»Die Menschen wieder zusammenbringen«
Im Gespräch mit Michele De Lucchi, Mailand/IT
Michele De Lucchi: Nun, ich bin Architekt und als solcher für mehr verantwortlich, als für rein technische Lösungen, die sich auf Themen wie Nachhaltigkeit etc. beziehen. Als Architekten haben wir aber auch die Aufgabe und die Möglichkeit, Menschen in einen Kontext zu bringen. Diesen Kontext sollten im besten Sinne Orte, Räume bilden, die die Menschen anziehen und in gewisser Weise auch prägen, und das alles im Einklang mit der Natur. Wenn Sie ein solches Denken, eine solche Vision prophetisch sehen wollen …
Ihr Konzept der „Earth Stations“ als solitäre Prototypen zukünftigen Zusammenlebens erscheint mir elitär. Sind diese Raumgebilde zunächst nur für die Happy Few gedacht? Oder sind sie für jeden auf der Welt erreichbar?
Das ist eine gute Frage. Wir sind ja noch ganz am Anfang und entwickeln die ersten „Earth Stations“ wie Prototypen. Jeder Prototyp erhält dann – „made by hands“ – seine individuelle Ausformung vor Ort und passt sich den Ansprüchen und Erfordernissen vor Ort an. Wir sehen das, worüber wir aktuell sprechen, als eine Art Fertigungsmodell dafür, was die Zukunft fordert: Anpassung an sich stark verändernde Lebensräume. Sie haben Recht mit dem „happy“, nicht aber mit dem „few“. Unsere Siedlungsräume in der Natur sollen – wenn alles gelingt – alle glücklich machen.
Wieviele dieser „Earth Stations“ werden wir brauchen, damit das dort programmierte Glück auch in der Welt wirksam werden kann? Gibt es eine kritische Masse?!
Schön, dass Sie mich danach fragen! Wir haben überhaupt nicht vor, unsere Stations quasi missionarisch über die Welt zu verbreiten. Das ist ein Mißverständnis, dem ich häufig begegne. Nein, das, was wir planen und worüber wir sprechen, sollen Labore sein, in denen sich einerseits ein neues Denken widerspiegelt und in denen andererseits neues Denken provoziert wird. Zu einer kritischen Masse werden wir dabei nicht gelangen.Das zu glauben, wäre auch naiv.
Hier in Deutschland kennt man Michele De Lucchi vor allem als Designer. Sie selbst sehen sich eher als Architekt? Geht beides zusammen?
Aber ja! Meinem Verständnis nach lassen sich Architektur und Design gar nicht trennen. Denn sehen Sie, wir sollten doch immer in allen Maßstäben denken und handeln können. Als Architekt im Bezug auf die Stadt, auf das Haus. Als Designer im Bezug auf den Stuhl, den Tisch, das Licht … Großmaßstäbliches hängt am kleineren Maßstab, umgekehrt kann ich aber auch vom kleinsten Hocker auf die Stadt blicken. Und: Für beides gilt das Diktum von Qualität und Funktion.
Aber um noch mal auf die Dichotomie von Architektur und Design zurückzukommen: Als ich vor rund 40 Jahren angefangen habe, als Architekt zu arbeiten, war die Trennung zwischen diesen beiden Disziplinen klar und es gab wenig operative Überschneidungen. Heutzutage sind die baulich technischen Anforderungen in der Architektur derart hoch, dass Architektur und Industriedesign dabei sind, zu einer einzigen Profession zu verschmelzen.
Ist Ihr „Überlebensentwurf“ eher eine Vision oder doch ein realer Vorschlag?
Es handelt sich tatsächlich eher um eine Vision, vielleicht sogar um meine sehr persönliche Vision. Ich habe in den Layouts der „Earth Stations“ meine Lebenserfahrung ebenso verarbeitet wie das, was ich in der ganzen Welt als Erfahrungen eingesammelt habe in meinem professionellen Tun. Mit meinen Entwürfen wollte ich nicht reine Funktionsbauten liefern, sondern Einheiten, die eine Wirkung haben, eine bereichernde Wirkung. Damit meine ich eine starke, emotionale Verbindung zu allen Bereichen in den Stations, seien es öffentliche Plätze, seien es die privaten Räumen.
Schaut man auf die schönen Bilder Ihrer
Visionen von zukünftigem Wohnen drängt sich der Eindruck von kunstvoll designten
Sanatorien auf. Ist das beabsichtigt?
(lacht) Vielleicht kann man das so sehen, aber eigentlich ist das Heilsame eher draußen in der Natur zu finden. Aber im Ernst: Wir haben heute das Problem, dass viele künstlich geplante Städte – schauen Sie nach China beispielsweise, aber auch in Europa finden sich in der jüngeren Geschichte solche Gebilde – nach eher geometrisch funktionalen Prinzipien geplant und realisiert sind. Das mag auch ein Ergebnis des wissenschaftlichen Diskurses dieser Zeit sein. Was diesen – ich nenne es mal „theoretischen“ – Gebilden fehlt, sind spezifische, durchaus auch symbolisch aufgeladene Orte, die den Menschen in der Stadtgemeinschaft ein verbindendes Element geben. Ich sprach schon von Möglichkeiten der Identifikation. Solche eher weichen Planungswerkzeuge sind die Voraussetzung dafür, dass eine Stadt Wirkung entfaltet; heilsame Wirkung, wenn Sie so wollen.
Meine Designvorschläge zielen darauf ab, Menschen wieder zusammenzubringen, ihnen die Möglichkeit zu geben, Gemeinschaft als ein kreatives wie gleichzeitig ausgleichendes Moment zu erleben.
Aktuell gibt es ausgearbeitete Entwürfe verschiedener „Earth Stations“. Wie geht es weiter? Gibt es schon Investoren, die hier einsteigen wollen?
Ich habe mit meinen Entwürfen zunächst einmal zeigen wollen, was es für Möglichkeiten gibt. Und dass es Möglichkeiten gibt! Das erscheint mir wichtig, denn meistens sprechen wir immer nur über die Hindernisse, die Begrenzungen und über das, was wir realistisch erreichen können. Ich bezeichne mich gerne als Optimisten, der so über die Dinge denkt, dass sie voranschreiten können, weit über etwas nur Realistisches hinaus … Ich hoffe es jedenfalls!
Und was den Investor angeht: Wir sind in Gesprächen. Es gibt seriöse Interessenten aus der privaten Wirtschaft, aber auch aus Kommunen. Noch ist hier nichts verhandelt. Aber ich möchte deutlich sagen, dass wir Architekten zwar immer auf dem Boden der Tatsachen bleiben, also auch als Ökonomen handeln müssen, ich mir andererseits aber auch wünsche, dass wir von etwas träumen können. Ohne das sind wir Architekten verloren!
Gibt es, trotz aller Unwägbarkeiten, eine Art von Zeitplan für die „Earth Stations“?
Ja, den gibt es. Im Augenblick entwickeln wir noch – ich habe das in Köln gezeigt – die „Education Station“. Diese Einheiten sind die vielleicht wichtigsten Elemente der „Earth Stations“, weil mit ihnen – als freie Lehr- und Lernräume konzipiert – der von mir angestrebte Paradigmenwechsel im Denken am besten vorbereitet werden kann.
Wer sind hier die Lehrer?
Nein, das sind keine Lehrer im akademischen Sinne. Ich stelle mir vielmehr vor, dass in den
„Education Stations“ die Jungen die Alten, die Alten die Jungen unterrichten; in Lebens- und weniger in schulischen Fragen.
Gibt es bereits ein vergleichbares Schulprojekt?
Nicht direkt, nicht in der von uns jetzt angestrebten Klarheit, Radikaliät?! Wir haben vor ca. sechs Jahren eine Schule in Vietnam realisiert und einen Hochschulcampus in Argentinien. Aus diesen Projekten haben wir die Erfahrungen gezogen, die wir für ein viel fortschrittlicheres Projekt wie das der „Education Stations“ benötigen.
Zum Schluss: Können Sie sich vorstellen, in einer ihrer „Earth Stations“ selbst zu leben? Anstelle von Mailand oder Citta di Castello?
Ja.
Für Monate? Das ganze Leben!?
Nein, nicht das ganze Leben. Wenn wir mit der Planung der „Education Stations“ am Ende sind, werden wir an „Residential Stations“ arbeiten. Das werden reine Wohnorte sein, die durch andere „Earth Stations“ ergänzt werden. Ich sehe die größte Schwierigkeit im Design dieser Einheiten darin, dass der vielfältig vorhandene öffentliche Raum so konzipiert sein muss, dass er sich sämtlichen Individuen, die dort leben, öffnet, dass er zu ihnen spricht und von jedem verstanden wird. Das wird schwierig!
Ansonsten bin ich Weltbürger und bin da zuhause, wo mich die Arbeit und das Leben abholen.
Mit Michele De Lucchi unterhielt sich DBZ-Redakteur Benedikt Kraft am 2. Oktober 2019 via Telefon Gütersloh / Mailand.