Dichte gestalten
Heftpartner Hirschmüller Schindele Architekten
DBZ-Heftpartner
Markus Hirschmüller und
Harald Schindele
Foto: Jan Ahrenberg/DBZ
Nachverdichtung und Aufstockung sind unsere Kernthemen bei Hirschmüller Schindele Architekten. Daher zeigten wir in unserem Beitrag zur Ausstellung „Time Space Existence“ im Rahmen der Architekturbiennale 2023 in Venedig vier Berliner Projekte, die sich mit Nachverdichtung in unterschiedlichen städtebaulichen Situationen auseinandersetzen.
Die Nachverdichtung ist für unser Büro deswegen wichtig, weil wir als Architektinnen und Architekten eine Verpflichtung haben, den Bausektor umzugestalten und von den gegenwärtig viel zu hohen Treibhausgasemissionen, Ressourcenverbräuchen und Abfallaufkommen wegzukommen, hin zur Zirkularität und zu einer nachhaltigen Zukunftsperspektive für Städte und Gebäude und die Menschen, die sie bevölkern.
Die erforderliche energetische Sanierung der größtenteils aus den 1960er- und 1970er-Jahren stammenden Gebäude in Deutschland birgt gleichzeitig das Potenzial, durch parallele Nachverdichtung mehr Wohnraum zu schaffen. In unserem Projekt Ahorngarten schlagen wir beispielweise vor, zwei Geschosse in Holzbauweise aufzustocken und eine neue Schicht mit ca. drei Metern Abstand vor die bestehende Gartenfassade zu konstruieren, die allen heute geltenden bauphysikalischen und energetischen Anforderungen gerecht wird. Der Zwischenraum wird neuer Wohnraum, um die bestehenden Wohnungen zu erweitern und Möglichkeiten für diversere Grundrisse zu schaffen.
Der Bestand der 1960er- und 1970er-Jahre hat darüber hinaus meist eine Lastreserve, die genutzt werden kann, um mehrstöckige Aufbauten in Holzbau zu ergänzen. Da dieser ca. 70 % leichter ist als vergleichbare mineralische Konstruktionen, ist Holz ein optimaler Baustoff für die Aufstockung bestehender Gebäude.
Im gleichen Zuge besteht die Möglichkeit, zirkulär zu planen und Gebäude als Materialdepots zu erstellen, indem demontierbar konstruiert und mit einem digitalen Zwilling eine Kontrolle über die verwendeten Ressourcen erlangt wird.
Dieses System des bewussten Einplanens und Einpreisens von Materialkreisläufen und der ermöglichten Materialwiederverwendung wenden wir bei der Konstruktion der beiden Wohngebäude in Berlin Wedding und Berlin Wilmersdorf in einer Größenordnung von 50 bis 60 Einheiten umfassenden Objekte an.
Da die Gebäudestrukturen der 1960er- und 1970er-Jahre der damaligen Vision einer autogerechten Stadt entsprechen, sind ausreichend Flächen um die Gebäude vorhanden, die eine Entsiegelung ermöglichen und somit zu einer Verbesserung des Mikroklimas und der Umgebungstemperatur führt.
Auf den neuen Dachflächen können gleichzeitig die Prinzipien der Schwammstadt angewandt werden, d. h. über Retentionsaufbauten kann Regenwasser zurückgehalten und in Zisternen gespeichertes Wasser genutzt werden, um die Bewässerung der Grünanlagen und Toilettenspülungen zu betreiben. Gleichzeitig wird das Grauwasser der Duschen und Waschmaschinen gefiltert und für die Bewässerung der Grünanlagen und des Gründaches genutzt. Hier werden mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: mehr Wohnraum für Menschen bei gleichzeitiger Entsiegelung für mehr Raum für Biotope und den Wasserkreislauf – ein echtes Momentum, um bessere Lebensgrundlagen zu schaffen.
Das Schließen des kleinen Wasserkreislaufs durch die Nutzung von Grau- und Regenwasser haben wir bereits in unserem Projekt Atelier Gardens ausprobieren können, sodass wir überzeugt sind, dass Regenwassernutzung und Grauwasserrecycling für den Wohnungsbau gangbare und notwendige Maßnahmen sind, um der zukünftigen Wasserknappheit begegnen zu können.
Der Ausgangs- und eigentlich wichtigste Punkt, Verdichtung durch Aufstockungen zu realisieren, liegt im Erhalt sehr großer Mengen an Grauer Energie. Für das Projekt Ahorngarten wurde eine Bilanz aufgestellt und die erste unmittelbare Einsparung durch den Erhalt der Baumassen fällt in der Entsorgung an. Allein hier werden 35,3 t CO2e eingespart. Im Vergleich zum Neubau derselben Baumassen erhöht sich die Einsparung auf 1 067,7 t CO2e. Daraus resultiert eine Gesamteinsparung von 1 103 t CO2e, was dem jährlichen CO2-Ausstoß für die Energieversorgung von derzeit 133 Haushalten entspricht.
Neben den deutlich reduzierten Emissionen wird auch der Ressourcenverbrauch gegenüber dem Neubauszenario drastisch reduziert. Mit der Annahme, dass dessen Mauerwerk zu 90 % aus Kalksandsteinen besteht, lässt sich eine Sandmenge von 496 m³ (bei einem üblichen Mischungsverhältnis von 1 : 1 : 12 von Wasser, Brandkalk und Sand) einsparen. Weitere 842 m³ Sand bleiben im Stahlbeton erhalten und müssen nicht neu gefördert werden. Somit ergibt sich eine Gesamtmenge von 1 338 m³ Sand, 111 voll befüllte LKW, die eingespart wird.
Für die Sanierung und die Beheizung eines dann energetisch verbesserten Mehrfamilienhauses können ca. 6 – 22 kg CO2e pro m² Wohnfläche und Jahr bei einer Lebensdauer von 50 Jahren angesetzt werden, für einen Neubau hingegen 17 – 32 kg CO2e pro m² und Jahr. Und ein unsanierter Bestandsbau erzeugt alleine durch die Beheizung ca. 57 kg CO2e pro m² und Jahr, das geht aus einer Studie des Umweltbundesamts von 2019 hervor.
Die „Deutschlandstudie“ der TU Darmstadt und dem Pestel-Institut von 2019 geht allein in Berlin von einem Potenzial von 140 000 Wohnungen als Aufstockungen von Wohngebäuden, Büro- und Supermarktbauten aus – dies allerdings unter Verringerung der Abstandsflächen und Erleichterungen beim Brandschutz. Als Typenbauten systematisch hochskaliert und vorfabriziert, ließen sich durch kurze Wege und Produktionszyklen kosten- und energieffizient auch günstigere Baupreise erreichen.
Die Deckung des Wohnraumbedarfs muss allerdings durch einen ganzen Strauß von ineinandergreifenden Maßnahmen geschehen. Der Neubau ist nur eine von ihnen, denn um ernsthaft die Klimaziele für die 1,5 °-Grenze einzuhalten, wird in einer noch nicht vollständig dekarbonisierten Wirtschaft auch effizienter Neubau nicht ausreichen. Unser Fokus muss daher auf dem Bestand liegen, seiner Ergänzung und zukunftsfähigen Ertüchtigung als elementarer Beitrag zur klimagerechten Bauwende. Lasst uns alle zusammen daran arbeiten!
Heftpartner
Markus Hirschmüller ist Ingenieur, Architekt und Mitgründer des Architekturbüros HS Architekten. Sein Architekturstudium führte Markus an die TU Braunschweig, die Universität Stuttgart und an das Southern California Institute of Architecture (SCI-Arc) in Los Angeles. Als Vortragender war Markus gemeinsam mit seinem Partner Harald an einigen der international renommiertesten Institutionen für Design, Kunst und Architektur geladen, unter anderem am Institute of Contemporary Art (ICA), London, dem Art Center College of Design (UCLA), Pasadena, und dem Southern California Institute of Architecture (SCI-Arc). Markus ist zertifizieren Passivhausplaner, Energieeffizienz-Experte und Denkmalenergieberater. Als einer der der führenden Experten für die Weiterentwicklung von Baudenkmälern entwickelt Markus seit 20 Jahren Lösungen für energieeffizientes und substanzerhaltendes Bauen, unter anderem bei der Transformation Berliner Industrie- und Kulturbauten wie dem Abspannwerk Buchhändler Weg (E-Werk), dem Café Moskau, und zuletzt dem BUFA Campus.
Nach dem Architekturstudium an der TU Braunschweig und an der Architectural Association School of Architecture, London, gründete Harald Schindele 1997 das Architekturbüro HSH Architekten in Berlin aus dem später in Partnerschaft mit Markus Hirschmüller HS Architekten hervorging. Seine Expertise führte ihn als Gastkritiker und, gemeinsam mit seinem Partner Markus, als Vortragender an einige der international renommiertesten Institutionen für Design, Kunst und Architektur, unter anderem das Bauhaus Dessau, das Institute of Contemporary Art (ICA), London, das Art Center College of Design, UCLA, Pasadena, und das Southern California Institute of Architecture (SCI-Arc). Das Büro nahm teil an der Biennale Brasilien, der Fundação Bienal de São Paulo 2003 und 2005, der 14. Architekturbiennale in Quito 2004 sowie der Architekturbiennale Convertible City im deutschen Pavillon in Venedig 2006 sowie zur Ausstellung Time Space Existence im Palazzo Mora zur Biennale 2023 in Venedig.