Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Städte sind von jeher die Brenngläser der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung von Gemeinschaften. Wie sie entstehen und wie sie wachsen, sagt viel über das Selbstverständnis und die Ziele und Möglichkeiten einer Gesellschaft aus. Wuchern sie unkontrolliert, wie in vielen ärmeren Gebieten der Welt, dann erzählen ihre improvisierten, infrastrukturarmen Stadtviertel viel von der Sogkraft der Metropolen, die den Hoffnungen und Wünschen der Vielen jedoch nicht gewachsen sind. Entstehen sie am Reissbrett, spiegelt sich darin der wirtschaftliche Aufstieg einer Nation – oft genug aber leider auch der Aufstieg einer radikalen politischen oder ökonomischen Idee.
Organisches Wachstum hingegen zeichnet gesunde Städte aus: Zeitenschichten werden sichtbar und überlagern sich, spiegeln veränderte Platzbedarfe und soziale Entwicklungen wider. Die demokratische Stadt wird durch wechselnde politische und gesellschaftliche Strömungen geformt, wie ein Flussbett von Regenfällen und Schmelzwasser. Zeit ist hier ein wesentlicher Faktor.
Schauen wir zum Beispiel auf Berlin: Hier widmen sich unsere Heftpartner Hirschmüller Schindele Architekten bereits seit Jahrzehnten dem Thema Aufstockung und Nachverdichtung. Im Nachwende-Berlin gab es dafür viele Gründe: Eine hohe Zahl von innerstädtischen Brachen, den Wunsch, eine notwenige Sanierung durch eine zahlungskräftige Klientel im Loftgeschoss abzufedern oder purer Gestaltungswille in einer sich mausernden Metropole. Büros wie Graft Architekten oder Zanderroth verdienten sich mit Dachaufbauten und Baulückenschließungen ihre ersten Sporen.
Heute ist die Situation jedoch eine andere: Der Fluss der Zeit hat inzwischen jede Menge bauliches Sediment in die Stadt gespült und längst geht es nicht mehr nur darum, Lücken um jeden Preis zu füllen und Profite zu maximieren. Zumindest nicht innerhalb der gesellschaftlich interessierten und engagierten Architektenschaft. Die Budgets sind eng gesteckt, die Baupreise steigen, der Wohnraum knapp und teuer. Da man den Wandel aber hier wie in den meisten europäischen Städten weder am Reisbrett planen kann noch will, gleichzeitig aber ein chaotisches Wachstum vermeiden möchte, müssen neue Lösungen her – neue, auch soziale Infrastrukturen, die den gesellschaftlichen und klimatischen Rahmenbedingungen gerecht werden.
Neben dem Bauen im Bestand scheint das Aufstocken und Nachverdichten nunmehr eines der wirksamsten und gleichzeitig schonendsten Instrumente im Werkzeugkasten der Baumeisterinnen und Baumeister. Denn im Vergleich zur Abrissbirne bewahrt es gebundenes CO₂ und fügt dem Bestand zugleich neue Qualitäten hinzu, die ihn Aufwerten und so seine Nützlichkeit und Nutzung verlängern. Aber es bedarf mehr denn je des genauen Hinschauens: Welche Qualitäten wollen wir entwickeln? Wo genau dürfen wir noch neue Flächen versiegeln und welche müssen wir dafür möglicherweise wieder entsiegeln? Wie schaffen wir es, mit Leuchtturmprojekten urbane Räume in der Transformation zu lebenswerten Stadtlandschaften zu entwickeln? Und wie nutzen wir auch den denkmalgeschützten Bestand endlich so, dass er Teil der Lösung wird, und nicht mehr nur als kosten- und pflegeintensiver Ballast mitgeschleppt wird?
In der Diskussion mit unseren Heftpartnern ergaben sich dabei spannende Erkenntnisse auf nationaler wie europäischer Ebene. So kann zuweilen zum Beispiel eine Art Stadtinsel die richtige Antwort auf ein schwieriges, industriell belastetes Umfeld sein, wie im Fall des Projekts Duchesse in Brüssel (S. 34 ff.). Andererseits bieten aber auch gerade industrielle Bauten jene Lastreserven, die eine Aufstockung erst wirtschaftlich machen und planerisch eine spannende Herausforderung sind – wie im Fall des ehemaligen Weinlagers in Basel (S.44). Wie differenziert und kleinteilig man vorgehen kann, um doch zu einem Großen, überzeugendem Ganzen zu gelangen, zeigt das Beispiel der BUFA in Berlin (S. 22 ff).
Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen,
Jan Ahrenberg