Heftpate Wolfgang Priedemann, Berlin:

„Die Fassade könnte noch mehr“

Vordergründig betrachtet und historisch gesehen war die Gebäudehülle immer nur das gestalterische Produkt der Kubatur eines Gebäudes. Die Gebäudehülle rückte als „Fassade“ erst in der industriellen Neuzeit in den Vordergrund. Der mehrschichtige Aufbau der Gebäudehülle macht sie zu dem, was sie heute ist: eine technische Hülle mit erhöhter Beständigkeit, mit einem erhöhten Witterungs- und Wärmeschutz. Insbesondere wurde sie zum freigestaltbaren Bauteil, nahezu unabhängig von der Kubatur.

Besonders durch den Einsatz von elementierten, vorgefertigten Fassaden und ebenso bei hinterlüfteten Vorhangfassaden (sogenannte Kaltfassaden) erhielt die Fassade zunächst einfache, bautechnische Funktionen zugeordnet. An eine Integration in ein bauliches, beispielsweise energetisches Gesamtkonzept war da noch nicht gedacht. Heute denken wir dagegen an adaptive Fassaden, die polyvalente, mehrschichtige, flexible Mehrfachfunktionen übernehmen und uns ein Maximum an Behaglichkeit und Individualität versprechen.

Es erscheint absurd, dass wir der vermeintlich emotionalen Bewertung einer Behaglichkeit für den Nutzer bisher keine ausreichende Bedeutung geschenkt haben. Was bedeutet das für uns Planer, für Immobilienbetreiber oder Bauherrn? Die Immobilien­wirtschaft negiert das Thema der Behaglichkeit in der Regel mit „Das kann ich nicht verkaufen.“ Tatsächlich aber ist hier das Bewusstsein unserer aufgeklärten Gesellschaft schon weiter; wir sind uns bewusst, dass ökonomische und ökologische Themen untrennbar zusammenhängen.

Ein Negativbeispiel: In den 1980er-Jahren wurde eine Bildschirmarbeitsplatzverordnung als Regelwerk kreiert, die ausschließlich den schlechten Leistungsdaten von Schwarzweiß-Bildschirmen geschuldet war. Glücklicherweise wurde diese Qual des verdunkelten Arbeitsplatzes nach und nach in Verbindung mit dem Fortschritt der Technik aufgegeben und die Blendschutzanforderungen sinnvoll modifiziert. Heute bedienen wir unseren Laptop im Freien auf der Parkbank, ein wenig von der Sonne abgewendet, aber bei voller Tageslichtausleuchtung.

In die Zukunft gedacht muss die Gebäudehülle sehr bald einem urbanen, städtischen Leben dienen. Sie sollte innerstädtische Übertemperaturen, Lärm- aber auch Schadstoffbelastungen reduzieren helfen. Energieabsorbierende und -generierende Fassaden im Gegensatz zu energiereflektierenden Fassaden bieten weitere Potentiale für eine verträgliche Stadtatmosphäre. Die nächtliche Abkühlung der Städte hängt u. a. vom Absorbtionsverhalten der Fassaden ab. Ebenso sind Schallabsorbtionsflächen sinnvollerweise an aufsteigenden Bauten zu realisieren, d. h. alle Flächen, die im Verkehrsfluss schall­reflektierend wirken, sind zu schallabsorbierenden Oberflächen zu wandeln. Sie müssen die gefürchteten akustischen Rückreflektionen mindern und dem urbanen Raum eine neue Aufenthaltsqualität verleihen. Stadtluftverbessernde Maßnahmen durch beschichtete, textile Fassaden oder chemisch aktive Fassadenbeschichtungen können die Lebensqualitäten zusätzlich steigern.

Die vermeintliche Vordergründigkeit in der Planung von Fassaden muss aufgelöst werden. Physikalisch wirksame Funktionen sind so auszuschöpfen, dass der Nutzer unmittelbar in den Genuss einer neuen Behaglichkeit kommt:

– mit gleichen Oberflächentemperaturen an den Raumoberflächen

– mit gestreutem Diffuslicht

– mit Frischluft

– mit einer guten Vorschalldämpfung der eintretenden Frischluft

– mit einem guten Außenbezug über eine transparente Fassade

– mit „schaltbarer“ Privatsphäre – trotz transparenter Hülle

Das Resümee: Der Mensch adaptiert städtische und klimatische Belastungen zu Lasten seiner Gesundheit – die Fassade hat ihren möglichen Beitrag in diesem Wirkmechanismus noch nicht ausreichend geleistet.

Der Ingenieur

Dipl.-Ing. Wolfgang Priedemann ist Maschinenbau­ingenieur und schloss sein Studium an der
TU Wuppertal ab. Heute ist er Geschäftsführer der priedemann fassadenberatung sowie des Facade-Lab-Kompetenzzentrums zur Forschung und Entwicklung in Großbeeren/Berlin und fungiert inzwischen als Manager und Berater. Er gründete 1993 in Berlin das Unternehmen priedemann, dessen Leistungsspektrum sämtliche Aspekte der ganzheitlichen Fassaden­planung und -entwicklung umfasst.

www.priedemann.de

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