Brutalismus als Versuch einer sinnlichen Moderne
Ein Blick auf eine vielbesprochene, vieldeutige Tagung in Berlin, www.brutalismus.com

Mitte Mai fand in Berlin eine Tagung zum „Brutalismus“ statt. (Dazu finden Sie auch ein Interview mit Florian Dreher vom „Karlsruher Institut für Technologie“ zum Thema „Brutalismus. Architekturen zwischen Alltag, Poesie und Theorie“ unter www.DBZ.de.) Die Assoziationen zum Bauen unter diesem Etikett sind höchst gespalten. Das mag an dem Wort selbst liegen, springt einem im Deutschen doch die Bezeichnung „Brutalität“ förmlich entgegen und fordert gleichsam zu Missverständnissen auf. Solchen Missverständnissen, die durch das modernitätskritische Rüstzeug von Adorno und Bloch bis Heidegger oder durch die Mitscherliche Diagnose einer „Unwirtlichkeit unserer Städte“ zusätzlich genährt werden.

Den Ursprung nimmt diese Bezeichnung Mitte der Fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Großbritannien. Alison (1928-1993) und Peter Smithson (1923-2003) hatten ihn verwendet, um einen Entwurf für ein Haus im Londoner Stadtteil Soho zu beschreiben, der sich durch Purismus - heute würde man sagen, Minimal Design - auszeichnet. Freilich war die Reduktion, die sich durch ein Stahlbeton­skelett darstellte, das mit Backsteinmauerwerk ausgefacht worden war, auch der wirtschaftlichen Situation von damals geschuldet.

So ist der Weltkrieg 1939-45 ein wichtiger Markstein, der die Notwendigkeit unterstreicht, das architektonische Phänomen „Brutalismus“ zu kontextualisieren. Quasi still stehende Volkswirtschaften und zerstörte Länder erzeugten gewaltige soziale Probleme. Und es galt, in kurzer Zeit mit möglichst wenig Geld den Wiederaufbau zu leisten – mit dem kostengünstigen Beton. Diese pragmatische Facette ist aber ganz sicher nicht die entscheidende, ebenso ging es den bauenden Generationen zu einem gehörigen Teil um Sinnsuche. Diese hat auch Reyner Banham (1922-1988) sehr anschaulich in seinem Klassiker: „Brutalismus in der Architektur. Ethik oder Ästhetik?“ bereits im Titel anklingen lassen. In jeder gebauten Form zeigt sich etwas Wesenhaftes. Und die Architektur in jener Zeit wollte regelrecht zum gebau­ten Manifest werden.

Banham beschreibt auch den Eindruck, den der Künstler Jackson Pollock (1912-1956) auf die Architekten der Fünfziger Jahre ausgeübt hat. Er setzte neue Maßstäbe, solche Maßstäbe nämlich, die die platonischen Erbschaften von Harmonie, Maß und Proportionen über den Haufen warfen. Stattdessen hat seine Kunst an den natürlichen und schöpferischen Prozessen des Werdens direkt teil: „Die Auswertung dieser visuellen Eigenschaften zur Steigerung der Wirkung des Gegenstandes, welche der klassischen Vorstellung von Schönheit spottete, um Gewalt, Entstellung, Finsternis und eine gewisse Portion von schwarzem Humor hervorzuheben, war jedoch eine umstürzende Neuerung, deren Bedeutung nicht übersehen wurde.“

Der Brutalismus ist also ganz offensichtlich über das Thema Material mit dem Anspruch verbunden, sich von dem proportionslastigen Erbe der Bauhaus-Moderne zu lösen und in elementarerer Weise an die Natur anzuknüpfen, indem er den sinnlichen Zugang der Menschen zur gebauten Umwelt thematisiert. Damit scheint er an die expressionistische Frühphase des Weimarer Bauhauses (1919-1924) anknüpfen zu wollen. Diese ist wohl eher von einem Johannes Itten (1888-1967) verkörpert, als von einem Walter Gropius (1883-1969). Letzterer hat spätestens ab 1925 die Weichen vollends auf eine typisierte Industriegestaltung gestellt.

Vor diesem Hintergrund ist noch einmal ein Blick in die deutsche Etymologie des Wortes „brutal“ aufschlussreich. Kein geringerer als der Dichter Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) nämlich hatte in seinem Text „Über die Parodie bei den Alten“ (1824) ebenfalls einen Hinweis auf dessen Naturbezug gegeben: „[…] Vielmehr wird hier das Rohe, Brutale, Niedrige, das an und für sich selbst den Gegensatz des Göttlichen macht, durch die Gewalt der Kunst dergestalt emporgehoben, daß wir dasselbe gleichfalls als an dem Erhabenen theilnehmend empfinden und betrachten müssen“. Damit ließe sich eine direkte Verbindung von Goethe zu Pollock ziehen, und wieder­­-um war es ein Brite (und Zeitgenosse Goethes), der die ästhetische Dimension der oben genannten Erhabenheit erkannte, würdigte und sie gegenüber der Schönheit stark machte. Die Rede ist von Edmund Burke (1729-1797) mit seinem Klassiker: „A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful“ von 1757.

Derzeit wird im deutschen Feuilleton den Landsleuten eine Rekons­truktionsseligkeit, die breite Zustimmung zu neorationalistischen Bauformen (z.B. das „Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum“ in Berlin) und damit verbunden ein Streben nach Historisierung unterstellt. Ist die zeitgleiche Brutalismus-Renaissance hierzulande also möglicherweise der Versuch, mit einer authentisch gedeuteten Materialbezogenheit im Sinne der Erhabenheit der Wiederbelebung längst überkommener Bauformen bzw. -weisen zu entrinnen und Identifikation, Vertrautheit und Beständigkeit anders, nämlich natürlich werdend, und sinnlich gleichzeitig zu definieren? Christian J. Grothaus, Architekt und freier Autor, Berlin. 

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