Kooperative Vorsorge auf dem Land

Wie können sich Orte in ländlichen Gebieten besser miteinander vernetzen und so für eine bessere soziale Versorgung garantieren? Und wie unterstützt die räumliche Gestaltung neue soziale Angebote? Diesen und anderen Fragen widmet sich die Internationale Bauausstellung Thüringen.

Komplexe gesellschaftliche Veränderungen bewirken, dass in vielen ländlich geprägten Regionen nicht nur immer weniger Menschen leben, auch das Verhältnis zwischen Stadt und Land, Alten und Jungen gerät immer stärker aus dem Lot. Vor diesem Hintergrund entstehen neue regionale Ko­operationen zwischen Stadt und Land, die durch Vernetzung Ressourcen bündeln. Sie engagieren sich für Mobilität, Bildung, Kultur, Wirtschaft und Soziales und stiften durch den kollektiven Gestaltungsprozess neuen Gemeinsinn. Das bindet nicht nur Menschen stärker an die Region, es fördert durch die Organisation von Wissen und Teilhabe auch das demokratische Verständnis und Selbstbewusstsein vor Ort. Dies ist umso wichtiger, je polarisierender die räumlichen Entwicklungen sind.

Gutes Leben auf dem Land

Frank Baumgarten ist Landwirt und im Vorstand der Agrargenossenschaft e.G. Kirchheilingen in Thüringen. Er lebt schon immer auf dem Land und will auch in Zukunft hier gut leben. Aber nicht nur er wird älter, auch die gesamte Region wird es. Und die Menschen werden weniger. Die Durchschnittsbürger*in ist in Thüringen mit 47 Jahren neun Jahre älter als noch im Jahr 1990. Gleichzeitig ziehen junge Menschen in die größeren Städte, den höheren Bildungsabschlüssen und neuen Berufszweigen hinterher, während die älteren vornehmlich zurückbleiben. Was aber bedeutet ein gutes Leben auf dem Land vor diesem Hintergrund? Und wie wird man hier gut alt, wenn alle anderen auch älter werden?

Diese Fragen haben sich die vier Gemeinden Blankenburg, Kirchheilingen, Sundhausen und Tottleben vor über zehn Jahren gemeinsam mit der Agrargenossenschaft gestellt und die Stiftung Landleben gegründet, dessen Vorsitzender Frank Baumgarten heute ist. Stiftungsziele sind die Umsetzung altersgerechten Wohnens und die Wiederbelebung der ländlichen Bausubstanz sowie, ganz allgemein, die Versorgung des ländlichen Raums. Kurz: Man kümmert sich um Fragen der Daseinsvorsorge und Lebensqualität einfach selbst. Mittlerweile hat die Stiftung barrierefreien Wohnraum auf innerörtlichen Brachen geschaffen, Sanierungsprojekte für leer stehende Häuser angestoßen und ein ehrenamtliches Mobilitätsangebot für ältere Menschen eingeführt.

Kooperative Vorsorge

Seit 2017 unterstützt die Stiftung Landleben den Verein Landengel e.V., der ein neues, übergemeindliches Pflege- und Gesundheitskonzept entwickelt. Die schlechtere Anbindung an die gesundheitliche Primärversorgung durch den Rückbau der öffentlichen Mobilitätsstrukturen bei gleichzeitig alternder Bevölkerung vermindern die Lebensqualität. Zusätzlich fehlen Ansprech­part­ner*in­nen. Das gemeindeübergreifende Konzept Landengel will deshalb ein neues Gesundheits-, Pflege- und Versorgungsnetzwerk in der Dorfregion aufbauen. Dazu gehören ein Landzentrum mit Kita, Tagespflege sowie verschiedenen Gesundheitsangeboten und Dienstleistungen unter einem Dach sowie „Gesundheitskioske“ als Anlaufstelle und dezentraler Treffpunkt für Versorgungsfragen und Beratungen in den beteiligten Orten.

Der Verein wird beherzt geführt und aufgebaut von Christopher Kaufmann, gelernter Krankenpfleger und Betriebswirt und mittlerweile Bürgermeister der Gemeinde Sundhausen. Mit Hilfe einer Förderung unterstützt ihn seit Januar 2019 eine Kümmerin als Landengel. Sie führt regelmäßige Sprechstunden in provisorisch hergerichteten Räumen in den jeweiligen Gemeinden durch, erarbeitet Lösungen für Probleme in den Bereichen Mobilität, Wohnen, Pflege und Gesundheit und leistet Hilfestellung bei bürokratischen Fragen. Das Vorhaben ist bis heute auf 16 Partner*innen gewachsen, der Verein zählt 250 Mitglieder*innen – Tendenz steigend. Etwa 300 Menschen werden je Quartal seitdem beraten, unterstützt und versorgt.

Doch wie kann man dieses erfolgreiche Angebot räumlich und gestalterisch nachhaltiger sichtbar machen? Wie und in welcher Gemeinde soll das Landzentrum entwickelt werden? Und was sind eigentlich „Gesundheitskioske“, die es ja noch gar nicht gibt? Um diese Fragen zu beantworten, wurden die Akteur*innen Projektkandidaten der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen. Das über zehnjährige Planungs- und Baukulturformat mit Abschluss im Jahr 2023 geht unter dem Motto STADTLAND neuen Entwicklungsansätzen nach. Hier wird an der Schnittstelle von lokal und global, Stadt und Land, urban und rural gearbeitet. Über 30 Vorhaben begleitet, unterstützt oder leitet das Team der IBA im gesamten Freistaat. Es gestaltet und moderiert die Entwicklungsprozesse ab der Phase Null für die Architektur-, Kultur- und Landschaftsprojekte, die beispielhaft Antworten auf ­gesellschaftliche und räumliche Stadt-Land-Fragestellungen entwickeln. Im Vordergrund stehen ko­­operative Zusammenarbeit, Nachhaltigkeit und Lebensqualität gepaart mit einem innovativen Gestaltungsanspruch.

Gemeinsamer Gestaltungsprozess

Kooperativ wird im Rahmen der IBA Thüringen deswegen auch weitergearbeitet. In Tischgesprächen mit den Gemeinden der Dorfregion Seltenrain, der Stiftung Landleben und dem Verein Landengel wurden zunächst Vorschläge diskutiert, die sogenannten Gesundheitskioske an den zentralen Bushaltestellen der Gemeinden anzudocken. Pasel-K Architects aus Berlin entwickelten im Auftrag der IBA Thüringen daraufhin ein Design-Manual, das diese Idee räumlich und gestalterisch untersuchte und öffentlich zur Diskussion stellte. Entstanden ist ein Konzept, das die maximal 25 m2 großen ­Kioske je Gemeinde als architektonische Familie begreift, die trotz unterschiedlicher Standorte ein zusammenhängendes Ganzes darstellen. Sie dienen jeweils als Beratungsraum genauso wie als zuschaltbarer Wartebereich für den Bus und haben eine Toilette integriert. Als Holzkonstruktion ausgeführt, wird die Bauweise je Standort und Gemeinde individuell erfolgen, um gleichzeitig neue Wege Thüringer Holzbaukulturen vorzustellen.

Die weitere Planung dazu erfolgt seit Sommer 2021 als IBA Bauhüttenprozess mit offenem Baubüro. Im Wintersemester 21/22 wird ein DesignBuild-Prozess der TU-Berlin angedockt, der wiederum den Ausbau der Bauhütte – ein leer stehendes Konsumgebäude – gemeinsam mit Student*innen und Auszubildenden zum Ziel hat. Um die Gesundheitskioske als Orte des Gemeinwohls zu etablieren und ihnen Wertigkeit und Wertschätzung zu verleihen, ist nicht nur eine gute und nachhaltige Gestaltung, sondern auch ein integrativer und sichtbarer Entwicklungsprozess identitätsstiftend.

Im Jahr 2022 werden vier Kioske fertiggestellt sein. Auch das angedachte Landzentrum könnte in wenigen Jahren einen neuen Beitrag zur Versorgung und Lebensqualität leisten. Dazu wurde aktuell eine Machbarkeitsstudie durch Atelier Fanelsa gemeinsam mit der L.I.S.T. GmbH aus Berlin erarbeitet, die Standorte, Rahmenbedingungen, Finanzierung, Trägerschaft, Betrieb und Gestaltungsregeln für das größere Bauvorhaben untersuchte und gemeinsam mit den Akteuren vor Ort erarbeitete. Die nächsten Entwicklungsschritte werden gerade vorbereitet. Im Präsentationsjahr der IBA Thüringen 2023 werden die Ergebnisse vorgestellt, die Arbeit geht jedoch weiter: natürlich kooperativ.

Kerstin Faber, M. Arch., ist seit 2014 Projektleiterin der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen STADTLAND. Als Prozessgestalterin leitet sie Projekte zu Themen der klimagerechten Stadtumbaukultur und neuen Klimakulturlandschaften, der kooperativen Gestaltung ländlicher Räume und nutzerorientierten Stadtentwicklung. Von 2003 bis 2010 war sie Projektentwicklerin der IBA Stadtumbau 2010 zum Thema schrumpfende Städte und co-kuratierte die Abschlussausstellung im Bauhaus Dessau. Von 2011 bis 2014 lehrte sie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) im Fachbereich Internationaler Städtebau. Sie ist u.a. Mitherausgeberin der Publikation »Raumpioniere in ländlichen Regionen« gemeinsam mit Prof. Philipp Oswalt und Gastredakteurin des Arch+ Magazins »Stadtland. Der neue Rurbanismus«.

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