendeelträger aus Stahl, die auf die an den Seiten stehenden Erschließungskerne aufliegen. Die Vertikalstäbe der Träger sind im Inneren des Würfels als raumtrennende Stützen wahrnehmbar und gliedern die Archivräume. Bei der Betrachtung des gesamten statischen Systems wurde das Gewicht der Archivalien mitgerechnet. Dazu gehören mehrere hunderttausend Papiernachlässe, Erstausgaben sowie Möbel und Objekte von Designern und Designerinnen des 20. Jahrhunderts. Die kontrollierte Atmosphäre im Inneren und der hermetische Charakter des Kubus – Klima und Licht sind stark kontrolliert – lässt nach Außen wenig von der inneren Funktion erahnen.

Im Zentrum des Kosmos

Das schwebende Archiv kann als Zentrum eines Kosmos betrachtet werden. Um dieses Zentrum herum dreht sich das 2. Obergeschoss mit der Forschungsplattform, den Vorlage- und Lesesälen sowie den Büroräumen. Ausdrucksvolles Verbindungselement zur Ausstellungsfläche und zum Eingangsbereich ist die skulpturale Wendeltreppe, die mit einem Innendurchmesser von nur 40 cm weltweit eine Seltenheit darstellt. Zusätzlich zu ihrer konstruktiven Besonderheit trägt die Wendeltreppe zum Gesamtbild des Projektes bei: „Ein Gebäude muss sprechen können“, davon ist der Architekt aus Madrid überzeugt, „und die Treppe sagt: ‚Kommt hoch, hier ist noch mehr.‘“ Durch ihre geschwungene Form und die konstruktive Einheit mit den restlichen Volumen soll sie die Besucherinnen und die Nutzerinnen in den Sog der Avantgarden ziehen. Um diese Kontinuität zu schaffen, wurde die Wendeltreppe nicht vorgefertigt, sondern vor Ort errichtet und untermauert den monolithischen Charakter des gesamten Ausbaus.

Folgt man der Treppe nun ins unterste Geschoss – das Sockelgeschoss – wird man ins Café geführt, das sich zum Canaletto-Blick öffnet und einen uneingeschränkten Blick auf die Dresdner Altstadt bietet. Weitere dienende Funktionen wie Publikumstoiletten und Lagerräume sind auch hier untergebracht, sodass sich im Erdgeschoss nur der Ticket- und der Museumsshop sowie die Garderobe an den Haupteingang schmiegen.

Als Besucherin wird man bei laufender Ausstellung bedauerlicherweise wenig von dem schwebendem Volumen wahrnehmen. Die zum Schutz der Werke notwendigen Vorhänge und die Ausstellungsarchitektur (vom Mailänder Büro Formafantasma gestaltet) brechen mit dem fließenden Raumgefühl, in dem sonst das Hochschauen überraschende Momente schenkt und der Betonwürfel wie von Flügeln getragen zu sein scheint.

 

Ein offenes Haus?

Im übertragenen Sinne drehen sich auch die Ausstellungen um das Archiv. Sie zeigen Objekte aus den Beständen der Sammlung von Egidio Marzona, die auf kurzen Wegen zugänglich sind und der Öffentlichkeit präsentiert werden können. Im halbjährigen Rhythmus finden abwechselnd Ausstellungen zu Literatur, Architektur, Design und Gesellschaft mit Bezug zu den avantgardistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts statt. So kann (vorerst) auf Exponate Dritter verzichtet werden.

Der Austausch im Gebäude soll jedoch nicht nur zwischen Archiv und Ausstellungsprogramm, sondern auch zwischen Besucherinnen und Forscherinnen stattfinden. Auf der Forschungsplattform im 2. Obergeschoss kann zusätzliches Material zur laufenden Ausstellung besichtigt und Archivalien studiert werden. Obwohl das Archiv der Avantgarden in Bezug auf alle, die sich im Gebäude aufhalten, „lieber von Nutzerinnen als Besucherinnen“ spricht, ist dieser Austausch leider durch die sich nicht überschneidenden Öffnungszeiten erschwert.

 

Auf stetigem Kurs

Das Archiv der Avantgarden von Nieto Sobejano Arquitectos wurde wie nach Entwurf umgesetzt – in vergleichsweise kurzer Zeit. Enrique Sobejano bezieht sich dabei auf die gute Zusammenarbeit und das gemeinsame Verfolgen eines Ziels – und einer Idee. Auch vonseiten der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD), Nutzerin des Gebäudes, war die Kooperation erfolgreich und beruhte auf das „Möglichmachen des Unmöglichen“, so Sobejano.

Für Dresden bedeutet dieses Gebäude eine weitere Auseinandersetzung mit Kontrasten, die in der Stadt, wie eingangs erwähnt, zumindest baulich sicher nicht neu sind. Sie ist es gewohnt, Geschichte zu überschreiben und mit neuen Bedeutungsebenen zu füllen. Das Archiv verkörpert genau das: Die Radikalität der Geste, das Belassen der historischen Hülle sowie die Umsetzung im Inneren platzieren sich in einem Kontext, der die große Geste zwar zulässt, aber nur dort, wo die Überraschung zur Regel geworden ist. Der von und für Egidio Marzona realisierte Kosmos ist so vorm kritischen Auge erstmal geschützt und bewegt sich sicher und stetig auf seiner berechneten Umlaufbahn.

Amina Ghisu/DBZ

Die skulpturale Qualität des Betons lässt sich bei einem Besuch des Archivs der Avantgarden in Dresden erleben. Der Entwurf von Nieto Sobejano Arquitectos arbeitet mit der homogenen Gestaltung der Bauteile und der ästhetischen Materialbehandlung die volle Schönheit des Materials heraus.«
DBZ-Heftpartner GRAFT, Berlin

Projektdaten

Objekt: Archiv der Avantgarden Dresden                               

Typologie: Archiv-, Forschungs-, Museumsgebäude

Bauherr/Bauherrin: Staatsbetrieb Sächsisches Immobilien- und Baumanagement – Niederlassung Dresden I, www.sib.sachsen.de

Nutzung: Staatliche Kunstsammlungen Dresden

Architektur: Nieto Sobejano Arquitectos,

www.nietosobejano.com

Team: Fuensanta Nieto, Enrique Sobejano, Patricia Grande, Johannes Hanf (Architektur), Roman Bender, Kirstie Smeaton (Projektleitung), Anna-Lena Berger, Clemens Ahlgrimm, Lucia Andreu, Michal Ciesielski, Lorna Hughes, Vissia Portioli, Sebastian Saure, Ina Specht, Kathi Weber, Claudia Wulf (Team)

Bauleitung: Nieto Sobejano Arquitectos mit AWB Architekten, Dresden, www.awb-architekten.de

Bauzeit: 2019-23

Grundstücksgröße: 2 264 m²

Grundflächenzahl: 0,43

Geschossflächenzahl: 1,67

Nutzfläche gesamt: 2 742 m²

Nutzfläche: 2 030 m²

Technikfläche: 290m²

Verkehrsfläche: 422 m²

Brutto-Grundfläche: 3 773 m²

Brutto-Rauminhalt: ca. 20 000 m³

Baukosten (nach DIN 276): ca. 15,8 Mio. € (brutto, KG300+400)

Gesamt brutto: ca. 25 Mio. €

Hauptnutzfläche: ca. 8 100 €/m² (Baukosten Brutto/m² NUF1-6)

Brutto-Rauminhalt: ca. 790 €/m² (Baukosten Brutto/m² Hauptnutzfläche)

Fachplanung

Tragwerksplanung: Wetzel & von Seht, Hamburg, www.wvs.eu

TGA-Planung: Brendel Ingenieure Dresden GmbH, Dresden, www.brendel-ing.de

Akustik: Müller BBM GmbH, Dresden, www.muellerbbm.de

Landschaftsarchitektur: Kretzschmar und Partner Freie Landschaftsarchitekten, Dresden,

www.kretzschmar-partner.de

Brandschutz: Prof. Rühle, Jentzsch und Partner GmbH, Dresden, www.rjp.de

Thermische Bauphysik: Müller BBM GmbH, Dresden, www.muellerbbm.de

Energiekonzept

Primärenergiebedarf: 93 kWh/m²a nach EnEV 2013

Endenergiebedarf: 80 kWh/m²a nach EnEV 2013

Jahresheizwärmebedarf: 106,6 kWh/m²a nach PHPP/EnEV 2013

Energiekonzept: Sandsteinwand Bestand mit Innendämmung und gedämmtem Holzbalkendach

U-Werte Gebäudehülle:           

Außenwand = ca. 0,80 W/(m²K)                     

Bodenplatte = ca. 0,30 W/(m²K)                     

Dach = ca. 0,30 W/(m²K)                     

Fenster (Uw) = 1,3 W/(m²K)     

Verglasung (Ug) = 1,1 W/(m²K)

Hersteller

Beleuchtung: ERCO Optec (Ausstellungs-/Forschungsbereiche), ERCO Skim (Nebenbereiche), www.erco.de

Bodenbeläge: Rheodur® SiC-Megaplan, Chemotechnik, www.chemotechnik.de

Dach: Dacheindeckung „Sächsischer Biber”, Creaton, www.creaton.de

Innenwände/Trockenbau: Rigips, www.rigips.de

Sanitär: Duravit (WCs), www.duravit.de, Geberit Vertriebs GmbH (Waschtische), www.geberit.de

Sonnenschutz: Silent Gliss, www.silentgliss.ch

Türen/Tore: Stahltüren mit Aluminiumbekleidung, (Öffentliche Bereiche), Enviral, www.enviral.eu, Holz­türen mit HPL-Bekleidung (Nebenbereiche), Pfleiderer, www.pfleiderer.com

Wärmedämmung: Innendämmputz Maxit, www.maxit.de

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