Atelier Gardens, Berlin
Auf dem BUFA-Gelände im Berliner Bezirk Tempelhof waren lange Zeit Film- und Fernsehproduktionen beheimatet. Nun will ein neuer Investor dort Unternehmen der Transformation ansiedeln, die sich mit Medien, Digitaler Revolution und bewegten Bildern beschäftigen. Hirschmüller Schindele setzen den Mediencampus-Masterplan von MVRDV vor Ort um. Und finden dabei eine neue Balance zwischen Aufbau, Nachverdichtung und Deindustrialisierung des Gesamtkomplexes.
Es gibt da diese eine Szene im Film „Ghost Dog“ von Jim Jarmusch aus dem Jahr 1999: Zwei Freunde beobachten von einem Dach aus, wie ein Dritter an einem Boot auf einem Garagendach baut. Der eine der Freunde ist Taubenzüchter und Auftragskiller und spricht nur Englisch. Der andere ist haitianischer Eisverkäufer und spricht nur Französisch. Dennoch fragen sich beide in ihrer Sprache, wie der Dritte das Boot jemals zu Wasser bringen will und einigen sich schließlich darauf, dass das Vorhaben ebenso verrückt wie genial ist.
Szenenwechsel: Im Garten der Berliner Union Film GmbH (BUFA) am Rande des Tempelhofer Felds steht ein aufgebocktes Kajütboot, in dem munter die Tauben flattern. Weit und breit ist kein Wasser zu sehen, dafür ist es umringt von fünf geschichtsträchtigen Filmstudios. Ein Bild, dass Vergangenheit, Gegenwart und erträumte Zukunft des BUFA-Geländes auf den Punkt bringt – auch wenn Jim Jarmusch hier freilich nie gedreht hat. Dafür aber zum Beispiel die Regisseure Paul Wegener und Carl Boese, die hier 1920 ihren expressionistischen Stummfilmklassiker „Der Golem“ schufen, damals noch in einem Glashaus nach den Plänen von Bruno Buch. Mit dem Tonfilm kam dann der Umbau der Hallen aus Stein. Zeitschichten überlagern seitdem einander und machen aus dem Gebäudekomplex ein vielschichtiges Dokument, dem nun ein neues Kapitel hinzugefügt wird.
Verantwortungsvoller Investor
„Vor rund sechs Jahren erhielten MVRDV-Architekten vom Londoner Investor Fabrix den Auftrag, einen Masterplan für das etwa sechs Hektar große Gelände zu entwickeln“, sagt Markus Hirschmüller, Gründer und Miteigentümer von Hirschmüller Schindele Architekten aus Berlin. „2020 kamen wir dann als Projektarchitekten vor Ort mit an Bord.“ Fabrix sei alles andere als eine Heuschrecke. Das Unternehmen habe es sich auf die Fahne geschrieben, vernachlässigte und unternutzte urbane Räume ökologisch, wirtschaftlich und sozial zu entwickeln. Und dabei möglichst mit der vorhandenen Substanz zu arbeiten. „Das ist auch der Grund, warum wir ins Spiel kamen“, sagt Markus Hirschmüller. „Den Investoren gefiel unsere Expertise im Holzbau, urbaner Nachverdichtung und den Themen Entsiegelung, Begrünung und Regenwassernutzung.“
Einen besonderen Ort für die Filmwirtschaft der Hauptstadt zu schaffen – so in etwa lautete der Auftrag der Investoren. Und MVRDV sahen in ihrem Masterplan daher vielfältige Nutzungen für unterschiedliche Gruppen vor. Dazu gehören Büroetagen ebenso wie Ateliers für den Kulissenbau, Platz für Filmsets, eine hochwertige Kantine mit regionaler, vorzugsweise veganer Küche, ein Café, Räumlichkeiten für eine Filmschule und, und, und. Im Garten gibt es die Möglichkeit für Filmscreenings, in der Halle Ton 1 ist zuletzt ein großer Besprechungs- und Veranstaltungsraum fertig geworden, der sich von bunten, dramatisch von der hohen Decke hängenden Vorhängen in unterschiedliche Räume unterteilen lässt.
Graue Energie bewahren
Die große Geste – dafür ist MVRDV bekannt. Hier, mitten in einem Industriegebiet am Rande des ehemaligen Zentralflughafens der Hauptstadt lässt sich besichtigen, wie die große Geste mit ganz einfachen Mitteln gelingt. Auch und gerade, weil hier internationale Ansprüche und lokale Gegebenheiten sehr sorgfältig und mit Kenntnis um die Geschichte der Stadt und des Standorts von Hirschmüller Schindele moderiert wurden.
„Unser Ziel und unsere Aufgabe ist es, im Transformationsprozess so viel graue Energie wie möglich zu erhalten und trotz Nachverdichtung und Aufstockung auch für Ausgleichs- und Entsiegelungsflächen zu sorgen“, sagt Markus Hirschmüller. Das Campus-Projekt „Atlier Gardens“ sei im Sinne des Mottos „Soil, Soul, Society“ entstanden, das der britisch-indische Aktivist Satish Kumar geprägt hat. Jüngstes Beispiel dafür ist Haus 1, das als Bürogebäude erst in den 1990er-Jahren unter der Ägide des ZDFs entstanden ist, das hier zu Mauerzeiten unter anderem „Die Hitparade“ mit Dieter Thomas Heck produziert hat. Zahlreiche kleine Büroeinheiten stapelten sich in einem EG und vier OGs in den Himmel – ein zu kleinteiliges und festgelegtes Raumgefüge für die Planer, das dem Gedanken der Kollaboration und Transformation im Wege stand. „Im Grunde haben wir die Flächen auf den Bestandsetagen vor allem von allen nichttragenden Wänden und Einbauten befreit“, sagt Markus Hirschmüller. Daraus ergab sich eine Donutform mit umlaufenden Büroflächen, die sich für vielfältige Nutzungen eignen. „Wir selbst werden hier mit unserem Büro einziehen sowie weitere Kulturschaffende, die mehr oder minder mit dem Film- und Fernsehgeschäft assoziiert sind. Unter anderem sei zum Beispiel ein klassisches Orchester als Mieter im Gespräch.
„Die Eingriffe haben wir beim Haus 1 bewusst so gering wie möglich gehalten. Die Fußbodenheizung ließen wir zum Beispiel in den Bestandsestrich einschleifen, auch die Fassade wurde weitestgehend im Originalzustand belassen“, sagt Hirschmüller. „Lediglich die Innentüren und die Fassade erhielten einen Anstrich in Gelb, was die Themenfarbe des Gebäudes ist.“ Ersetzt wurde zumeist nur, was mit dem Brandschutz in Verbindung steht, da recyceltes Material meist nicht über geeignete Zertifizierungen verfügen. „Funktional bietet das Gebäude Arbeitsflächen, dient aber auch als Empfang und als erster Begegnungsraum für das Gelände, da es direkt neben der Pforte steht und mit dem Café einen zentralen Anlaufspunkt bietet.“
Kamerafahrt auf der Freitreppe
Doch das ist noch nicht alles. Denn mit einem leichten Aufbau fügten MVRDV und Hirschmüller Schindele dem Gebäude eine emotionale Komponente hinzu, die den charakterarmen Funktionsbau in einen kleinen Leuchtturm für das Gelände verwandelt. „Das Gebäude bietet diesen tollen Blick über das Tempelhofer Feld, den wir erschließen wollten. Denn er zeigt eine Skyline mit Flughafen, der City-West und Mitte, die man so in der Stadt kaum irgendwo zu Gesicht bekommt. Gleichzeitig erlebt man hier aber auch das andere, grüne und weitläufige Berlin“, sagt Hirschmüller. Geplant ist der Aufbau als Veranstaltungsort und Treffpunkt, der auch als Fernsehstudio à la ARD-Hauptstadtstudio genutzt werden kann.
Um nicht in die Tragwerksstruktur des Bestands eingreifen zu müssen, war für Hirschmüller Schindele von Anfang an klar, dass der Aufbau leicht sein musste und an dem bestehenden inneren Erschließungskern anschließen sollte, der für diesen Zweck eigens mineralisch verlängert wurde. „Der Aufbau selbst besteht aus zwei großen Holzmodulen für die West- und Ostfassade, die Nord und Südfassade bestehen aus zwei großen Schiebetürelmenten aus Glas“, erklärt Hirschmüller. So habe der Aufbau des Rohbaus vor Ort letztlich nur zwei Wochen gedauert.
Aufbau auf Stahlgitter
Mit einem Trick gelang es den Planern, alle neu entstehenden Lasten über das bestehende Tragwerk und die Fassade abzuleiten. „Das Gebäude selbst steht auf einem Gitter aus Stahlträgern, die ihre Last auf die bestehenden Stützen ableiten“, sagt Hirschmüller. Für die Terrassen auf der Nord- und Südseite reichten letztlich fünf große CLT-Platten mit Anschluss an die Fassade aus, um die anfallenden Lasten aufzufangen. „Das hat mich jede Menge Rechnerei und Diskussionen mit den Statikern gekostet. Aber letztlich bin ich froh, dass wir so eine ganze Menge neuen Stahl einsparen konnten.“
Das Gesamterlebnis des Gebäudes, das aus Bestand, Aufbau und umgebenen Flächen und Gebäuden besteht, wäre aber nicht vollständig, wenn es da nicht noch die bespielbare Freitreppe gebe. Sie führt als zweiter Rettungsweg vom Dachaufbau in den Garten, in dem auch das Kajütboot bzw. der Taubenschlag steht. Mit ein bisschen Fantasie kann man den gewundenen Weg herab, der hier und da auch Verweilmöglichkeiten bietet, als Kameraflug über das Gelände deuten, der immer wieder neue Perspektiven auf das Areal und die Stadt erschließt. Solch einen Vogelflug über urbanes Gelände gibt es auch zu Beginn von Jim Jarmuschs Ghost Dog. Vielleicht ist das BUFA-Gelände ein Sequel? Auf jeden Fall bleibt es spannend, welche Geschichten künftig auf dem Areal und über das Areal erzählt werden. ⇥Jan Ahrenberg/ DBZ
Projektdaten
Objekt: Atelier Gardens, Haus 1
Standort: Oberlandstraße 26-35, 12099 Berlin
Typologie: Büro, Studio-Pavillon
Bauherr/Bauherrin: Tempelhof Limited, Vertreten durch:
Fabrix Capital Limited GB
Betreiber: Atelier Gardens GmbH & Co. KG
Architektur – Leistungsphasen 1-3: MVRDV, Rotterdam/NL,
www.mvrdv.com
Architektur – Leistungsphasen 4-9: Hirschmüller Schindele Architekten, www.hsarchitekten.com
Team: Hirschmüller Schindele Architekten: Markus Hirschmüller, Andreas Credo, Leonie Lorenz, Miguel Lopez, Maximilian August, Larissa Preuß, Benedikt Tulinius, Goran Petrović, Lydia Kotzan, Ioanna Nicolaou, Claudia Große-Hartlage
Projektsteuerung: Drees & Sommer SE, Berlin, www.dreso.com/de
Bauzeit: 01.08.2022 bis 01.09.2023
Nutzfläche gesamt: 1 878 m²
Brutto-Grundfläche: 2 575 m²
Gebäudehöhe Bestand: ca. 19,15 m über Gelände
Gebäudehöhe inklusive Aufstockung: ca. 22,55 m über Gelände
Bestand (1997) Sanierung: EG bis 4. OG
Neubau: 5. OG
Außentreppe Lauflänge: ca. 46,80 m
Fachplanung
Tragwerksplanung: Drees & Sommer SE, Berlin
Fassadenplanung: Drees & Sommer SE, Berlin
Landschaftsarchitektur: Harris Bugg Studio, Exeter/GB,
www.harrisbugg.com
Sanitär und Regenwasser: HATI GmbH, Berlin, www.hati.de
Phytotechnologie: Prof. Dr. Karl-Heinz Strauch, Berlin
Energieplanung: Transsolar Energietechnik GmbH, Stuttgart,
www.transsolar.com
Haustechnik (Heizung, Lüftung, Elektro): Büro Happold, Berlin,
www.burohappold.com
Brandschutz: brandschutz plus GmbH, Berlin, www.brandschutzplus.de