Die offene Mitte
Konzernzentrale der ThyssenKrupp AG, Essen
ThyssenKrupp hat in Essen eine neue Konzernzentrale bezogen. Deren Herzstück bildet das Gebäude Q1. Mit der überdimensionalen Glasfassade betraten die Architekten technisches Neuland, denn sie steht nicht auf Stützen oder hängt als „curtain wall“, sondern ist vertikal und horizontal aufgespannt.
Als das deutsch-französische Architektenteam, JSWD Architekten und Chaix & Morel et associés, im Wettbewerb für den Bau der Zentrale von ThyssenKrupp den 1. Preis gewann, war die enge Verschränkung von städtebaulichem und architektonischem Konzept ein Hauptgrund für das klare Votum der Jury.
Das neue ThyssenKrupp Quartier besteht aus 12 Einzelgebäuden. Das 50 m hohe Gebäude der Konzernspitze, genannt Q1, bildet dabei den räumlichen Mittelpunkt. Seine zentrale Bedeutung wird noch dadurch unterstrichen, dass es frei am Ende einer 220 m langen Wasserachse steht. Zwei überdimensionale Winkel rahmen die offene Mitte des kubischen Baukörpers. Die Öffnung besteht an Süd- und Nordfassade aus einer lückenlosen Glasfläche über acht Geschosse hinweg; die beiden Panoramafenster sind 25,60 m breit und 28,10 m hoch. Zwischen den imposanten Fenstern erstreckt sich der 40 m hohe Luftraum des Atriums.
Befestigung der Glasfassade
„Das Panoramafenster sollte wirken wie eine einzige große Scheibe, eine entmaterialisierte Membran war das Ziel“, erklärt Jürgen Steffens von JSWD Architekten. Der für eine Glasfassade dieser Größe notwendige Randverbund, die Fassung, ist gut und gerne einen halben Meter breit. Um die gewünschte filigrane und transparente Wirkung zu erreichen, bedurfte es für die Abtragung der Windlasten und des Eigengewichts einer Sonderkonstruktion, die ähnlich der Bespannung eines Tennisschlägers funktioniert: „Die Seilkonstruktion ist extrem elastisch und fängt auch heftige Stöße spielend auf – trotzdem bleibt der Rahmen extrem schmal“, so Steffens. Genau dieses Prinzip konnte das Architektenteam in Essen im Großen umsetzen.
Die 96 großformatigen Scheiben der Panoramafenster sind mit Hilfe von Klemmhaltern punktförmig an eine Konstruktion aus vertikalen und horizontalen Stahlseilen gelagert. Jeweils paarweise angeordnet, tragen die Stahlseile die Lasten horizontal und vertikal ab. Die einzelnen Scheiben haben weder Rahmen noch Sprossen – sie sind nur mit Silikonfugen verbunden.
Wegen der Größe des Fensters war klar, dass die Scheiben und im Besonderen deren Randverbund hohen Windlasten ausgesetzt sein würden. Hinzu kamen die rund 500 kg Eigengewicht der 2,16 x 3,60 m großen, exzentrisch angeschlossenen Scheiben.
Mit dem Stuttgarter Ingenieurbüro Werner Sobek fand das Architektenteam einen Partner, der die Belastungsanforderungen an die gefundene Konstruktion minutiös prüfen konnte, vor allem die Dimensionierung der Scheiben und die Verwindung ihres Randverbundes. „Die elastische Glasmembran kann in ihrem Zentrum vom Wind um mehr als einen halben Meter deformiert werden, ohne dass die Konstruktion dadurch Schaden nimmt“, erklärt Heiko Trumpf, der das Projekt im Büro Sobek mit seiner Kollegin Annette Krtscha geleitet hat. „Damit diese Verformungstoleranz nicht überschritten wird“, so Trumpf, „war die Vorspannkraft der Horizontal- und Vertikalseile entsprechend hoch zu wählen“.
In vertikaler Richtung haben die Seile einen Durchmesser von 30 mm und sind unterhalb des 11. Geschosses an einem dreigeschossigen Fachwerkträger befestigt. Die Seile an der horizontalen Tragstruktur, die stirnseitig an die Geschossdecken gekoppelt wird, weisen einen Durchmesser von 32 mm auf. Vertikal- und Horizontalseile sind an ihren Kreuzungspunkten über Seilklemmen miteinander verbunden. Die Seile besitzen eine Zugfestigkeit von je 1 770 N/mm² – für alle Stahlseile zusammen entspricht das dem Gewicht von 500 VW Golf. Pro Geschoss beträgt die horizontale Vorspannkraft 34 t. Alle genannten Faktoren wirken zusammen, um die Gesamtkonstruktion möglichst leicht und filigran wirken zu lassen.
Ein weiterer entscheidender Einflussfaktor waren die Gläser: Einerseits musste das Glas Sonnenschutzwirkung haben, andererseits sollte es möglichst klar und wenig gefärbt sein. Um das Ziel maximaler Transparenz zu erreichen, entschieden sich die Planer für ein Designglas mit Weißglasscheiben als Isolierverglasung. Die Außenseite bildet eine 12 mm Einscheiben-Sicherheitsverglasung, hinter einem Scheibenzwischenraum von 16 mm folgen 2x8mm Verbundsicherheitsverglas; dieses ist mit einer 1,52 mm starken PVB-Folie als Sonnenschutz versehen.
Ungeachtet der 90 mm Gesamt-Glasdicke geht der Blick nahezu ungehindert durch das Gebäude, der Grad der tatsächlich erreichten Transparenz ist beachtlich. Trotzdem erfüllen die Landschaftsfenster mit ihrer Aufbaustärke von jeweils 45 mm alle Anforderungen hinsichtlich Kälte- und Wärmeschutz.
Zur Lichtfülle des Atriums trägt neben den seitlichen Fenstern das gläserne Atriumdach bei. Wie die Landschaftsfenster, wird es von einem Seiltragwerk gehalten, was auch hier eine ausgesprochen filigrane Unterkonstruktion ermöglicht. Die zweifach gekrümmte Außenhaut des Dachs misst rund 21,0 x 21,0 m.
Sonnenschutzlamellen
Im Gegensatz zur Durchsichtigkeit der Mitte steht der übrige Baukörper: Links und rechts der Panoramafenster bedecken 400 000 Edelstahllamellen insgesamt 7 800 m² Fassadenfläche. Dabei handelt es sich nicht um Jalousien oder andere flexibel vor der Fassade angebrachten Elemente, sondern um stehende, fest angebrachte Edelstahlflügel, was die Windanfälligkeit minimiert. Die Flügel erinnern an Fensterläden – mit dem entscheidenden Unterschied, dass sie sich in Diagonalrichtung öffnen. Bei halb geöffneten Lamellen entsteht der Eindruck einer kantigen und rauen Hülle, die metallisch schimmert. Der Kontrast zu den glatten, champagnerfarben Wänden im Inneren des Gebäudes ist beabsichtigt.
Das Lamellen-System richtet sich automatisch nach dem Stand der Sonne aus, hält dabei direkte Sonneneinstrahlung ab und lenkt einfallendes Licht zugleich so nach innen, dass es in den Büros hell genug bleibt.
Bei der Entwicklung der Außen-Lamellen bekamen die Architekten Unterstützung durch das Freiburger Fraunhofer Institut für solare Energiesysteme ISE.
Für das Atrium dagegen verzichtete man, von der Glasbeschichtung abgesehen, auf Sonnenschutz ebenso wie auf eine künstliche Klimatisierung. Am oberen und unteren Ende der Glaswände befinden sich Lüftungsklappen, durch die erwärmte Luft abziehen und kühlere eintreten kann, wie bei einem Kamin.
Zertifizierung
Dass das Gebäude Q1 von der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB e.V.) für seine Nachhaltigkeit als Vorzertifikat ein Gütesiegel in Gold erhielt, überrascht nicht, denn seine von Transparenz geprägte Hülle wurde keineswegs mit einem hohen Ressourcenverbrauch erkauft. Der Energieverbrauch des Gebäudes Q1 liegt unter 150 kWh/m² und Jahr, und damit deutlich niedriger als der Durchschnittsverbrauch vergleichbarer Bürohochhäuser. Grund für das gute Abschneiden ist neben dem innovativen Sonnenschutz eine ausgereifte Kombination energetischer Features wie Geothermie, Wärmerückgewinnung und Bauteilaktivierung.
ThyssenKrupp demonstriert mit seiner neuen Zentrale eine reizvolle Umsetzung des Themas Unternehmensarchitektur. Die Selbstdarstellung des Unternehmens ist dabei eher ein Understatement, beinahe versteckt in zahlreichen intelligenten Details und technologischen Finessen aus seiner Produktwelt.
Frank Peter Jaeger, Berlin