Bioreaktoren-Fassade als Energielieferant
Lebende Algen als „Smart Material“

In Hamburg entsteht zurzeit ein weltweit ein­zigartiges Haus, das BIQ. Sein Name steht für Bio-Intelligenz. In seiner Fassade werden in Bioreaktoren Mikroalgen gezüchtet, die regelmäßig abgeerntet und in Bio­gas umgewandelt werden. Experten sind sich einig, dass damit ein großer Schritt in die Zukunft nachhaltigen Bauens vollzogen wird. Mit seinem Entwurf für das Algenhaus belegte 2009 das Grazer Architekturbüro Splitterwerk mit Planungspartner Immosolar im Wettbewerb Smart Materials der IBA den 1. Rang. Die grün schimmernde Bio-Gebäudehaut ist das Herzstück eines regenerativen Energiekonzeptes, das von drei Part­­nern entwickelt wurde: SSC Strategic Science Consult GmbH (Verfahrenstechnik und Pro­­zessführung), Arup Deutschland GmbH (Projektkoordination, Konzeption und Engineering) und Colt International (Design und System- und Komponentenfertigung).

Das Algenhaus BIQ, das zur Internationalen Bauausstellung (IBA) 2013 in Wilhelmsburg bei Hamburg fertig gestellt sein soll, sorgt für Wirbel in der Baufachwelt. Es ist weltweit das erste Gebäude mit einer Bioreaktor-Fassade: In den an der Südwest- und Südostfassade angeordneten Glaselementen werden Mikroalgen gezüchtet, die durch Photosynthese und Solarthermie Biomasse und Wärme produzieren. Gleichzeitig ermöglicht die grüne Fassade neue Perspektiven in der Lichtsteu-erung und Beschattung. Das BIQ ist eines von mehreren „Smart Material“-Häusern auf der IBA. „Smart Materials“ werden Materialien genannt, die sich im Unterschied zu herkömmlichen Baustoffen dynamisch verhalten. 

Dynamische Organismen

Bei den Mikroalgen, die in den Bioreaktoren gezüchtet werden, handelt es sich in der Tat um äußerst dynamische Organismen. Die Einzeller nutzen Sonnenlicht für ihr Wachstum und wandeln im Zuge der Photosynthese CO2 sowie Nährsalze um in Biomasse, die später als Rohstoff für die Erzeugung von Biogas als Energiequelle für ganz unterschied­liche Bedarfe unserer Gesellschaft dient. Dabei sind Mikro­algen effizienter in der Umwandlung von Licht­energie in Biomasse als andere Pflanzen: Sie teilen sich bis zu einmal am Tag und verdoppeln so ihre Masse. 1 g trockene Biomasse enthält etwa 23 kJ Energie. Mit der Frage, wie man Mikroalgen im großen Stil kultivieren kann, beschäftigt sich die SSC Strategic Science Consult GmbH schon seit 2008. Sie brachte das interdisziplinäre Forschungs- und Entwicklungsprojekt TERM (Technologien zur Erschließung der Ressource Mikroalgen) an den Start. In Zusammenarbeit mit Hochschulen und Universitäten aus Norddeutschland wurden in einer Pilotanlage in Hamburg Reitbrook die Voraussetzungen geschaffen, um die Mikroalgentechnologie im Fassadenbereich einsetzen zu können.

Staatlich gefördertes Verbundprojekt

Im November 2010 folgte dann ein Verbundprojekt auf Initiative der Arup Deutschland GmbH, die gemeinsam mit der SSC Strategic Science Consult GmbH und Colt International mit der Entwicklung einer Mikroalgentechnologie für den Einsatz an Fassaden begann. Konkret wurden ein Träger­system, ein Steuerungssystem und ein in die Haustechnik integriertes Energiemanagement­system entwickelt. Das Verbundprojekt wird gefördert durch „Zukunft Bau“, eine 2006 ins Leben ­gerufene Forschungsinitiative des BMVBS.

Geschlossene Hohlkörper

Die transparenten, plattenförmigen Hohlkörper der Bioreaktoren, die als Behälter für die Algenkulturen dienen, müssen funktionale Eigenschaften aufweisen und ästhetische Ansprüche erfüllen. Denn zur größtmöglichen Ausnutzung des Sonnenlichts befinden sich die Reaktoren an den Südseiten der Gebäudewand und bilden von außen betrachtet das Gesicht des Gebäudes – während sie von innen täglich direkt im Blickfeld der Gebäudenutzer liegen. Die Ingenieure konstruierten einen Aluminiumrahmen, der zwei durch ein Distanzprofil getrennte Glasscheiben hält, die ihrerseits den Raum für die Algenkulturen bilden. Die Rahmenprofile müssen die Spannkraft aushalten, die nötig ist, um die beiden Glasscheiben sicher und dicht zusammenzuhalten. Der Hohlraum fasst etwa 24 l – genug Platz für das mit Nährsalzen angereicherte Kulturmedium, in dem die Algen angesiedelt sind. ­Jeder Bioreaktor hat einen Zu- und einen ­Ablauf. Auf diese Weise können alle Reakto­­ren zu einem zirkulieren­den System miteinander verbunden werden.

Strömungskanäle für CO2

Damit die Mikroalgen innerhalb des Reaktors nicht absinken, wird das Kulturmedium durch Druckluft ständig in Bewegung gehalten. Hohe Strömungsgeschwindigkeiten an den Innenflächen verhindern, dass sich die Mikro-algen absetzen oder faulen. Kontinuierlich wird zudem CO2 in den Reaktor eingebracht, um das Wachstum der Mikroalgen zu fördern. Drei parallel laufende, vertikale Innenstege sorgen dafür, dass sich das Gas gut im Reaktor verteilt. Sie bilden vier unabhängige Kanäle, durch die das CO2 eingebracht wird. Deutlich sieht man, wie das Gas durch die Kanäle zwischen den Stegen in die Höhe strömt und die gesamte Algen­kultur in Bewegung bringt.

Multipler Energielieferant

Damit aus der Bioreaktor-Fassade ein multipler Energielieferant wird, bedarf es weiterer technischer Komponenten, die zusammengeführt und gesteuert werden müssen. Zunächst werden die Bioreaktoren in Reihe geschaltet, damit das Algen-Kulturmedium zirkuliert. In der Haustechnik-Zentrale können Biomasse und Wärme entnommen werden. Die gewonnene Energie wird von der Energie-Management-Zentrale gespeichert bzw. verteilt. Weitere Komponenten sind:

Wärmetauscher

Über Tag fungieren die Reaktoren wie solarthermische Absorber: Aufgrund des Lichteinfalls heizen sie sich auf. Im Haustechnikraum wird die Wärme über einen Wärmetauscher abgeleitet und anschließend gespeichert oder direkt für die Brauchwassererwärmung genutzt.

Algenabscheider

Die beim Wachstum der Algen entstehende Biomasse wird mit einem Algenabscheider „geerntet“, der Mikroalgen und Kulturmedium trennt: Der Brei aus Algenbiomasse wandert in einen Sammelbehälter, das Kulturmedium zurück in den Kreislauf. Die Algenbiomasse wird in einer Konversionsapparatur zu Methan (Biogas) umgewandelt.

Konversionsanlage

Auf dem Weg der hydrothermalen Konversion, physikalisch-chemische Konversion im Unterschied zur mikrobiellen Fermentation, wird die Algenmasse in Biogas umgewandelt. Dabei liegt die Effizienzquote bei 70 bis 80 %. Das Biogas wird ins öffentliche Erdgasnetz eingespeist oder zur Betankung von Erdgas-Autos bzw. Blockheizkraftwerken genutzt.

Zu- und Abluftleitungen

Für die kontinuierliche Umwälzung des Kultur­mediums in den Bioreaktoren wird Druckluft zugeführt (Leitungsdurchmesser ca. 25 mm). Das funktioniert ganz ähnlich wie bei pneumatisch vorgespannten Kissen aus ETFE-Folie, die mit Stützluft gefüllt sind.  

Energie-Management-Zentrale

Eine automatisierte Prozess- und Anlagenführung ermöglicht die kontinuierliche Kultivierung der Algen, koppelt sie bei minimalem Aufwand mit deren Ernte und Verwertung. Die hierfür benötigte zusätzliche Technik kann als „plug-in“ in standardisierte Haustechniklösungen integriert werden. Die Wasserversorgung und die Entsorgung der Bioreaktoren erfolgt über das städtische Frisch- und Abwassersystem. Über die Energie-Management Zentrale erfolgt auch die vertikale und horizontale Ausrichtung der Bioreaktor-Fassade um die Produktion von Wärme und Biomasse, aber auch die Funktionalitäten Wärme-, Hitze- und Lichtschutz sowie Schalldämmung zu steuern. 

Noch Pilotprojekt

Die Bioreaktor-Fassade für das BIQ in Hamburg-Wilhelmsburg ist noch ein Pilotprojekt. Im März 2013 wird das visionäre Projekt der Öffentlichkeit auf der IBA präsentiert. Für die Algenfassade werden insgesamt 129 Reaktor-Fassadenelemente hergestellt. Die Vermarktung der Bioreaktoren-Fassade wird von Colt International übernommen. Das Unternehmen bringt Erfahrung auf dem Gebiet des Gebäudedesigns und der energieeffizienten Fassadengestaltung mit Lamellensystemen mit. Anders als im BIQ, wo sie als feststehende Elemente integriert sind, werden Bioreaktoren zukünftig deshalb so konstruiert, dass sie auch als Öffnungselemente eingesetzt werden können. Auf diese Weise könnte man die gläsernen Reaktoren wie Lamelleneinheiten in Bewegung bringen: Mit einer entsprechenden Steuerung ließen sie sich dem Sonnenstand nachführen, mit dem Erfolg, dass sich die Energieeffizienz nochmals erhöht. 

Baustein für Umweltkommunikation

Die Einsatzorte für die neue Bioreaktor-Fassade sind vielfältig. Zu ihnen gehören großflächige Industriebauten oder Gewerbehallen, Gebäude der öffentlichen Infrastruktur wie Bahnhöfe oder Flughäfen, aber auch Siedlungs­bauten, Gewerbeimmobilien, Hochhäuser oder auch Wohngebäude. Sie alle könnten zu lebendigen Energiespendern umfunktioniert werden. Das gilt übrigens nicht nur für Neubauten, auch bei Gebäudesanierungen können Bioreaktoren als Fassadenelemente zum Einsatz kommen – zur Aufwertung des Gebäudedesigns und zugleich zur Optimierung der Energiebilanz.Unternehmer, aber auch Privatleute haben mit dieser Innovation die Möglichkeit, ihren „Carbon Footprint“, also die individuell ver­ursachte Ausstoßmenge von CO2, äußerst wirksam – und für alle sichtbar – zu verringern. Besonders für Industriebtriebe kann ein Imagevorteil generiert werden, denn der CO2-Abbau ist gewissermaßen an der Fassade „ablesbar“. Das Bioreaktoren-System könnte auf diese Weise zu einem lebendigen Baustein der Umweltkommunikation werden – und das mit Recht, denn die Energiebilanz kann sich sehen lassen.

Bemerkenswerte Energiebilanz

Das BIQ in Hamburg-Wilhelmsburg verfügt über etwa 200 m² Algenfassade. Bei einem Ertrag von 15 g getrockneter Biomasse pro m²/ Tag kann bei der Umwandlung in Biogas ein Nettoenergiegewinn von ca. 4 500 kWh im Jahr erzielt werden. Zum Vergleich: Eine vierköpfige Familie verbraucht in Deutschland im Jahr ca. 4 000 kWh. Die Algenfassade könnte demnach den gesamten Haushalt der Familie mit nachweislich grünem Strom versorgen. Grüner geht‘s nicht!

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