Die Unschuld der Dinge – Pamuks Museum eröffnet
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Orhan Pamuks Roman „Das Museum der Unschuld“ ist die Geschichte einer Obsession. Sein Romanheld Kemal gibt sich, direkt vor seiner standesgemäßen Vorlobung mit Sibel, seiner Liebe zu Füsun hin. Und weil er sich nicht zwischen den Frauen entscheidet, verliert er nicht nur Füsuns Liebe, er verliert sie auch im flirrenden Istanbul aus den Augen. Er sammelt Gegenstände, die ihn an Füsun erinnern oder die sie berührt hat und versucht so den Verlust zu kompensieren. Er steigert sich dabei in eine Obsession hinein, die er auch dann nicht aufgeben kann, als er Füsun wieder findet. Sie lebt verheiratet mit ihrem Mann und ihren Eltern in einem kleinen Haus im Stadtteil Çukurçuma. Über acht Jahre besucht Kemal sie und ihre Familie dort und sammelt dabei weiter. In seiner Besessenheit, Füsuns Aura mit den Dingen aus ihrer Umgebung fassen zu wollen, kauft er schließlich sogar das Wohnhaus, um dort ein Museum seiner Liebe zu ihr einzurichten und selbst dort unter dem Dach zu wohnen. Er beauftragt den Architekten Ihsan mit dem Umbau des Wohnhauses zum Museum und bittet Orhan Pamuk, der sich listig selbst in den Roman geschrieben hat, darum, die Geschichte seiner Liebe zu Füsun und seiner Liebe zu den Dingen aufzuschreiben.
Pamuk betreibt in seinem Roman ein flirrendes Spiel mit Fiktion und Realität, dem
er mit dem Bau des Museum nun auch eine räumlich erlebbare Form gegeben hat. Diese Idee entstand schon mit der Konzeption des Buches. 1999, bevor er mit dem Schreiben anfing, hatte er das Haus an der Ecke Çukurcuma-Straße, Dalaıc-Gasse bereits gekauft und besaß viele der Gegenstände, um die es im Roman geht. Mit dem Architekten Ihsan Bilgin, Dekan der Architekturfakultät an der Istanbuler Bilgi Universität, der später auch zur Romanfigur wird, plante er den Umbau des Wohnhauses zu einem Museum. 1999 begannen die Bauarbeiten. Das Haus wurde bis auf die Außenwände entkernt. Innen ergaben sich durch die eingefügte Stahlkons-truktion umfassende Freiräume für die Konzeption eines Museums, das Pamuk seinen Helden mit den Worten reflektieren lässt: „Der Architekt hatte in dem Gebäude viel freien Raum geschaffen, dessen Tiefe ich nachts genauso intensiv empfand wie die Gegenwart meiner Sammlung. Wahrhafte Museen sind Orte, an denen sich Zeit in Raum verwandelt.“ Bis 2003 dauerten die Rohbauarbeiten an.
2008, nach dem der Roman erschienen war, beauftragte Pamuk den renommierten deutschen Museumsarchitekten Gregor Sunder-Plassmann mit der Einrichtung des Museums, der seinerseits ein Team aus Literaturwissenschaftlern, Künstlern und Designern hinzuzog. Dafür hatte Pamuk, das zeigen einige von ihm im Museum ausgestellte Skizzen, sehr genaue Vorstellungen. Die im Roman relevanten Dinge sind in einzelnen, den Kapiteln zugeordneten Vitrinen gruppiert. Bei ihrer Betrachtung verschwimmt immer wieder die Vorstellung dessen, was eigentlich zu sehen ist. Man ist geneigt zu fragen: Sind es die Arbeitsunterlagen des Autors? Haben die Figuren vielleicht doch existiert? Angesichts der peniblen Katalogisierung von 4 213 Zigarettenkippen, die Kemal im Roman sammelt und zur Ausstellung vorbereitet, könnte man dies durchaus vermuten. Oder: Gab es nicht vielleicht doch eine wirkliche Füsun, die an der Adresse des Museums gewohnt hat, die in dem auf ihren Namen ausgestellten Führerschein verzeichnet ist? Ist es eine Nacherzählung des Romans im Medium der Ausstellungsinszenierung?
Die dem ersten Kapitel zugeordnete Vitrine gibt sehr schön die Atmosphäre wieder, die sich auch beim Lesen vermittelt. Vielleicht ist es gerade die Mischung der Wahrnehmungsebenen und die sich dadurch einstellende Verwirrung, vielleicht sind es aber auch die vielen kleinen Erzählungen, die sich beim Betrachten der Vitrinen mit der Kenntnis des Romans vermitteln oder das Wissen um die Verwurzelung des Autors in Istanbul, die schließlich die Aura von Kemal und vor allem von Füsun spürbar werden lässt, obgleich diese Menschen nicht existieren. Die ausgestellten Dinge sind unschuldig, sie sind austauschbar. Es geht um ihr Arrangement und die Konnotation, die ihnen der Roman zuschreibt.
Dazu gehört auch die Ausstellungsarchitektur. Sie sollte „altmodisch“ sein, überlegt Kemal im Roman, nachdem ihn Pamuk Museen auf der ganzen Welt hat besuchen lassen. Wenn wahrhafte Museen aber Orte sind, in denen „Zeit zu Raum“ wird, wie es Kemal postuliert, fragt man sich schon, warum die Vitrinen oder die nachgebildete Treppe so wirken müssen als stammten sie aus dem 19. Jahrhundert. Das von den Ausstellungsarchitekten geplante Gegengewicht einer dem 21. Jahrhundert gemäßen Gestaltung der Vitrinen um das Treppenauge, im Erd- und Dachgeschoss oder im Shop ist dazu hin noch zu verhalten ausgefallen, um ein wirkliches Gegengewicht bilden zu können.