Bestand aktivieren – passiv klimatisieren
Clevere Energieeinsparung – das ist bislang vor allem ein Thema für den Neubau gewesen. Bei Bestandsgebäuden kamen und kommen hingegen meist WDVS im großen Maßstab zum Einsatz. Dabei bietet gerade der Bestand die Chance, mit minimalivasiven Maßnahmen große Einsparungen zu erzielen. Wenn man sich statt auf seine Schwächen auf seine Stärken konzentriert.
Text: Frank Schönert, Hütten & Paläste
Umbau Ossietzky-Hof Nordhausen, IBA Thüringen: Ergänzung des Bestands mit charakterbildenden vorgelagerten Add Ons. Aus den seriellen Bauten werden Franzi, Ludwig und Sophia
Grafik: Hütten & Paläste
Wenn über den Fortbestand sogenannter Altbauten entschieden wird, bestimmen immer noch zwei Reflexe das Geschehen: Energieverbrauch, Bausubstanz, Schallschutz und Grundrisszuschnitte entsprächen dem „heutigen Standard“nicht mehr; und, belaufen sich die Umbaukosten auf mindestens 75 % der Neubaukosten, müsse Abriss wohl die bessere Option sein.
In Anbetracht der gegenwärtigen Klima- und Energiekrise müssen jedoch sowohl der „Standard“ als auch die „Option“ angezweifelt werden und der Bestand als energetisches Ganzes einer Neubewertung unterzogen werden. Anders als beispielsweise beim Autofahren verpufft die für den Bau aufgewendet Energie nicht, sondern kann über lange Zeit und mehrere Lebenszyklen genutzt werden. Sie steckt in der Bausubstanz und wird graue Energie genannt.
Der Diskurs über die Notwendigkeit, diese Energie nicht in Form von Abriss als Müll zu verschleudern, und wegen des bedeutenden Anteils der Bauindustrie an CO₂-Ausstoß, Ressourcenverbrauch und Flächenversieglung, führte im vergangenen Jahr zu dem vielbeachteten Aufruf eines Abrissmoratoriums. In dessen Konsequenz bleiben möglichst alle derzeit existierenden Gebäude erhalten, sie werden weitergebaut und umgenutzt, also transformiert. Der Neubauanteil reduziert sich lediglich auf Ergänzungen.
Wir können diesen Bestand demnach als gewaltigen Energiespeicher und als Raum- und Materialbibliothek verstehen, der für zukünftige Aufgaben zur Verfügung steht.
Die Fragen, die sich anschließen, könnten sein: Was nützt der Erhalt grauer Energie, wenn Bestandsgebäude mit meist schlechten energetischen Kennwerten dann im Betrieb viel Heiz- und Lüftungsenergie verbrauchen? Insbesondere Gebäude der Moderne, deren Leichtbauweisen oftmals weder über Speichermassen noch hinreichende Dämmung verfügen.
Wie können Gebäude weiterverwendet werden, die ursprünglich für ganz andere Nutzungen bestimmt waren? Wie kann die graue Energie für den Betrieb von Gebäuden nutzbar gemacht werden und welche Ergänzungen, Anpassungen oder Änderungen sind notwendig, um diesen Betrieb mit möglichst wenig Energieaufwand zu garantieren?
Gebäude als energetischer Organismus
Ludwig: Schnittdarstellung des Add-ons und der gering-invasiven, gebäudetechnischen Ertüchtigungsmaßnahmen; Wärme wird zurückgewonnen, in den Keller geführt und unterstützt damit die Gebäudetemperierung. Energiekonzept auf Basis EE (35 % über Abluftwärme, 25 % Solar, 40 % über Wärmepumpe). Durch die Dämmung der Westwand, des Daches und der Kellerdecke kann auf weitere Dämmung verzichtet werden
Grafik: Hütten & Paläste
Auf baulicher Ebene verteilen sich die Energiewerte in einem konventionellen Altbau schematisch wie folgt: Etwa 55 % der grauen Energie eines Gebäudes stecken im Rohbau, 15 % in der Fassade, 20 % im Ausbau und 10 % in der Haustechnik.
Bei solch einem Bau wird nach einer Dauer von 50 Jahren noch einmal etwa das Fünf- bis Sechsfache an Betriebsenergie verbraucht. Das ist jene Energie, die für Heizen, Kühlen, Lüftung, Beleuchtung und Geräte aufgebracht werden muss. Bei Neubauten auf dem aktuellen Stand der Technik ist das Verhältnis umgekehrt: je nach Bauweise macht die Betriebsenergie etwa die Hälfte bis ein Drittel der grauen Energie aus. (1)
Zu den energetischen Kennwerten kommt der Aspekt der Freisetzung von fossilem CO₂ bei Bau und Betrieb hinzu: Betriebsenergie soll dabei möglichst ohne CO₂-Ausstoß gewonnen und verbraucht werden, graue Energie als langfristiger CO₂-Speicher dienen.
Der Königsweg der Gebäudetransformation ist daher der maximale Erhalt von grauer Altbauenergie, die Verwendung von nachwachsenden CO₂-speichernden Rohstoffen und das Ausnutzen ihrer thermischen Eigenschaften zur Einsparung von Betriebsenergie durch Mechanismen der passiven Gebäudeklimatisierung.
Ziel der passiven Gebäudeklimatisierung ist die Kontrolle des internen Raumklimas durch bauliche-organisatorische Maßnahmen statt mit Technik. Diese Strategien minimieren die Nutzung mechanischer Systeme und maximieren die Effizienz des Wärmeaustauschs zwischen Gebäude und Umwelt und führen im Ergebnis zur Reduktion von Heiz-, Kühl- und Lüftungsanlagen, welche den Löwenanteil von etwa 85 % der Betriebsenergie ausmachen.
Dabei spielt die Fähigkeit von Bausubstanz, Sonnenenergie zu speichern und verzögert wieder freizugeben, eine wesentliche Rolle. Trifft diese auf Wände und Böden, wird die kurzwellige Sonnenstrahlung in langwellige Wärmestrahlung umgewandelt und kann dadurch Innenräume aufwärmen.
Die Speicherfähigkeit von Gebäuden wird durch die Dichte der sonnenbeschienenen Bauteile, die sogenannte Bauartschwere, bestimmt. Leichte Materialien wie Holz haben zwar gute Dämmeigenschaften, speichern die Wärme aber nur geringfügig und sind für eine dauerhafte Klimatisierung eher nicht geeignet. Dichte Baustoffe, das sind hauptsächlich die mineralischen wie Stein und Beton, also ein wesentlicher Teil der grauen Energie des Bestandes, speichern die Wärme hingegen gut.
Der Eintrag von Sonnenenergie ist tages- und jahreszeitlichen Schwankungen unterworfen. Dabei übersteigen die solaren Gewinne im Sommer jene im Winter um ein Vielfaches. Der Stand der Sonne ist ebenfalls zu berücksichtigen.
In unseren gemäßigten Klimaregionen teilen wir den jährlich wechselnden Sonnenstand in drei thermische Phasen ein:
Winter: niedrig stehende Sonne, geringe Einstrahlung. Die Sonnenenergie kann gespeichert werden, um Innenräume zu erwärmen. Dämmung verringert Wärmeverluste.
Sommer: hochstehende, intensive Sonnenstrahlung. Verschattung und Dämmung schützen vor Überhitzung: Hohe thermische Trägheit von Bauteilen und natürliche Belüftung. Das Nachströmen kühler Luft wirkt einer Überhitzung entgegen. Nachtauskühlung hilft, die Wärmespeicher zu entladen.
Zwischensaison: mittlerer Sonnenstand mit mäßiger Sonneneinstrahlung. Übergangszeit, erfordert die Kombination der vorgenannten Heiz- und Kühllösungen.
Die Modulation und richtige Dosierung von Sonnenenergie, Aktivierung von vorhandener Speichermasse, Lüftung und Dämmeigenschaften ist der Zugang zur nachhaltigen und passiven Gebäudeklimatisierung im Bestand.
Potenziale des Bestands
Der nachhaltige Um- und Weiterbau öffnet Möglichkeiten, räumliche Transformationsstrategien mit passiven Gebäudeklimatisierungskonzepten zu verbinden und Potenziale einfacher Bauweisen auszuschöpfen.
Im Zuge einer Transformation kann es sinnvoll sein, Gebäude auf ihren robusten Kern zurückzuführen, um passive Potenziale erst heben zu können oder auch, um eine strukturelle Mehrfachverwendbarkeit für zukünftige Nutzungen einzuschreiben. Eine solche Adaptivität von Grundrissen verlängert die Lebenszyklen und garantiert eine Dauerhaftigkeit für vielfältige Nutzungsanwendungen und Anpassung im Gebrauch.
Die Potenziale für eine passive Gebäudeklimatisierung stecken in den Bestandsgebäuden selbst sowie in den Prozessen ihrer Transformation. Denn nur die Mischung aus Erhalt von Bausubstanz und Nutzung von kostenlosen Energiequellen wie Sonne und Wind (und Erdwärme) zur Gebäudeklimatisierung in Verbindung mit Ergänzungen aus nachwachsenden Rohstoffen macht aus „alten Kisten“ reale „Raumschiffe“ für die Zukunft.
Standortfaktoren des Bestands
Aus den beschriebenen Zusammenhängen lassen sich ganz praktische Handlungsanweisungen formulieren, die beim Umbau von Bestand Anwendung finden:
Einerseits das Öffnen von Fassaden, um den Licht- und Energieeintrag von Gebäuden zu erhöhen. Tageslichtnutzung kann ganzjährig auch Stromkosten sparen. Andererseits können südlich gelegene Balkone als feststehender, außenliegender und benutzbarerer Sonnenschutz dienen.
Zentral ist zudem die Nutzung von Mauerwerk und Beton als thermische Speichermassen, die im Winter der Heizungsunterstützung dienen und im Sommer die Gebäudeaufhitzung entgegenwirken. Wo diese fehlen, können Speichermassen aus Lehmsteinmauerwerk ergänzt werden. Das Freilegen von schweren Decken unterstützt auf dieselbe Weise die Nachtauskühlung im Sommer.
Der Einsatz von hygroskopischen, nachwachsenden Materialien wie etwa Lehm kann die bedarfsgerechte Lüftung und Kühlung unterstützen. Wo hohe Bauteile (Türme, etc…) vorhanden sind, können diese die passive Schachtlüftung ermöglichen. Sofern vorhanden, gewährleisten großzügige Geschosshöhen darüber hinaus ein gutes Raumklima. Im Zusammenspiel dieser Mechanismen kann vielfach der Heizungsaufwand verringert und auf maschinelle Kühl- und Lüftungssysteme verzichtet werden.
Auch die Raumorganisation unterstützt die Gebäudeklimatisierung, indem Grundrisse nach den Anforderungen an Licht und Raumtemperatur, Schnitte nach den Anforderungen an die Lüftung sortiert werden. Eine solche klimatische Zonierung kann schematisch folgenden Regeln folgen: kühlere Räume wie Nebenräume, Erschließungen oder Schlafzimmer im Norden und Osten anordnen, wärmere, wie Aufenthalte, Speiseräume und Küchen im Süden und Individualräume in den Westen. Wohnräume eignen sich zudem, um sie durch die verschiedenen Funktionen zu stecken und so wünschenswerte Eigenschaften zu kombinieren. So gelingt die Bündelung von Räumen mit gleichen Anforderungen sowie die sinnhafte Trennung von Funktionen.
Sonne, Luft und Pflanzen nutzen
Die beschriebene passive Gebäudeklimatisierung und die Nutzung von grauer Energie zur Modulation von Sonnenenergie werden in Kombination, bzw. im Zusammenwirken gezielter Neubauanteile und geringer technischer Unterstützung zu einem nachhaltigen Energie-Booster:
Ergänzende Anbauten aus Holz (Konstruktion) und dem schnellwachsenden Hanf (Dämmung), sogenannte Add-ons, können die beschriebenen Effekte verstärken; durch ihre Fähigkeit, CO₂ zu speichern, kommen sie ohnehin dem Klima zugute. Zum Beispiel als Wintergärten verbaut können sie in der Übergangszeit und im Winter solare Energie einfangen und damit nachhaltige Wärme für das Gebäude bereitstellen. An Süd- und Westfassaden ermöglichen verschattende Elemente oder Fassadenbegrünungen zudem die Modulation der jahreszeitlichen Sonnenstrahlungsintensität und die Optimierung des Mikroklimas.
Werden solche Wärmesammler mittels kontrollierter Fassadenlüftungen über eine zentrale Abluft an eine – mit Solarstrom betriebene – Wärmerückgewinnung gekoppelt, kann das den verbleibenden Heizbedarf unterstützen und zur Warmwasserbereitung herangezogen werden. Der Wärmeeintrag kann diese Werte so weit verstärken, dass Dämmung eingespart oder weggelassen werden kann. Die Ergänzungen werden so zu einer „begeh- und benutzbaren Dämmung“.
Die Add-ons sind Werkzeuge der Transformation, die als komplexe, ergänzende Bauteile, flexible Grundrisszusammenhänge für neue Nutzungen und Erschließungen bereitstellen und im gleichen Zug das Gebäudeklima dauerhaft verbessern. Sie können dazu beitragen, Gebäude und Umwelt neu miteinander zu verbinden, indem sie kostenlose Sonnenenergie passiv zur Erwärmung nutzen oder durch Verschattung vor ihr schützen. Das bindet CO2 und vermeidet durch Erhalt vorhandener Bausubstanz enorme Mengen von Abrissmüll. Darüber hinaus können sie sich positiv auf die Nutzbarkeit sowie auf soziale Aspekte von Gebäuden auswirken, indem sie zusätzliche Raumreserven anbieten.
Fazit: Mach Mehr mit Weniger
Der aktuelle Gebäudebestand ist eine transformierbare Bibliothek, die mit wenigen Eingriffen räumlich angepasst und klimatisch ertüchtigt werden kann. Die graue Energie des Bestands kann durch Nutzung einer Reihe von passiven Strategien zur Erwärmung und Kühlung sowie Lüftung zur Gebäudeklimatisierung herangezogen werden.
Im Zusammenspiel mit nachhaltigen, klimaaktiven und CO₂-bindenden Anbauten, sogenannten Add-ons, lassen sich der Energieeintrag maximieren und neue, zukunftsfähige Nutzungszusammenhänge für den Bestand herstellen.
Dabei kommen natürliche oder recycelte Materialien aus nachwachsenden Baustoffen wie Holz, Lehm, Stroh und Hanf für feuchteregulierende und diffusionsoffene Wandaufbauten mit langen Lebenszyklen zum Einsatz sowie Konstruktionen, die eine gute stoffliche Trennbarkeiten ermöglichen.
Hierzu bedarf es transdisziplinärer Planungsansätze, welche die Gebäudeklimatisierung als Teil des Entwurfsprozesses verstehen. Die Haustechnikplanung soll demnach nicht mehr „im Nachgang“ Defizite ausgleichen, sondern vielmehr mithelfen, den Bestand zu optimieren. Gleiches gilt selbstverständlich auch für andere Disziplinen. So kann beispielsweise der konzeptionelle Brandschutz ebenfalls helfen, Technik- und Wartungsaufwand zu verringern.
Darüber hinaus bedarf es neuer Förderrichtlinien und städtebauliche Freiräume für energiesammelnde Ergänzungsbauten (Add-ons) und die Einbeziehung solcher Klimapuffer in die Berechnung der EnEV.
Die Aufwertung der grauen Energie und die passive Gebäudeklimatisierung im Zusammenhang mit der strukturellen Erweiterung von Bestandsgebäuden sind das „Mehr für Weniger“ in der Bauwende.
Hütten & Paläste
Frank Schönert
www.huettenundpalaeste.de
Foto: Stephan Bögel