Architektur für AlleAkzeptanz versus Stigma
„Architektur ist ja kein Oberflächenphänomen. Architektur heißt: dem Leben eine Form geben. Die Debatte um das gute Bauen ist im Kern immer eine Debatte darüber, wie wir leben wollen, als Einzelne und als Gemeinschaft“, so Hanno Rauterberg in einem ZEIT Artikel („Baut auf den Prinzen“ vom 14.05.09).
Architektur für Menschen
Die Debatte über das „gute Bauen“ schließt heute die Frage ein, wie Architekten, Bauherren und Investoren auf die Veränderungen in der Gesellschaft reagieren wollen. Allein der demographische Wandel wird Architekten neue Positionen abverlangen. Schließlich wird 2030 die Zahl der über 60-Jährigen in Deutschland 26 Mio. Menschen ausmachen und damit etwa 33 % Anteil an der Gesamtbevölkerung betragen. Die Anzahl der über 80-Jährigen wird etwa bei 4,3 Mio. liegen. Entsprechend wird der Anteil der Behinderten durch Alter und Krankheit ansteigen. Die Menschen werden länger arbeiten und diese Entwicklung wird sich auf die Gestaltung der Arbeitsplätze auswirken. Die Auswirkungen des Alters sind es allerdings nicht allein, die Architektur verändern werden. Dazu gehören auch die Anforderungen, die beispielsweise Schwangere, Eltern und Kinder, Menschen auf der Reise und die multikulturelle Gesellschaft an Architektur stellen, neben all den Menschen mit Einschränkungen der Motorik, der Mobilität, des Sehens, des Hörens, der Kognition, der Psyche, der Körpergröße oder des Körpergewichtes.
Wohnungsmärkte und Wohnformen im Umbruch
Mit der Alterung unserer Gesellschaft verändern sich die Lebensformen der Menschen und die dafür notwendigen Wohnkonzepte. Die Aktion „Demographischer Wandel“ der Bertelsmann Stiftung zeigt die Trends auf: Verkleinerung der Haushalte, Zunahme der Zweipersonenhaushalte und der wachsenden Singularisierung. Die Generation der 60-Jährigen ist die einzig wachsende Altersgruppe. Entsprechend ändert sich auch die Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt nach Lebensabschnitts-Immobilien, Übergangswohnungen und Gemeinschaftswohnungen, also nach flexiblen Angeboten für Übergangszeiten. Mit dem Trend „Zurück in die Stadt“ werden dann diejenigen Kommunen und Regionen gewinnen, die angepasste Wohnungsangebote mit guter Infrastruktur und adäquate Arbeitsangebote bieten. So wie sich die Lebensmodelle verändern, werden Architekten Wohnungen nicht allein modernisieren, sondern auch umnutzen, durch Neubauten ergänzen oder gar „Zurückbauen“, also abreißen müssen. Das barrierefreie Bauen wird als Qualität an Bedeutung gewinnen.
Architektur für Alle
Lösungen bieten heute die Ideen des „Design für Alle“, die ursprünglich aus dem skandinavischen Funktionalismus der 1950er Jahre und dem ergonomischen Design der 1960er Jahre stammen und in den Regeln für Barrierefreies Bauen ihre Fortsetzung fanden. Im Kern geht es dabei um Fragen der uneingeschränkten Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der gebauten Umwelt - und zwar für möglichst alle Menschen. Die Herausforderungen, die in diesem Zusammenhang an Architekten gestellt werden, können unter „Architektur für Alle“ subsumiert werden. Umfassende Akzeptanz - besonders in der Architektur - werden diese Ideen vermutlich erst dann finden, wenn sie ihr „soziales Image“ ablegen und dort ankommen, wo sie hingehören: mitten hinein in die Gesellschaft, gelehrt an den Hochschulen, verwirklicht von Architekten, akzeptiert bei Investoren und Bauherren.
„Architektur für Alle“ ist ein interdisziplinäres Thema und betrifft gleichermaßen Architektur, Stadt- und Raumplanung, Design, Informatik, Ingenieurs-, Arbeits-, Sozial- und Pflegewissenschaft. An der Fachhochschule Frankfurt wird von den genannten Disziplinen bereits ein fachübergreifender Masterstudiengang „Barrierefreie Systeme“ angeboten.
„Architektur für Alle“ beinhaltet Komfort und Wertsteigerung unter anderem durch barrierefreie Zugänglichkeit, ausreichenden Bewegungsraum, Orientierung und Information nach dem Zwei-Sinne-Prinzip. Dieses Prinzip dient der gleichzeitigen Vermittlung von Informationen für mindestens zwei Sinne. Neben der visuellen Wahrnehmung (Sehen) wird die taktile (Fühlen, Tasten mit Händen oder Füßen) oder die auditive (Hören) Wahrnehmung genutzt. Architektur, die diese Anforderungen erfüllen, trägt wesentlich dazu bei, dass möglichst alle Menschen ihren Alltag bewältigen können, so lange wie nur möglich in ihrem Zuhause wohnen, am Leben teilnehmen und ihre Fähigkeiten der Gesellschaft zur Verfügung stellen.
Normalsichtige Menschen verwenden zur Orientierung zu ca. 90 % visuelle Informationen und Signale. Sehbehinderte Menschen mit noch ausreichenden Sehresten fällt die Orientierung im Raum leichter, je mehr visuelle Signale und Informationen sie erfassen können – dabei ist es wichtig, dass diese Orientierungspunkte im Nahbereich angesiedelt sind. Fehlen allerdings Sinne völlig, werden alternative Sinne zum Ausgleich aktiviert: bei Blinden der Hör- und Tastsinn und bei Ertaubten und Gehörlosen der Seh- und Tastsinn. Es handelt sich um das Prinzip der alternativen Wahrnehmung von Informationen aus der Umwelt (Zwei-Sinne-Prinzip). Fällt einer der Sinne aus, müssen diese Informationen für mindestens zwei andere der drei Sinne „Hören, Sehen, Tasten“ zugänglich sein.
Gesetze und Normen
Die demografische Entwicklung treibt die Gesetzgebung in Europa voran. Gleichstellungsgesetze setzten deutliche Signale für die nationalen Regierungen, die „Inklusion“ aller Menschen in unsere Gesellschaft zu ermöglichen. Inklusion bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sich die Architektur an die Menschen anpasst. Es ist nicht Integration gemeint, d.h. die Anpassung der Menschen an ihren Lebensraum.
Durch die neue DIN 18040, die voraussichtlich 2010 erscheint, wird ein neuer „Stand der Technik“ für barrierefreies und rollstuhlgerechtes Bauen definiert. Ziel dieser Norm ist es, die bisherigen Planungsgrundlagen der DIN 18024 und DIN 18025 zusammenzufassen und sie ausschließlich auf Gebäude zu reduzieren: Teil 1 für öffentlich zugängliche Gebäude und Teil 2 für barrierefreie oder rollstuhlgerechte Wohnungen. Die Norm will „durch die barrierefreie Gestaltung des gebauten Lebensraumes weitgehend allen Menschen seine Benutzung in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und ohne fremde Hilfe ermöglichen“. Betroffene wurden in die Normungsarbeit einbezogen, was dazu beitrug, dass das Spektrum um sensorische Anforderungen erweitert wurde.