Immeuble Verdeaux, Renens/CH
Ebenso umstritten wie preisgekrönt ist ein Mehrfamilienhaus an der Rue de Verdeaux in Renens bei Lausanne vom Architekturbüro Dreier Frenzel. Der Bau zeigt, wie trotz eines engen planerischen Korsetts eigenständige und überzeugende Architektur entstehen kann.
Im August 2018 fragte die Pendlerzeitung „20minutes“ ihre Leserinnen und Leser nach den zehn hässlichsten Gebäuden der Schweiz. Auf Platz sieben fand sich der einzige Neubau, inmitten von Banalitäten aus den 1970er-Jahren: das im April 2018 fertig gestellte Mehrfamilienhaus an der Rue de Verdeaux in Renens vom Architekturbüro Dreier Frenzel. Vier Monate später vergab das Zürcher Architektur- und Designmagazin „hochparterre“ die „Hasen“, seine jährliche Auszeichnung für die besten Realisierungen in den Bereichen Architektur, Design und Landschaftsarchitektur. Der silberne Hase in der Kategorie Architektur ging an: das Immeuble Verdeaux in Renens.
Verbinden statt abgrenzen
Der fünfgeschossige Sichtbetonbau liegt auf einem dreieckigen Grundstück, die vielen Auskragungen – Balkone und Treppenläufe – lassen es kaum zu, das eigentlich einfach geschnittene Volumen auf einen Blick zu erfassen. Sofort erkennbar hingegen sind die Gemeinsamkeiten mit der benachbarten Bebauung: Die roten Markisen sowie das Mansarddach passen zu den Bürgerhäusern des 19. Jahrhunderts – einfach in Sichtbeton. Die Eleganz und Leichtigkeit dieser zeitgenössischen Interpretation überzeugt.
Beim Grundstück handelte es sich um eine Restparzelle, die Nachfahrinnen einer italienischen Einwandererfamilie gehört. Die beiden Erbinnen wünschten sich darauf ein Renditeobjekt – keine einfache Aufgabe, hält man sich die knappe Größe des Grundstücks und seine dreieckige Form vor Augen. Erschwert wurde das Ganze noch durch die großen Grenzabstände, die eingehalten werden müssen, falls eines Tages die Rue de Verdeaux auf vier Spuren erweitert werden sollte. Letztendlich blieben 145 m² bebaubare Grundfläche. Zwei Architekturbüros waren mit ihren Ideen bereits gescheitert, als sich die an baulicher Verdichtung interessierte Gemeinde einschaltete und den Bauherrinnen einige Büros nannte, die Erfahrung mit ähnlich komplexen Projekten gesammelt hatten.
Dreier Frenzel reizten mit ihrem Vorschlag die Grenzen des Grundstücks maximal aus. Um Fläche innerhalb der Gebäudehülle zu sparen, verlegten sie die drei Erschließungstreppen, die gleichzeitig als Fluchtwege im Brandfall dienen, spiralförmig als Auskragungen an die Außenfassade. So erhält jede Wohnung neben dem privaten Balkon noch einen semiprivaten Außenraum, eine Art vertikalen Laubengang. Dieser Gedanke ist Yves Dreier wichtig: „Bei unseren Projekten liegt uns daran, dass die Bewohnerinnen und Bewohner miteinander in Kontakt treten können, auch über verschiedene Geschosse hinweg. Die Bauten sollen eine kollektive Identität ermöglichen.“
Im Innern führt ein Aufzug direkt in die acht 2,5- bis 5,5-Zimmer-Wohnungen. Diese sind jeweils so angelegt, dass sich die Tagesräume wie eine Zange um Schlafzimmer und Bäder legen. Korridore gibt es keine. Dabei gelang es den Planern, gut möblierbare, fast ausschließlich rechtwinklige Flächen zu schaffen – trotz der dreieckigen Grundstücksform. Einer ihrer Kniffe: die beiden Spitzen am südlichen und nördlichen Eckpunkt sind jeweils abgeschnitten, was schöne, von drei Seiten belichtete Räume ergibt.
Sparen als Chance
So knapp wie die Fläche war auch das Budget: Es lag bei 2,6 Mio. Franken – inklusive Mehrwertsteuer und Honoraren. „Der Entscheid für Beton fiel aus Kostengründen und ermöglichte gleichzeitig konstruktive Vereinfachungen“, sagt Yves Dreier. „Darum liegt die lastabtragende Ebene außen, auf der Innenseite gibt es lediglich 19 cm Dämmung und eine Gipskartonwand, keine teure zweischalige Konstruktion.“ Dass die Architekten diese Idee auch umsetzen konnten, gelang nur dank der Unterstützung der Bauherrinnen, die sich explizit eine zeitgenössische Architektur wünschten. Die Eigentümer der benachbarten Gebäude hingegen gingen auf die Barrikaden, da sie eine Wertminderung ihrer Immobilien durch den benachbarten Betonbau befürchteten. Die Gemeinde unterstützte den Bau vorbehaltlos.
Die Ängste waren unbegründet. So pragmatisch wie der Entscheid für Sichtbeton, so poetisch und gleichzeitig kohärent ist die konstruktive Umsetzung: Alle Außenflächen sind aus Beton. Die 20 cm starken Außenwände sind tragende Scheiben, der Aufzugschacht im Innern ist der aussteifende Kern. In der Schweiz existiert keine rechtlich verbindliche Definition für Sichtbeton. Möglich war aus Kostengründen aber nur ein Beton Typ 2. Das bedeutete zwar eine einheitliche Betonstruktur, aber zum Beispiel keine Vorgaben zur Schalung. Und so sind die Schalungsfugen ebenso sichtbar wie die Abdrücke der Abstandhalter. Im Zusammenspiel mit den großen Fenstern und den vielen auskragenden Außenflächen wirken erstere wie Lisenen und letztere wie eine Mischung aus modernem Ornament und archäologischen Spuren. Kurz: Sie gliedern die Fassadenflächen perfekt unperfekt. Dass das Budget dann doch noch etwas gestalterischen Spielraum ließ, zeigen die breiten Fensterlaibungen aus sandgestrahltem Beton. Die Rauheit der Oberfläche kontrastiert mit der kristallinen Volumetrie, im steilen Mansarddach betont sie die Öffnungen auch räumlich, gibt ihnen Tiefe – und stellt damit wieder eine Verbindung zu den Nachbarbauten des 19. Jahrhunderts her.
Verknüpfung auf allen Ebenen
Mit dem Immeuble Verdeaux gelang Dreier Frenzel ein beindruckend konsequentes Stück Architektur; Material, Form und Konstruktion bedingen sich hier gegenseitig. Darüber hinaus schufen die Planer liebevolle Details, sowohl in der räumlichen Disposition als auch in der Gestaltung, die der Unnahbarkeit des Betons die Härte nehmen. Allen Beton-Skeptikern sei dieses Projekt wärmstens ans Herz gelegt, allen Beton-Aficionados zur Besichtigung empfohlen. Tina Cieslik, Bern
Baudaten
Objekt: Immeuble Verdeaux
Standort: Rue de Verdeaux 10A,
1020 Renens/CH
Typologie: Wohnbau
Bauherr: Privat
Architekt: Dreier Frenzel Architecture+Communication, Lausanne/CH, www.dreierfrenzel.com
Projektleiter: João Fernandes, Dreier Frenzel Architecture+Communication
Mitarbeiter: Yves Dreier, Eik Frenzel,
João Fernandes, Marie-Cécile Simon
Bauzeit: 2016 – 2018
Fachplaner
Bauingenieur: Structurame SA, Genf/CH
Tragwerk: Dreier Frenzel Architecture+Communication, Lausanne/CH
Projektdaten
Gebäudevolumen (SIA 416): 2 236 m³
Geschossfläche (SIA 416): 841 m²
Baukosten gesamt: 2,3 Mio. €
Energie-Standard: Minergie
Heizwärmebedarf: 17,7 kW/m² (64 MJ/m²)
Wärmeerzeugung: Solarthermie, Gas
Hersteller
Dämmung: Swisspor Holding AG,
Fenster: Finstral AG, www.finstral.com
Sonnenschutz: Kästli & Co. AG,
Türen/Tore: Brunel GmbH, www.brunel.de
Heizung: Viessmann Werke GmbH & Co. KG,