Frédéric Chaubin und seine Zwischenzeitenarchitekturfunde
www.fredericchaubin.com

Es geht um die Neuerfindung von Geschichte, oder genauer, um die Schaffung von Geschichte überhaupt. Denn dort, wo keine Geschichtsschreibung ist, ist zwar Geschichte vorhanden, man kann sie nur nicht sehen. Oder noch mal genauer: Man könnte sie sehen, wenn man wüsste, was es zu sehen gäbe.

Der Fotograf und Chefredakteur des französischen Lifestyle-Magazins „Citizen K“, Frédéric Chaubin, reiste Anfang der Neunziger in den wilden Osten. Hier, in Georgien wollte er ein Interview führen mit dem damaligen Präsidenten Georgiens und ehemaligen Außenminister der UdSSR, Eduard Schewardnadse. Weil Chaubin noch Zeit hatte und auf einem Flohmarkt einen Fotoband zu georgischer Architektur durchblätterte, der ihm zwei „Kuriosa“ zeigte, zog er noch schnell los, sich diese anzusehen. Das war der Anfang einer langen und immer wieder neu aufgenommenen Foto- und Entdeckungsreise in auch heute noch unbekannte Regionen der Weltarchitektur. Deren besondere Geschichte und Geschichten eine Architektur hervorgebracht haben, die Chaubin als Ausdruck eines im Niedergang begriffenen (Sowjet)Systems versteht. Und dessen Wimpernschlagepoche er als das vierte Zeitalter der Sowjetarchitektur bezeichnet (nach Avantgarde, Zuckerbäckerstalinismus und Rationalismus); dieser vierte und letzte Abschnitt der modernen sowjetischen Architekturgeschichte geht zeitgleich mit dem Aufkommen des „Kontextualismus“ einher. Der wiederum, so jedenfalls Chaubin, habe ein Wesentliches dazu beigetragen, die dirigistischen Strukturen der Nomenklatura aufzuweichen, lokale Befindlichkeiten und eben
lokale Geschichte wieder aufleben zu lassen. Damit folgte die Architektur in den letzten 15 Jahren des längst ökonomisch und sicherlich auch ideologisch in Schieflage geratenen Riesen Sowjetunion zweierlei Bewegungen: einmal der der Freiheit von Zentralismus durch Rück-
bezug auf Tradition (auch die der Moderne); zum zweiten den Gesetzmäßigkeiten der
Hybris, die vor dem tiefen Sturz eine häufig auch bizarre Blüte in den Künsten aber auch in den Makroökonomien zeitigt. Architektonisch betrachtet hat Chaubin genau in diese Entwicklung hineingezielt und eingesammelt, was die Kamera hergab (in dem bei
Benedikt Taschen, Köln, erschienenen Foto-Band von Chaubin, dem wir mit freundlicher Genehmigung die hier gezeigten Objekte entnehmen konnten, präsentiert dieser 90 Bauwerke aus 14 ehemaligen Sowjetrepubliken, die genau diese Blütezeit der „Kuriosa“ zwischen 1970 und 1990 einfangen).

Gefunden/gesammelt hat Chaubin das
futuristisch konstruktivistische Sanatorium, Druschba, den expressionistisch verortbaren Hochzeitspalast in Tiflis oder das Technologische Institut in Kiew, eine auf Normalarchitektur lagernde (gelandete?) fliegende Untertasse. Er fand Kirchen und Polittempel, Er-
holungsheime und Sportarenen oder Denkmäler, wie das im litauischen Kaunas, das der Künstler Alfonsas Ambraziunas auf eine Hügelkante platzierte. All diese teils skurilen wie exotisch anmutenden Architekturen könnte man als Signale und Vorboten lesen für den dann folgenden Niedergang einer Weltmacht. Hier, im Westen, ereignete sich dieser weniger deutlich angekündigt. Das Platzen der gigantischen Spekulationsblase am (us-amerikanischen) Immobilienmarkt wurde nicht von einer unübersehbaren Produktion gigantischer, futuristisch anmutender Wohnmaschinen angekündigt. Ganz im Gegenteil floss das Bankengeld in die Spießerträume des verarmten Mittelstandes vom eigenen Heim mit Pool und Doppelgarage. Man sollte also die Kuriosa des Herren Chaubin in ihrem Wesen analysieren: Größe, Ornament, Konzentrizität, Dichte, Gleichgewicht trotz hoher Dynamiken etc. Dann schauten wir nach solchen Bauten; sähen wir sie in größerer Menge wachsen, könnte das nichts Gutes bedeuten! Es sei denn, wir sähen das Ende zugleich als Anfang und damit das Ende als zweite Chance. Be. K.

Der ganze Frédéric Chaubin zu diesem Thema in dem bei Taschen erschienen Ausstellungskatalog „Frédéric Chaubin. CCCP – Cosmic Communist Constructions Photographed. Benedikt Taschen, Köln 2011, 39,99 €, ISBN 978-3-8365-2519-0

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