Disruption? Ich spreche eher vom Mut zum Handeln
Wenn man über das „Zukunft bauen“ nachdenkt, kommt man an den ArchitektInnen/IngenieurInnen nicht vorbei. Selbstverständlich! Selbstverständlich? Sauerbruch Hutton, Berlin, hatten im Rahmen einer Ausstellung in Mestre/Venedig im „M9“, einem Stadtraumaktivator von Sauerbruch Hutton selbst, unter dem Titel „draw, love, build“ eine eigene Schau auf ihre Arbeiten kuratiert. Zur Ausstellung selbst erschien eine Begleitpublikation mit dem Titel „the turn of the century“ (bei Lars Müller), die beides verspricht: Rückschau und Zukunftsblick. So richtig angezogen allerdings wurden wir von einem Symposium im Rahmen der Ausstellung, das mit dem Titel „the future of the architectural profession“ exakt den Nerv traf, der bei uns offen lag.
Wohin es mit dem Berufsstand der ArchitektInnen in den kommenden Jahren geht, darüber sprachen wir mit Matthias Sauerbruch in Berlin. Er hatte das Symposium moderiert und ist sowieso im Thema.
Lieber Matthias: Muss man, um die Zukunft der Zunft lesen zu können, in eine Glaskugel schauen oder geht es konkreter?
Matthias Sauerbruch: Das geht sehr konkret. Wollen wir bei uns anfangen?! Wir schauen in die nächste Zukunft und haben reagiert: Vor zwei Jahren haben wir dem Büro eine neue „Verfassung“ gegeben, haben eine Partnerschaft gegründet mit jetzt insgesamt 19 Partnern. Weil die alle schon bei uns waren, sind das jetzt nicht völlig neue Player. Aber wir bilden ein Team mit anderen Rollen, anderen Denk- und Arbeitsmustern und vielleicht auch leicht veränderten Zielen, das werden wir sehen. Das ist ein Turn, bis zu einem gewissen Grad zumindest. So kann man natürlich auch die Ausstellung in Mestre sehen, die eine Retrospektive ist; auch ein Innehalten, ein „what happened up to here“ und jetzt geht es in die Zukunft. Da kommen Fragen auf, wie „Welche Chancen haben wir überhaupt?“, „Was müssen wir tun, um uns als Architekten zu behaupten?“ etc. Für das Lesebuch „the turn of the century – a Reader about Architecture in Europe 1990 to 2020“ haben wir über 20 Autoren gebeten, uns ihre Sichten auf die Lage der Architektur, der Stadt, das Thema der Nachhaltigkeit usw. zu geben. Es geht um das Sichtbarmachen prägnanter Phänomene dieser Zeit. In dem Symposium haben wir versucht, uns auf die Frage nach der Zukunft der Profession zu konzentrieren.
Und dann gab es vor Kurzem den „Zukunft Bau Kongress 2021“ im ehemaligen Plenarsaal in Bonn. Du hast in einer Keynote zum Abschluss noch einmal einiges zusammengefasst, auch kritisiert …
Auf dem Kongress ging es sehr gezielt, sehr stark um Fragen der Bauwende, das war ja auch das Thema. Dass ich mich hier kritisch geäußert habe …?!
Auch in Zukunft in Berlin: Matthias Sauerbruch an seinem Schreibtisch, mitten im Team
Foto: Benedikt Kraft / DBZ
Machen wir es anders: Ich hätte dem meisten deiner Ausführungen zustimmen wollen, aber dann dachte ich: Wieso muss Matthias Sauerbruch, „at the turn of the century“, mit Vitruvs drei Architekturprinzipien um die Ecke kommen, mit der Firmitas, Utilitas und Venustas? Wieso Vitruv, wenn drängende Zukunftsfragen anstehen?
Vitruv? Wer war das noch mal?! Spaß beiseite, ich habe Vitruv in das Gespräch eingeführt, um einen Kontrast zu der allgemeinen technischen Fachsimpelei einzuführen, von der solche Veranstaltungen oft beherrscht sind. Ich habe Vitruv wohl deswegen zitiert, weil wir ständig vor allem über das „how“, weniger über das „why“ sprechen; also abendfüllende Vorträge darüber halten, dass wir alte Bauteile wiederverwenden und mit Holz oder am besten gar nicht bauen sollten, und nicht mehr über die Ziele reflektieren, die mit der Herstellung (oder Nicht-Herstellung) von Architektur immer verbunden sein sollten – jenseits des abstrakten und sehr generellen Ziels, dass wir den Planeten retten wollen. Und da fehlte mir in einigen Vorträgen ein bisschen was zwischen den Excel-Listen und dem deklamatorischen Abschied vom anthropozentrischen, fortschrittsbetonten, rationalen Zeitalter der Architektur. Und wenn dann die Provokation in den Raum gestellt wird, dass wir Architekten eigentlich nicht Baumeister sondern Hausmeister werden sollten, erscheint mir das doch ein bisschen zu weit unter unsere Ansprüche an uns selbst zu gehen. Ist Architektur von vornherein ein Problemfall? Ich bin mir sicher, dass das nicht sein muss. Vielleicht kam an dieser Stelle dann die Rückkopplung zu den Grundbegriffen wie Utilitas, Firmitas und Venustas, die ich ja ziemlich frei als Annehmlichkeit, Dauerhaftigkeit und Sinnlichkeit interpretiert habe.
Vielleicht hat sich Vitruv vor gut 2 000 Jahren nicht vorstellen können, dass die ArchitektInnen einmal an dem Punkt stehen, an dem wir heute sind. Die Welt retten, das wäre doch was?! Also, ich bin mir sicher, dass es jetzt nicht mehr ausreicht, sich auf wohltradierte Geschichte(n) zu berufen, im Gegenteil sollten wir neu denken, eine neue Sprache jenseits der Vitruvschen finden für Architektur, für das Bauen. Der Begriff der Disruption zielt vielleicht auf den Hausmeister, andere sprechen auch vom Heilen. Können ArchitektInnen die Welt retten? Der Hebel dazu ist ja ein riesiger …
Meine Referenz war nicht als Plädoyer für Neo-Klassizismus zu verstehen, das würdest du von mir ja kaum erwarten. Aber natürlich gehört auch die Frage nach einer angemessenen neuen Architektursprache zu der Diskussion. Dass die ArchitektInnen die Welt retten können, scheint mir zumindest fraglich. Hans Joachim Schellnhuber hat da Mut gemacht. Meines Wissens ist er aber der Einzige, der sagt, dass das Bauen die Welt retten könnte. Architektur ist ja ohnehin auch noch einmal etwas anderes. Unser Büro hat sich, wie du weißt, sehr lange darum bemüht, den Energieverbrauch von Häusern auf Null zu reduzieren. Wir haben aber auch gelernt, dass nicht alles, was geplant und mit Zahlen belegbar war, sich im Gebrauch und über die Lebenszeit eines Gebäudes auch einstellt.
Auch in Zukunft in Berlin: Matthias Sauerbruch an seinem Schreibtisch, mitten im Team
Foto: Benedikt Kraft / DBZ
Kannst du ein Beispiel geben?
Das Umweltbundesamt (UBA) ist eines der wenigen Projekte, bei dem wir wirklich belastbare Zahlen haben. Das Monitoring hat im ersten Jahr ergeben, dass das UBA etwa das Doppelte an Energie von dem verbraucht, was die Ingenieure errechnet hatten! (Was sich über die Jahre verbessert hat, zum Glück.) Das hatte unter anderem etwas mit den Nutzern zu tun. Als wir die GSW in den 1990er-Jahren angefangen haben, konnten wir auf einem Tortendiagramm den Energieanteil, der für den Bau aufgewendet wird, als 15-Prozent-Tortenstück markieren. 85 Prozent der Energie in einem 60jährigen Betrachtungszeitraum entfiel auf den Betrieb und den Unterhalt des Gebäudes. Dementsprechend hatten wir den Schwerpunkt unserer Arbeit auf den Betrieb gerichtet und geschaut, wie man die Heizenergie, die Energie für die Beleuchtung usw. reduziert. Heute hat sich das Verhältnis vollkommen verschoben, weswegen wir jetzt so viel über graue Energie reden.
Und – ist das falsch?
Nein, wir hatten das schon vor über zehn Jahren präsent, als wir für die Münchener Rück ein Bürogebäude aus den 1980er-Jahren umgebaut hatten. In diesem Projekt haben wir einmal ausgerechnet, was uns der Erhalt des Rohbaus denn eigentlich gebracht hat. Eine ganze Menge, allein das Stahlbeton-Skelett entsprach dem Äquivalent eines CO2-Ausstoßes von gut 30 Jahren Heizen. Da wurde uns schlagartig klar, dass Null-Emission für das Heizen über mehr als drei Jahrzehnte selbst mit weltbester Technik und noch so dicker Dämmung nie zu erreichen wäre. Selbst mit Solartechnik nicht. Da ist deutlich geworden, dass die Umnutzung von Bestandsbauten die beste Lösung überhaupt ist. Das haben wir seitdem überall kommuniziert und als Entwurfsziel auch angestrebt. Jetzt hat sich das aber anscheinend in ein Dogma verwandelt, das nur noch Bestandsbauten sieht und keinerlei Neu- oder Umbauten mehr denken möchte. Das halte ich für zu einseitig.
„Nicht mehr denken“ nehme ich aus deinem vorletzten Satz: Hier kommen die ArchitektInnen ins Spiel. Aufklärerisch, kompetent, kreativ …
Absolut. Denn der gekonnte Umgang mit dem Bestand ist oft anspruchsvoller als der Neubau. Es ist viel architektonisches Engagement enthalten beim Weiterbauen, Umbauen, Adaptieren und Anpassen an das, was noch kommt. Und vor allem brauchst du jemanden, der den Überblick hat, der versteht, wo der Mehrwert liegt. Nicht nur, was an Materialien vorhanden ist und wie die zusammenkommen, sondern auch, wie Räume funktionieren und wie man eine Kiste zu einem Ort macht. Das kann ein Hausmeister nicht, dafür brauchst du einen Architekten.
Handwerk: Computerarbeit, informelles Miteinander … die Zukunft könnte genau so aussehen
Foto: Benedikt Kraft / DBZ
Was müssen die ArchitektInnen in der Zukunft können, wie machen sie sich überlebensfähig? Oder wie machen sie sich nicht nur lächerlich? Weil sie „nur“ gestalten wollen, aber darüber hinaus nicht weiterdenken? Die InvestorInnen werden umdenken, weil sie gezwungen werden, anders zu bauen.
„Nur“ gestalten ist schon das falsche Denken. Wir Architekten argumentieren oft aus einem vorauseilenden Gehorsam heraus, sind in Verteidigungshaltung. Wir fürchten, dass uns alle anderen eigentlich für überflüssig halten. Aber wer sonst kann Nachhaltigkeit mit Umgebungsqualität erzeugen? Wir wissen doch, dass Orte erst dann nachhaltig sind, wenn sie in erster Linie eine ästhetische Qualität haben, sonst sind diese Orte verloren. Wenn sie nur unfreundlich und grob sind, dann wird da auf die Dauer keiner sein wollen.
Kann Architektur grob sein? Sie kann grob wirken, subtil sein, negativ strahlen. Aber wer sagt uns, was grob ist? Wir? Ich schaue auf die Menge der irgendwie immergleichen Einfamilienhausträume, die sich an Klischees orientieren, die nicht meine oder deine sind, und ich denke: Wozu inspirieren diese Häuser mit Grünstreifen rundum? Vitruv ist da längst gestorben, trotz möglicher Säulen vor der Haustür.
Das eigene Einfamilienhäuschen präsentiert natürlich schon ein strukturelles Problem. ArchitektInnen sind in der Lage, das zu erkennen und sollten gute Alternativen anbieten, z. B. Wohnungen im urbanen, mehrgeschossigen Wohnungsbau, die Qualitäten haben, die Häuschen-Freunde suchen. Die Adressbildung, die relative Großzügigkeit oder den Austritt in einen Außenraum; wie kann man etwas bieten, was ähnliche Qualität und ähnliche Freiheit hat?
Das könnte eure Aufgabe als ArchitektInnen für die nächsten 10 Jahre sein.
Ja, und mehr noch, wir müssen uns auch politisch mehr engagieren. Nicht unbedingt jeder Einzelne, das auch, aber ich glaube, die Gesellschaft braucht mehr ArchitektInnen, die sich öffentlich äußern. Ich habe keine Ahnung, wie wir sonst einen Wandel in die Köpfe hinbekommen sollen, selbst aufgeklärte Partner in der Politik haben wenig Vorstellungen davon, was ArchitektInnen machen, was sie können oder wo der Mehrwert liegt, den ArchitektInnen produzieren. Die meisten denken, ArchitektInnen machen schicke Sachen für die Wohlhabenden, die sich das eben leisten können. Das mag in vielen Fällen so sein, aber ArchitektInnen machen auch gute öffentliche Räume, machen eine gute Stadt und sorgen dafür, dass wir es in den Räumen, in denen wir uns bewegen, auch aushalten können.
Ohne Handwerk auch in Zukunft keine (Modell-)Präsenz: Kleberduft, Werkzeuggeräusche und irgendwo dudelt ein Radio
Foto: Benedikt Kraft / DBZ
Ich habe das Gefühl, alle 120 000 deutschen ArchitektInnen arbeiten immer weiter und weiter und weiter. Brauchen wir nicht endlich den Cut, die Disruption?
Schluss jetzt?!
Ja, Schluss jetzt. Ich höre viele – uns leider auch – immer nur reden und reden. Auch über und von Vitruv aus. Seine Schriften leiten einen bildungsbürgerlichen Diskurs, der nicht von der Stelle kommt. Ja, inzwischen bewegt sich etwas, wir werden besser, wir werden nachdenklicher, wir werden kritischer, aber wir bauen immer noch dasselbe.
Also was uns betrifft, haben wir schon seit 30 Jahren von Projekt zu Projekt nicht mehr dasselbe gebaut. Mit dem UBA waren wir das erste Gold DGNB-Gebäude überhaupt, Experimenta war eines der ersten Diamant-Projekte. Seit den 2010er-Jahren bauen wir mit Holz und konnten uns über drei große Holzbaupreise freuen. Und jetzt testen wir z. B. in einem ersten Projekt das „Madaster“, dieses Materialkataster, das wir für ein relativ intelligentes Modell halten. Beim Woodie in Hamburg und jetzt beim Luisenblock, den Büros für die Bundestagsabgeordneten in Berlin, haben wir bereits „Design to Disassemble“ umgesetzt. Und wir arbeiten gerade noch an einem anderen Projekt, das in dieselbe Richtung geht. Wir experimentieren also mit verschiedensten Sachen, die wir vor 30 Jahren so noch nicht angefasst hätten.
Hast du das Gefühl, dass eure Haltung die einer breiteren Bewegung ist?
Ansatzweise schon. Ich habe das Gefühl, dass alle – wie du gerade sagst – den Druck spüren, dass jetzt etwas passieren muss, dass wir jetzt etwas machen müssen. Und ja, das kann man wohl kaum anders tun, als es einfach mal auszuprobieren. Disruption wäre etwas anderes, ich spreche eher vom Mut zum Handeln.
Mut zum Handeln ... und Veränderung: Wer sollte stärker ins Team, um Veränderungen im Bauen leichter zu machen?
Die Ausführenden vielleicht? Wir haben mit Holzbauern sehr gute Erfahrungen gemacht, wie überhaupt auch in der Zusammenarbeit mit den Firmen direkt. Tatsächlich scheinen die altbewährten Strukturen ein bisschen in der Auflösung begriffen, was ja erstmal nicht schlecht sein muss. Wir kommen mehr und mehr wieder dahin, dass wir mit wirklich kooperativen, interessierten Leuten zusammenarbeiten. Da sind wir viel schneller auf dem Punkt, wenn alle bereit sind, zuzuhören und voneinander zu lernen.
Begreifbares Forschen und Probieren: Holzwerkstoffe, Decken, Böden ...
Foto: Benedikt Kraft / DBZ
Ist das wie ein bisschen zurück in eine …
Baumeister-Situation? Bisher geistert – gestützt von der HOAI – die Vorstellung durchs Land, dass ArchitektInnen mehr oder weniger alles aufzeichnen sollen – auch die technischen Lösungen, die dann von den Firmen umgesetzt werden sollen. Dann machen die Firmen Sondervorschläge, weil sie im Detail tiefer drin sind als wir. Wäre doch sinnvoll, man würde die Planung von vornherein mit den Firmen zusammen machen. Im Holzbau ist das das A und O, egal ob Modul oder System. Gleich von Anfang an, mit offenen Büchern, damit man nicht irgendwann nach der Leistungsphase 5 aufwacht und alles wieder von vorn los geht. Da geht so viel Energie verloren! Von Geld wollen wir gar nicht reden.
Zukunft der Zunft. Vielleicht noch mal zurück zu den 19 Partnern. Wie alt sind die denn?
Der Älteste ist über 60.
Ich fragte eher nach den Jüngsten.
Die Jüngste ist um die 40.
Die Spanne einer Generation. Gibt es da Reibungspunkte?
Na klar. Das wäre doch schlimm, wenn es nicht so wäre. Die Jungen haben ihre Erwartungshaltungen und Vorstellungen und die finden manches von dem, was die Oldies vortragen, ziemlich old school. Bisher hat sich das gut ergänzt. Die Oldies haben dafür mehr Erfahrung.
Klar. Und den längeren Hebel möglicherweise.
Nach der Übergangsphase von (jetzt noch) vier Jahren sind alle gleich. Darauf arbeiten wir gerade zu.
In vier Jahren, wo bist du dann?
Hoffentlich noch nicht auf dem Friedhof.
Ich dachte auch eher in der Weltgeschichte. Anderer Arbeitsstandort!
Ich habe nicht vor, mich hier wegzubewegen.
Das ist vielleicht auch eine Aussage, ein Standpunkt. Wenn du dir etwas wünschen würdest, wohin sollten sich ArchitektInnen entwickeln?
Wenn du auf die Katastrophe im Ahrtal schaust, dann glaube ich, braucht es mehr, als nur die Ingenieurskompetenz, die ausrechnen kann, wieviel Beton ein Haus braucht, damit es beim nächsten Mal stehenbleibt. Gefragt ist die Intelligenz, die klärt, wie man dem Fluss aus dem Weg geht und trotzdem eine klare räumliche Konstellation findet. Ich bin davon überzeugt, dass die Erfahrungen und das Wissen, das ArchitektInnen haben, erstmal sehr widersprüchliche Sachen zusammenzubringen und in ein Ganzes synthetisieren können. Das können nicht so viele. Und das andere ist eine Sensibilität für Raumästhetik, für das, was die Menschen am Ende wahrnehmen werden (mit all ihren Sinnen). Diese Perspektive haben auch nicht viele.
Das Bild der Städte anderen Orts ist auch einer materiellen, substanziellen Not geschuldet. Wir könnten uns nun lange darüber unterhalten, wo wir mehr Glückliche finden: in diesen oder den dem europäischen Leitbild verpflichteten Siedlungen. Die Zukunft könnte doch bei uns auch so aussehen: Wellblechhütten, selbstredend gestaltet, stabiler, mit Raum für Intimität und fließend Wasser …
Im Prinzip hast du Recht. Ich sehe mich allerdings in der Zukunft nicht unbedingt Wellblechhütten planen oder in ihnen leben. Aber ja, wir brauchen eine einfachere Architektur. Das ist willkommen. Um diese präzise auszuformulieren, müssen wir noch eine Sprache finden. Das wird nicht die sogenannte Boheme de Luxe sein, wo die Einfachheit dann ungefähr dreimal so viel kostet wie ein normales Wohnhaus.
Was muss an der Hochschule passieren? Sollen die Alten ihre Erfahrung weitergeben? Behindert Erfahrung vielleicht auch?
An den Hochschulen bist du eingegrenzt durch die Semester. Diese relativ kurze Zeitspanne erlaubt es kaum, aus einer gewissen Oberflächlichkeit herauszukommen. Versuch einmal, den Studenten mit Schallschutz zu kommen!
Aus deiner Sicht ist die Aufgabe der ArchitektInnen heute die immer schon gleiche? BauherrInnen zu einem guten Produkt zu führen?
Architekten von heute müssen mehr als die aus den vergangenen Jahrhunderten die technischen und sozio-kulturellen Randbedingungen verstehen. Das hat auch viel mit Reduktion zu tun. Mit Suffizienz, mit Resilienz. Aber zugleich müssen wir das alles auch zu einem Gesamtergebnis führen, was Überlebenschancen hat, von dem wir ausgehen können, dass es auch zukünftigen Generationen gefällt und dass die damit umgehen können. Schon vom Maßstab, von der Großzügigkeit her.
Aber hast du nicht auch das Gefühl, dass wir mit dem Blick auf die nächsten ein, zwei, fünf Jahre feststellen, dass sich da etwas zusammenbraut, etwas sehr verdichtet, worauf wir reagieren sollten? Müssten, könnten?
Definitiv. Da stimme ich dir zu. Aber gut, ich kann dieses Zusammenbrauen auch schlicht als eine Aufgabenstellung betrachten. Wir müssen CO2-Emissionen nach Möglichkeit verringern. Wir sollten unsere Energie erneuerbar produzieren. Wir müssen mit Blick auf die graue Energie versuchen, nur die Rohstoffe zu verwenden, die nachwachsend sind und am besten solche, die CO2 speichern. Alleine das hinzukriegen, ist ja schon erstmal gar nicht so einfach.
Was muss die Zunft können, damit sie in Zukunft noch als ArchitektInnen, auch als Avantgarde, wahrgenommen wird? Als eine Berufsgruppe, die die Gesellschaft voranbringt?
Mehr experimentieren? Mehr wagen? Wir sagten es ja schon. Wir lernen ständig dazu.
Ich habe mich bis jetzt gar nicht an meine vorbereiteten Fragen gehalten, die letzte von diesen lese ich jetzt einfach mal vor: Was, lieber Matthias, antwortest du abschließend auf die Frage, welche ArchitektInnen werden wir werden müssen?
Ich glaube nicht, dass es so wahnsinnig viel anders ist als die ArchitektInnen, die wir idealerweise heute schon sein sollten. Das sind Leute, die sowohl eine Sensibilität entwickelt haben für Fragen der gebauten Umwelt als auch die Themen, die ich eben genannt habe. Wie reagieren wir auf den Klimawandel, was tun wir, um die Klimaerwärmung zu verhindern? Und wie können wir das in einen Zusammenhang bringen, den wir als Stadt gut finden? Also in anderen Worten: Wir reagieren auf Anforderungen, die sich aus der Zeit oder aus der Situation ergeben, in der wir sind und wir versuchen diese Reaktionen in Raumsituationen zu synthetisieren, die wir für zukunftsträchtig und für eine Bereicherung halten. Egal, ob das nun bestehende oder neue Raumsituationen sind oder auch eine Mischung von beidem. Das ist zwar recht abstrakt, aber ich glaube, darauf läuft es hinaus.
Das heißt aber auch, dass die Zunft vielleicht aktiver werden muss insofern, dass sie sich mehr an gesellschaftlichen, an technologischen, an verschiedenen Entwicklungen aktiv beteiligen muss oder?
Also das ist klar, es wird schon – nach wie vor – viele Betätigungsfelder geben. Aber Architekten sollen nicht versuchen, die besseren Ingenieure zu sein. Ihre integrative und, sagen wir mal, generalistische oder interdisziplinäre Kompetenz wird nach wie vor gefragt sein. Das ist ein schönes Schlusswort, oder?
Das ist ein super Schlusswort.
Zeitschriften, dicke Bücher, das ganze analoge Zeug bildet in der Büro-
bibliothek einen Anker, auch für die nötigen digitalen Überflüge
Foto: Benedikt Kraft / DBZ
Mit Matthias Sauerbruch unterhielt sich DBZ-Redakteur Benedikt Kraft am 23. November 2021 in der Bibliothek des Büros Sauerbruch Hutton, Berlin.