Großartige Möglichkeiten: Neue Nationalgalerie, Berlin
Knappe sechs Jahre lang war der Kunsttempel Neue Nationalgalerie am Kulturforum in Berlin geschlossen. Sechs Jahre gab es keine Kunstschau, keine Inspiration und keine Möglichkeiten, dem Kunstmarkt tief hinter die Kulissen zu schauen. Haben Sie das vermisst, einen Verlust gespürt? Denn es gab sie ja, die legendären Ausstellungen, die gerade auch in diesem wundersamen und wunderbaren Allerheiligsten und Glastempel unterm Stahlblechdach zu bestaunen waren. So die großartige Lichtinstallation von Jenny Holzer 2002, die mit ihren bernsteinfarben leuchtenden Textlaufbändern die Glashalle von oben surreal hell machte, eine Laterne, die in den umliegenden Stadtraum strahlte. Oder, acht Jahre zuvor, die von Rebecca Horn, insbesondere wegen des kopfüber unter das Stahldach gehängten Konzertflügels, der in Minutenabständen immer wieder zu explodieren schien. Dass das tonnenschwere Werk an einem schmalen Haken hing, der wiederum in ein Gewinde geschraubt war, das, so Martin Reichert, Partner bei Chipperfield Architekten im Rahmen einer ersten Baustellenführung, „locker einen ganzen Panzer in der Luft hält“, das war mir 1994 nicht bekannt. Und eigentlich auch nicht von Interesse angesichts der Dramatik des „Concert for Anarchy“, das die Künstlerin hoch in der Halle und vor der im Abendlicht schimmernden Stadtsilhouette dramaturgisch perfekt in Szene setzen konnte. Die Gewindeaufnahmen – in jedem Kreuzungspunkt des Stahlrasters ist eine untergebracht – sind eine Idee des Architekten des Kunsttempels auf hohem Sockel, Ludwig Mies van der Rohe. Ihm schwebte eine ganze Menge vor, als er das bis heute überzeitlich zeitlos skizzierte Ausstellungsgehäuse mitten in West-Berlin plante. „Großartige Möglichkeiten für neue Herangehensweisen“ sah er auf die Ausstellungsmacher zukommen, schwebende Objekte, kinetische Skulpturen, wie die des zu Mies‘ Zeiten berühmten und längst in die Nomenklatur der Kunstgeschichte eingegangenen Alexander Calder, mit dem das Ausstellungshaus nach der langjährigen „Grundinstandsetzung“ in drei Phasen im August 2021 wiedereröffnen will. Dann könnte der Bodenaushub für das an dieser Stelle umstrittene Museum des 20. Jahrhunderts von Herzog & de Meuron direkt gegenüber abgeschlossen sein.
Überhaupt die Fassade, ein Stahl-/Glaswunder unter dem Dachwunder
Mies hat die Eröffnung seines Kunsttempels – einziger Bau von ihm nach 1945 in Deutschland – am 15. September 1968 um ein Jahr überlebt. Der Zeremonie konnte er, krankheitsbedingt, aber nicht mehr beiwohnen. Die Bauarbeiten begannen im September 1965. Zwei Jahre später wurde das Dach, ein Trägerrost von zwei sich rechtwinklig kreuzenden Balken mit je 19 geschweißten Stahlträgern, in einem heute kaum denkbar spektakulären Akt hydraulisch vom Boden und in die Höhe gestemmt, bevor es auf die dann senkrecht gestellten acht Stahlstützen abgesenkt wurde. Mies hatte in dem ersten Entwurf die Dachscheibe noch auf vier, deutlich weiter innen stehende Stützen geplant. Frei Otto, hier zu Rate gezogen, setzte die Stützen nach außen und verdoppelte ihre Zahl. Die jetzt acht Stützen tragen insgesamt rund 1 250 t Stahl, plus Dachdeckung.
Nach rund 50 Jahren müsse man eben ein Haus sanieren, so kommentierte die Präsidentin des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung BBR, Petra Wesseler, im zweiten Jahr der Grund-instandsetzung die umfassenden und durchaus kostspieligen Arbeiten. 50 Jahre, in denen es nur Reparaturen gegeben hatte, Flickarbeiten an einem ikonischen Kunsttempel. An seinen Rändern, dort, wohin vielleicht nur noch die Angestellten tagtäglich ihre Wege über die schon markierten Teppichflächen gehen, wurde es unansehnlich, unaufgeräumt, gab es Stillstand. 50 Jahre sind ein halbes Jahrhundert. Das ist extrem lang für ein Gebäude, mit dem sein Architekt so vieles gewagt hat, Details probierte, die nicht erprobt waren. So waren massiv erscheinende Fassadenpfosten, die aber aus zwei L-förmigen Blechen geschweißt waren, mit rostbraunem Wasser gefüllt.
Überhaupt ist die Fassade − das Glaswunder unter dem 65 x 65 m großen, geschweißten Dachwunder − eine Glashaut von höchster Transparenz und Reflektionskraft: Innen und Außen vereinigen sich hier auf einer Ebene, die Kunst drinnen und der Himmel über Berlin draußen. Damals, vor der Grundinstandsetzung, waren eigentlich alle der zu Mies‘ Zeiten schon übergroßen Scheibenformate (3,43 x 5,40 m) gesprungen und durch zwei miteinander verklebte Formate ersetzt. Die großen Scheiben finden sich im oberen Bereich der Pfosten-Riegel-Konstruktion aus geschweißten Vollstählen, die nicht dafür gemacht war, die Bewegungen des Hauses in der Scheibenebene zu neutralisieren. Neben der Spannung im Glas durch thermische Verformung arbeitete auch das Dach mit seinen zig Metern Spannweite gegen die gerade mal nur 12 mm dünne Einscheibenglashaut. „Die Verbindung von Dach zu Fassade war von Anfang an eine durchlaufende Schwert-/Scheide-Konstruktion als gleitender Anschluss“, so der Projektleiter Daniel Wendler bei Chipperfield, doch das Gleiten und damit Ausweichen geschah nur in der Vertikalen. Gleichzeitig beulte der Flachstahl in der geschweißten Führungsnut aus, was wiederum die Ausdehnung der Fassade in der Horizontalen erschwerte. „Wesentliches Ziel in der Grundinstandsetzung war es“, so Wendler, „die Fassade so zu modifizieren, dass sie sich in einem definierten Rahmen bewegen kann, ohne Schaden zu nehmen.“ So wurde das Schwert durch Schwertkurzstücke ersetzt. An der Stelle, wo die Führung gleichsam unterbrochen ist – von außen durch geschweißte Bleche kaschiert –, werden je Fassadenseite drei Pfosten durch neue ersetzt. „Wir nennen sie Dehnpfosten“, so Wendler. In diese ist eine Dehnungsfuge eingebaut, welche die größten Spannungen aus der Konstruktion nimmt. So wurde jede Fassadenseite in vier Dehnfelder unterteilt, womit sich die einzelnen Einheiten, aber auch das Ganze, freier bewegen können. „Die Konstruktion dieses Bauteils ist sehr anspruchsvoll, da es neben der geforderten Beweglichkeit auch Lagestabilität sicherstellen muss – hier leisten kleine Federpakete die nötige Arbeit.“ Zusätzlich werden die vier Fassadenecken über die Verglasung schubsteif ausgebildet.
Jetzt sind die Scheiben doppelt dick, als Zwei-scheiben-Verbundglas normgerecht, aber noch immer nicht als Dämmverglasung ausgeführt. An- und Durchsicht sind so unverändert. Allein der Sicherheitsaspekt wurde bedient, musste bedient werden; das Haus hätte schon aus diesem Grund längst geschlossen sein müssen. Wahrscheinlich war die drohende Schließung auch Anlass, die Grundinstandsetzung bereits 2014 zu starten.
Teppichboden, Raufaser und Möbel als Ausstellungsstücke
Neben der Glasfassade, die einen wesentlichen Teil dazu beiträgt, den Kunsttempel so sein zu lassen, wie er ist – nämlich transparent, leicht, strahlend –, gab es Betonsanierungarbeiten an den Decken. Auch die hintere Wand im Skulpturengarten musste komplett erneuert werden. Die abgehängte Decke wurde erneuert und dort, wo das leicht angepasste Raumprogramm es zuließ, offengelassen. So kann man die durchgehend vorhandene Kassettendecke jetzt in der Garderobe (ursprünglich Archivraum) unter frischem Putz bewundern.
Lange wurde darüber gestritten, ob der Teppichboden (als neuer, ähnlicher) wieder Einzug halten durfte in den Ausstellungssälen im UG. Doch der Horror für Ausstellungsmacher, die sich mit Kunst des 20. Jahrhunderts befassen, hatte sich dem Motto „soviel Mies wie möglich“ unterzuordnen; es gibt ihn also wieder. Auch die Raufasertapete, auch ein paar Möbel, die Ludwig Mies van der Rohe für das Museum entworfen hat. Sie werden wohl neben den eigentlichen Schreibtischen der Kuratoren stehen und: Anfassen verboten!
Es gibt eine neue Klimatechnik, die das auf den Scheiben herunterlaufende Kondenswasser im Glastempel vermeiden helfen soll. Der Ansatz, Ausstellungen saisonal zu planen, also im Winter keine Papierarbeiten, keine Großausstellungen mit Publikumsandrang weit über dem Durchschnitt, sollte beachtet bleiben, so Martin Reichert bei der letzten Führung durch den Bau. Allerdings hätten die Hausherrn nun die Möglichkeit, durchgängig auch anspruchsvollste Kunst überall im Haus zu präsentieren.
Neu ist eine Rampe auf der Südseite des Sockels, die mit einen Besucherfahrstuhl, der sich in den ehemaligen Garderobeneinbauten versteckt, für Barrierefreiheit sorgt. Neu ist ein rund 600 m² großer Depotraum unterhalb der Eingangstreppe, der die Bestandssammlung wieder komplett ins Gebäude zurückholt, Lagerflächen für Leihgaben zur Verfügung stellt und zudem Räume an anderen Orten wie die schon genannte Garderobe möglich macht.
Es gab natürlich Verluste
Sechs Jahre war die Neue Nationalgalerie geschlossen, nun wird sie wohl im August wiedereröffnen. Mit im Raum schwebenden Arbeiten von Alexander Calder (mit auf schwebenden Tafeln montierten Arbeiten Piet Mondrians wurde 1968 eröffnet). 35 000 Bauteile haben dann eine neue, zumindest gereinigte Oberfläche; so viele wurden in der Phase 1 demontiert und in umliegenden Hallen und Werkstätten bearbeitet und gelagert. Dabei war klar, dass beispielsweise sämtliche Verkleidungen aus Pressspan ersetzt wurden, auch, weil sie schadstoffbelastet waren. Die komplette Beleuchtung wurde auf LED umgestellt. Auch hier gab es natürlich „Verluste“. Geklebte Oberflächen, die nicht mehr zu trennen waren, landeten ebenfalls auf der Deponie. Doch das Meiste, so Martin Reichtert, konnte erhalten und wiedereingebaut werden. Von 101 Mio. € Sanierungskosten plus 9 Mio. € Risikoabdeckung war vor zwei Jahren noch die Rede gewesen, nun sind es 140 Mio. € geworden.
Wenn 2020 alle Arbeiten abgeschlossen sind, werde, so David Chipperfield in Phase 2 der Arbeiten, die Neue Nationalgalerie ein wenig frischer ausschauen, mehr nicht. Das klang damals wie zu wenig gewollt; heute ist man glücklich, dass es so geworden ist: frischer, aber immer noch mit ganz viel Patina. Die ist zwar nicht zu sehen, aber bei jedem Schritt durch das Haus wahrnehmbar. Und jetzt, im 21. Jahrhundert angekommen, kann die Neue Nationalgalerie zeigen, dass sie es kann, wie ihr Architekt damals prophezeite: den Ausstellungsmachern „großartige Möglichkeiten für neue Herangehensweisen“ anzubieten. Wir sind gespannt! Be. K.