Ein Schaufenster, eine Skulptur
Das Museum aan de Stroom in Antwerpen

Mit einem großartigen vertikalen Panorama-Boulevard eröffnet das Museum aan de Stroom in Antwerpen nicht nur wunderbare Ausblicke auf die Stadt und Landschaft an der Schelde, sondern es ist auch mit seinen 65 Metern Höhe eine neue Dominante des Stadtbildes.

Mächtig herausgeputzt hat sich Antwerpen seit den Neunziger Jahren, als man Europäische Kulturhauptstadt war. Das fängt schon im ehrwürdigen Zentralbahnhof an, dessen prachtvolle Bahnhofshalle elegant um eine 30 Meter tiefe Galerie mehrerer unterirdischer Bahnsteige erweitert wurde. Das Diamanten- und Bahnhofsviertel Meir hat ebenfalls ein neues Gesicht erhalten. Und die alten Hafendocks, die im Zuge der Scheldewanderung des Hafens viele Jahre brach lagen, verändern sich derzeit rasant mit einem Mix aus Alt und Neu in Quartiere gehobener Wohnungen und Dienstleistungen.

Den Auftakt machten Robbrecht & Daem, die 2006 einen alten Hafenspeicher für das Stadtarchiv Sint Felix sensibel wie effektvoll umbauten. Es folgten ein neues Büroquartier, das Teil eines neuen Europaviertels werden soll. Und Diener+Diener stellten dieses Jahr am Westkaii zwei perlmutt schillernde Zwillings­wohntürme fertig, denen weitere von Gigon/Guyer und David Chipperfield folgen werden. Und an der Gelenkstelle zwischen Antwerpens Altstadt und den alten Hafendocks erhebt sich nun ein weiteres neues Gebäude, das mit seinen 65 Metern Höhe und seiner skulpturalen Form Aufmerksamkeit erregt.

„MAS“ ist sein Name, die Abkürzung für „Museum aan de Stroom“, das aus fünf früher eigenständigen und über die Stadt verteilten Sammlungen ein neues Museum bilden will. Die recht heterogenen Bestände des früheren Ethnografischen Museums, des Nationalen Schifffahrtmuseum, des Volkskundemuseums, des Kunsthandwerkmuseums Vleeshuis als auch eine Sammlung präkolum­bianischer Kunst sollen hier ab Mai 2011 nicht mehr getrennt, sondern zu einem integralen Museum der Geschichte Antwerpens und seines Hafens vereint werden. Doch 1999, im Jahre des Architekturwettbewerbs und auch noch später war seinem Architekten Willem Neutelings nur die Absicht und Flächenvorgaben bekannt, aber nicht das Museumskonzept.

Frei konnte er es entwerfen, sehr frei entwarf er es denn auch. Nicht wie sonst vielleicht üblich plante er in die Horizontale, sondern in die Höhe. Einen 10-geschossigen Solitär mit öffentlich zugänglicher Dachterrasse schlug er als einziger Architekt vor. Und baute ihn; auf dem „Eilandje“ zwischen Willem- und Bonapartedok, wo bis zum einem Brand im 19. Jahrhundert das Hansehaus stand. Der Clou? Die Ausstellungsebenen mit anliegendem Galerieraum sind geschossweise um den Kern jeweils um 90 Gradgedreht. Das lässt die luftig verglasten Galerien um den Turm herumwandern, und man hat von Etage zu Etage herrliche Ausblicke auf immer eine andere Seite von Antwerpen. Mäandrierend wurde dafür seine Fassaden gestaltet, mit mächtigen, abgetreppten Sandsteinbändern und großen wellenförmigen Glaspaneelen, welchean den Gebäudeecken eine beeindruckende Höhe von 11 Metern erreichen.

Zur Stadtseite ist Neutelings Turm eine leicht versenkte Plaza vorgelagert, die der Künstler Luc Tuymans mit einer Interpretation seines Gemäldes „Dead Skull“ pflasterte. Ein Gebäudestrang mit den vier Pavillons der Sponsoren fasst den Weg zum Eingang des Museums, der sich erstaunlicher­ weise von der Stadt abgewandt, fast verstecktin einer zurückspringenden Ecke einfindet. Im Wettbewerb war er noch gegenüber den Pavillons positioniert, doch aufgrund einer zukünftigen Straßenbahnlinie fürs neue Europaviertel verschob man den Eingang zur Hafenseite; was der Qualität des Entrees nicht schadete.

Den Weg zum Museum werden die Besucher wohl kaum verfehlen angesichts eines Projektes, welches durchaus auf den Bilbao-Effekt setzt. Wo findet man schließlich einen solchen vertikalen Boulevard wie beim „MAS“,der auch außerhalb der Museumsöffnungszeiten öffentlich zugänglich sein soll? Und auch seine Architektur kann sich dem Vergleichmit Bilbao stellen. Das Patchworkmuster seiner Hülle aus handgeformten indischen Sandsteinplatten wurde computergestützt entwickelt. Im Format von 100 x 60 cm und in vier Schattierungen – auch nur gebrochen und nicht poliert – lassen sie trotz ihrer großen Flächen ein sehr zartes Relief entstehen, das mit 3185 Aluminiumhänden, dem Wahrzeichen Antwerpens, überzogen wurde – flämisch verspielt ganz im Sinne der überbordenden Form- und Symbolwelten eines Peter Paul Rubens, des bekanntesten Künstlers Antwerpens.

Kontrastvoll heben sich die Sandsteinplatten von den vertikalen Wellen der Glashaut ab, die den Verlauf des Boulevards von außensichtbar machen und im wechselnden Spiel von Licht und Schatten an Wassertropfen erinnern. Gemeinsam mit dem Glasspezialisten Rob Nijsse vom Ingenieurbüro ABT, der schonmehrfach mit Rem Koolhaas arbeitete, entwickelte Neutelings eine atemberaubende Glashaut. 5,50 m hoch und 1,80 breit sind ihre Standard-Elemente, die an den Gebäudeecken ganz ohne Rahmen aufeinandergestapelt wurden. 12 mm dick und mit 60 cm Tiefe der Wellen tragen sie sich selbst – und sind mit kaum sichtbaren U-Profilen miteinander verbunden. Nur für Windlasten wurden zum horizontalen Lastentransfer an ihren Innenseiten schwere Metallketten – an den Gebäudeecken für maximal 250 kg/qm Windlast – angebracht wie auch zur Absturz- und Aufprallsicherung der Besucher ein Geländer.

Das Haus selbst besitzt ein Kerngehäuse aus Ortbeton mit einer Grundfläche von 12 x 12 Meter, von dem völlig stützenfrei nach dem „Milchkannenträgerin-Prinzip“, so der Architekt, mit Doppel-T-Trägern die Decken zur Hülle gespannt wurden, während im Kern­gehäuse derzeit noch unverkleidet geschoßhohe V-Träger die Tragkonstruktion dominieren. Die Außenwände der Kerngehäuses zum Boulevard wurden jedoch mit aufwändigen Betonfertigteilen (6 m x 1,80 m) gebaut, die eine gelbe Pigmentierung und 50 000 sichtbare Schrauben als Dekor erhielten. Mit einer Abdruckmatrize vertikaler Holzbretter erhielten ihre Innenseiten zudem noch eine weitere gelungene Veredelung, die rau wirkt und dennoch glatt ist. Ein erstaunlicher Aufwand angesichts der Tatsache, dass die weitere Ausstellungsarchitektur allein in den Händen von B-Architecten aus Antwerpen liegt und viele dieser Oberflächen bis zur Eröffnung des Museums wohl hinter Verkleidung verschwinden werden.

Der konzeptionellen wie materiellen Klarheit von Neutelings Architektur tut dies kein Abbruch. Bezaubernd ist sein vertikaler Boulevard, der einmal um und dann durch das Gebäude schneidet, breite Rolltreppen auf weite Terrassen folgen lässt. Spiralförmig schraubt sich hier der Besucher allmählich nach oben. Möglich machte dies die ständige 90 Grad-Verdrehung der nahezu gleichen Grundrisse von Etage zu Etage. Neutralen Boxen ähnelt so das Innere, die für einen unbekann­ten Inhalt gebaut wurde. Und an Boxen, genauer an gewaltigen gestappelten Containern fühlt man sich auch im Anblick des Gebäudes erinnert, wenn man von Weitem das Haus erblickt. In Szene setzt sich hier Architektur und inszeniert sollen hier auch die Inhalte des Museums werden, die dem Grundschema eines Raumes der Einführung, des Fokus, des Whow!, der Konzentration und am Endeder eigenen Spuren folgen sollen.

Viel Virtuelles und viel Interaktion will man bieten, weshalb viele Exponate ins Depot wandern werden. Nur die Themenbereiche will oder kann man derzeit schon skizzieren: Peoples & Power, World City, World Port und Life and Death. Im ersten Stockwerk arbeitet bereits die neue Museumsverwaltung, im zweiten wird ein Teil des Depots öffentlich zugänglich gemacht und eine Etage dient Wechselausstellungen. Ein gehobenes Café im Erdgeschoss und ein 2-Sterne-Restaurant mit mietbarem Veranstaltungsraum runden das Museumskonzept ab, das ganz aufEvent und Genuss setzt. Erleben, nicht studie­ren soll man hier die Exponate, was durchaus einem Trend neuer Museen entspricht,die nach dem allmählichen Aussterben der Bildungsbürger zunehmend auf visuelle und körperliche Attraktionen setzen. Und hier enttäuscht das „MAS“ an keiner Stelle.

Dazu passt auch das Klimakonzept des Hauses, dessen Boulevard als Außenraum konzipiert wurde, der auf eine Temperaturspanne von 12 bis 30 Grad Celsius angelegt wurde. Als Wärme- und Kältepuffer soll dieser Zwischenraum fungieren, der seine gewaltigen Mengen an Beton und Naturstein als Speichermassen nutzen will und über einemechanische Belüftung Wärme bzw. Kühle von oder ins Kerngehäuse führen wird. In den Decken laufende Wasserrohre wurden zudem über Wärmetauscher an die natürliche Speichermasse des nahen Hafenwassers angebunden, um zusätzlich Energiekosten zu minimieren. So wurden die Museumsräume auf eine Basistemperatur von 22 Grad Celsius und 55 Prozent Luftfeuchte geplant – schließlich wird es sich hier nicht um ein Museum mit kostbaren Tafelbildern handeln.

Mit dem MAS hat Antwerpen ein ambitioniertes neues Stadtzeichen gewonnen, das gewiss viele Besucher zur flämischen Metropole bringen wird. Selbst wenn späterhin sein Ausstellungskonzept nicht überzeugen sollte, die öffentliche Promenade über den Dächerhorizont Antwerpens wird wohl kaum einer auslassen. Seine ungewöhnliche Architektur, die viele Deutungen zulässt, die nicht eindimensional, sondern vielschichtig und detailreich ist, macht jedenfalls eine Reise nach Antwerpen wert, zu einer Stadt im Aufbruch.

Baudaten

Objekt: Museum aan de Stroom

Standort: Hanzestedenplaats, Antwerpen/B

Bauherr: Stadt Antwerpen

Architekten:

Neutelings Riedijk Architects, Rotterdam/NL

Tragwerksplanung:

Bureau Bouwtechniek, Antwerpen/B

Konstruktion: ABT België, Antwerpen/B

Bauphysik: Peutz bv ingenieuze adviseurs, Mook/NL

Gebäudetechnik: Marcq & Roba, Brüssel/B

Baubeginn: Oktober 2006

Fertigstellung: Februar 2010

Projektdaten

Gesamtfläche: 19 557 m²

Baukosten: 33 409 000 €

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