Amts-, Nachlass- und
Betreuungsgericht, Tübingen
Tübingen ist als Universitätsstädtchen mit malerischer Altstadtkulisse am Neckar bekannt. Unweit der Innenstadt befindet sich jedoch auch die Thiepval-Kaserne mit markanten Bestandsbauten, die bis 1980 sogar noch militärisch genutzt wurden. Ihr angegliedert ist ein ehemaliges Kammergebäude, das nun von Dannien Roller Architekten + Partner denkmalgerecht umgebaut und saniert wurde. Dabei musste deutlich in die bestehende Bausubstanz eingegriffen werden.
Die Geschichte des Areals hinter dem Tübinger Hauptbahnhof reicht bis ins Jahr 1875 zurück, als der Architekt und Hochschullehrer Alexander von Tritschler die „Infanterie-Kaserne“ errichtete: mit gestalterischen Anlehnungen an italienische Kas-telle und Paläste der Frührenaissance als verputzter, 155 m langer Backsteinbau. Das massive Bauwerk sollte fortan prägend für das Gebiet sein. Anfang des 20. Jahrhunderts kamen verschiedene Gebäude südlich des Kasernenbaus hinzu – unter anderem ein Kammer- bzw. Lagergebäude in der Hausnummer 9 bis 11. Das rund 37 m lange, 16 m breite und drei Stockwerke hohe Gebäude mit flachem Satteldach ist im Stadtgefüge eher unscheinbar und orientiert sich in der Gestaltung am benachbarten Kasernenbau, wenn auch weniger eindrücklich. Seine Konstruktion besteht aus einem schlichten Stahlbetonskelett mit gemauerten, hell verputzten Außenwänden und einer zurückhaltenden Klinkergliederung. Gerade dieser reduzierte Ausdruck aber verleiht dem Gebäude eine hohe gestalterische Qualität, weswegen es (wie auch das Kasernengebäude) seit einigen Jahren unter Denkmalschutz steht.
Herausforderung Bausubstanz
Der Zahn der Zeit hat dennoch einige deutliche Spuren an der Bausubstanz hinterlassen, vor allem durch die verschiedenen Nutzungen: Das Gebäude diente einst als Garage und Lager, auch für Munition, oder als Flüchtlingsunterkunft. Besonders aber die Nutzung als Wäscherei war es, die zu einer Karbonatisierung des Betons führte, wodurch dem Zementstein im Laufe der Jahre seine Alkalität und damit das für die Bewehrung notwendige Schutzmilieu verloren ging. Die jetzt anstehenden Sanierungsmaßnahmen machte das zu einer Herausforderung, zeitweise wurde das Projekt sogar komplett infrage gestellt. „Wir konnten jedoch nachweisen“, so Projektleiter Simon Kirsch von Dannien Roller Architekten + Partner, „dass das Projekt trotz des anstehenden Aufwands eine gute Alternative zum Neubau ist. Zudem ist ein solches Vorhaben eine sinnvolle Weiternutzung alter Substanz, was in der heutigen Zeit der Flächenknappheit in Städten sicherlich ein guter Weg ist.“ Es musste also die komplette Erdgeschossdecke ersetzt werden, ohne das Gebäude zu entkernen, um so die Tragfähigkeit für die neue Nutzung gewährleisten zu können.
Austausch der Erdgeschossdecke
Dies zog einige zusätzliche und aufwendige Baumaßnahmen nach sich. Die Planenden mussten ein sicheres Konzept erarbeiten, mit dem die bestehende Bausubstanz während des Umbaus nicht gefährdet wird. Ihr Plan: Die Erdgeschossdecke wird in drei Abschnitten ersetzt, wobei jeder Abschnitt vollständig fertiggestellt wird, ehe mit dem nächsten begonnen wird. Die Vorgehensweise: Zunächst wurden die Obergeschossdecken über rund 130 mehr als 7 m hohe Sprieße abgefangen, die auf neuen Punktfundamenten im Erdgeschoss ruhen und durch Aussparungen in den abzubrechenden Bestandsdecken geführt sind. Dadurch konnte die Erdgeschossdecke samt Stützen darüber und darunter gefahrenfrei entfernt und schließlich durch neue Stahlbetonbauteile ersetzt werden. Für die Baustützen wurden auch in den neuen Betondecken Aussparungen gelassen, die nach Aushärtung des Betons und Entfernung der Sprieße schlussendlich verfüllt wurden. An diesen Bauprozess erinnert ein Muster in der Sichtbetondecke, mit dem die nachverfüllten Löcher geschickt kaschiert sind.
Dreischiffige Raumgliederung
Da bei alledem auch die bestehende Erdgeschoss-Bodenplatte des nicht unterkellerten Gebäudes entfernt wurde, konnte der Boden nun etwas tiefergelegt werden. So konnte der barrierefreie Eingang, der sich zuvor leicht erhöht hinten befand, nach vorne verlegt werden. Im Innenraum des alten Kammergebäudes gab es nur wenige tragenden Wände, wodurch die Raumaufteilung jetzt gänzlich an die Anforderungen der neuen Nutzung angepasst werden konnte. Die neuen, asymmetrisch sechseckigen Stützen – bei denen jeweils zwei Seitenflächen gestockt wurden, um Assoziationen an die Rauheit des früheren Zweckbaus zu wecken – greifen die bestehende Dreischiffigkeit bewusst auf, was die Grundlage für die räumliche Organisation in allen Geschossen liefert. In den Obergeschossen sind die Arbeitsräume der Richter und Mitarbeiter sowie die Registraturen an den Außenwänden angeordnet, während sich in der Mittelzone allgemeine Bereiche und Begegnungszonen befinden. Im Erdgeschoss befinden sich nach dem Umbau das Foyer sowie zwei Sitzungssäle. Außerdem gibt es hier ein kleines Ausbildungszentrum mit zwei Unterrichtsräumen und kleinem Vorbereich.
Würdige Innenraumatmosphäre
Den ArchitektInnen war es wichtig, im Innenraum ein Ambiente zu schaffen, das das Selbstverständnis des Amtsgerichts zum Ausdruck bringt: weg von einer bedrückenden Atmosphäre des Verurteilens, hin zu einer unabhängigen Rechtsprechung, unprätentiös und doch würdig. So erzeugt innen eine reduzierte Materialsprache Weite und Helligkeit. Die Wände sind rau in warmem Hellgrau verputzt; der helle Sichtestrich – ein zementgebundener, terrazzoähnlicher Estrich mit geschliffener Vorsatzschicht – ist geschliffen. Was an Einbauten eingebracht wurde, besteht vornehmlich aus Eichenholz; einige Trennwände bestehen aus transluzentem Glas. So wollen die ArchitekInnen ein subtiles Spiel mit Materialien und Oberflächen schaffen, das Ordnung, Klarheit und Transparenz erzeugt. Den warmen Farben werden grüngraue Fensterrahmen aus Holz zur Seite gestellt. Die Decken sind im Mittelschiff abgehängt verkleidet und in den Seitenschiffen mit markanten Unterzügen offengelassen, ein Verweis auf die abgebrochene Plattenbalkendecke.
Versteckte Haustechnik
Um einen zeitgemäßen Brandschutz zu erhalten, waren nur wenige Maßnahmen notwendig, da die meisten Ausbauten neu sind. Wegen des nicht vorhandenen Kellergeschosses und der Auflagen des Denkmalschutzes wurde die gesamte Haustechnik im Erdgeschoss sowie im Dachgeschoss untergebracht. So gibt es im Erdgeschoss in den Gebäudeecken jeweils einen Raum für die Heizungs- (Gastherme) und einen für die Lüftungsanlage. Eine zweite Lüftungsanlage im Dachgeschoss versorgt die Bürobereiche in den Obergeschossen. Die Wärmeübergabe in den Räumen erfolgt über wandhängende Heizkörper, um schnell und flexibel auf die wechselnden Nutzungszeiten reagieren zu können. Die Fassade schließlich hat als einziges zusätzliches Element einen Schriftzug erhalten, dessen schlanke und zeitlose Anmutung Informationsträger und gleichzeitig skulpturales Fassadenornament ist.
Weiternutzung statt Abriss
Die Historie solcher ehemals militärisch genutzter Bestandsgebäude mag für manchen problematisch sein. Umso bedeutender ist der Gedanke, diese baulichen Zeitzeugen nicht einfach zu schleifen, sondern sie in eine neue, sinnvolle und würdige Weiternutzung zu überführen. Die Herausforderung des Balanceakts zwischen historischer Wahrung und zeitgemäßer Nutzung haben Dannien Roller Architekten + Partner mit dem Wunsch der Denkmalpflege, auf eine starke Inszenierung des Neuen zu verzichten, stil- und zielsicher verknüpft. Diesen sensiblen Umgang mit der Geschichte eines Ortes würde man sich auch andernorts wünschen. Voraussetzung dafür aber ist, sich der Notwendigkeit der baulichen Aufarbeitung überhaupt bewusst zu werden. In Tübingen jedenfalls hat das funktioniert. Thomas Geuder, Stuttgart
Projektdaten
Objekt: Denkmalpflegerische Sanierung und Umbau Amts-, Nachlass- und Betreuungsgericht
Standort: Schellingstraße 9-11, Tübingen
Typologie: freistehender denkmalgeschützter Geschossbau – ehemals militärischer Nutzung
Bauherr: Vermögen und Bau Baden-Württemberg, Amt Tübingen
Nutzer: Amtsgericht Tübingen
Architektur und Bauleitung: Dannien Roller Architekten + Partner, Tübingen,
www.dannien-roller-architekten-partner.de
Mitarbeiter: Projektleitung Dipl.-Ing. Simon Kirsch
Bauzeit: Januar 2019 – Mai 2021
Grundstücksgröße: 1 840 m²
Nutzfläche: 1 527 m²
Technikfläche: 131 m²
Verkehrsfläche: 222 m²
Brutto-Grundfläche: 2 156 m²
Brutto-Rauminhalt: 8 261 m³
Baukosten (nach DIN 276)
KG 300 (brutto): 3,68 Mio. €
KG 400 (brutto): 1,78 Mio. €
KG 500 (brutto): 20 000 €
KG 700 (brutto): 1,15 Mio. €
Gesamt brutto: 6,33 Mio. €
Hauptnutzfläche: 4 365 €/m²
Brutto-Rauminhalt: 765 €/m³
FachplanerInnen
Statik: Knaak + Reich, Reutlingen, www.knaak-reich.de
Bauphysik: Rath + Fritz, Metzingen, www.rath-fritz.de
Geologie: Vees I Partner, Leinfelden-Echterdingen, www.geotechnik-vees.de
Brandschutz: BAV Ingenieure, Filderstadt, www.bav-ingenieure.de
Vermessung: Ingenieurbüro Helle, Tübingen, www.vermessung-helle.de
SiGeKo: Ingenieurbüro Rentschler, Alpirsbach, www.bptue.de
ELT: Müller & Bleher, Filderstadt, www.mueller-bleher.de
HLSK: Ingenieurbüro für Versorgungstechnik, Thomas Sailer, Tübingen, www.ing-sailer.de
Energie
Primärenergiebedarf: 199,4 kWh/m²a nach EnEV
Endenergiebedarf: 173,9 kWh/m²a nach EnEV
Dach: Bestand, Dämmung ohne Geschossdecke zum Dachraum
Außenwand: Mauerwerk 38 – 51 cm, Putz, Silikatfarbe
Fenster: Holzfenster, historische Profile Wiener Sprossen, Eukalyptus
Boden: Stahlbeton-Bodenplatte oberseitig gedämmt, Terrazzo Estrich
U-Wert Gebäudehülle:
U-Wert Außenwand Bestand = 1,544/1,855 W/(m²K)
U-Wert Bodenplatte = 0,3 W/(m²K)
U-Wert Dach = 0,37 W/(m²K)
Uw-Wert Fenster = 1,3 W/(m²K)
Luftwechselrate n50 = 3,9/h (Sitzung)
HerstellerInnen
RWA-Anlage: Lamilux, www.lamilux.de
Linoleum: Forbo Flooring Systems, www.forbo.com
Akustikdecken: Hunter Douglas Architectural, www.hunterdouglas-architectural.eu
Trennwandsysteme: Siniat,
www.siniat.de
Wandbeschichtung: Keimfarben GmbH, www.keim.com
Fliesen: Villeroy & Boch AG,
www.villeroy-boch.de
Fenster- und Türgriffe: Franz Schneider Brakel GmbH + Co KG, www.fsb.de
Heizkörper: Buderus,
www.buderus.de
Steckdosen, Schalter: Albrecht JUNG GmbH & Co. KG, www.jung.de
Leuchten: Zumtobel Lighting GmbH, www.zumtobel.com; Trilux GmbH & Co. KG, www.trilux.com; Flos,
www.flos.com
Diese Projekt zeichnet sich wegen seiner Detailtiefe, seiner klaren Formensprache und den perfekt auf den Altbau abgestimmten Materialien aus. Die räumlichen Qualitäten des Bestands werden aufgegriffen, reaktiviert und mit hoher Ästhetik in die Jetzt-Zeit transportiert.«
Heftpartnerinnen RKW Architektur +, Düsseldorf