Lilienthalhaus,Braunschweig
Was könnte besser zu einem Gebäude an einem Forschungsflughafen passen als ein sehr leichtes Membrandach? Aus dem geringen Gewicht der ETFE-Folienkissen resultierte beim Braunschweiger Lilienthalhaus ein entsprechend schlankes Tragwerk für die Atriumsüberdachung – realisiert vom Büro ARCHITEKTENRÜDIGER und den Ingenieuren von formTL.
Der Luftfahrtpionier Otto Lilienthal hätte sich sicherlich für die Überdachung des Atriums im nach ihm benannten Lilienthalhaus begeistern können, wurde sie doch als Leichtbaukonstruktion ausgeführt und passt damit perfekt zu den Themen, die Flugzeugbauer beschäftigen. „Mit dem eröffneten Neubau bekam der Forschungs- und Technologiestandort am 1936 eröffneten Braunschweiger Flughafen endlich ein echtes Zentrum“, erläutert Ivan Binder als Vertreter der Projektentwickler, der Volksbank BraWo Projekt GmbH, auf einem Rundgang durch das Gebäude. Bei Beginn der Planung war nur ein einzelner Neubau vorgesehen gewesen. Aber der aufgrund eines vorherigen Wohnungsbauprojekts direkt angefragte Braunschweiger Architekt Hartmut Rüdiger hatte gleich mit seinem ersten Konzept darüber hinaus gedacht und ein ganzes Quartier mit vier neuen Bürogebäuden und einer Neugestaltung der Freiflächen rund um die historischen, monumental-neoklassizistischen Flughafengebäude vorgeschlagen.
Hartmut Rüdiger, der ebenfalls am Rundgang durch das Haus teilnimmt, ergänzt, dass aus dem anfangs geplanten, reinen Bürogebäude schließlich ein Dienstleistungs- und Besucherzentrum geworden sei mit Büroräumen, Ausstellungs- und Veranstaltungsflächen und einem Bistro. Weiter: „Dies erklärt auch die Grundrissform des viergeschossigen Hauses, eine Kombination aus Dreieck und Tropfen. Um trotz begrenzter Bruttogeschossfläche ein genügend großes Atrium im Haus unterzubringen und gleichzeitig die Verkehrsflächen zu minimieren, hat es sich angeboten, die drei Seiten des Baukörpers auszubauchen.“
Das öffentlich zugängliche Atrium ist das Herzstück des Lilienthalhauses und dient Besuchern als Treffpunkt, fungiert aber auch als Ort für Ausstellungen und Veranstaltungen. Über eine Wendeltreppe, die die Obergeschosse erschließt, erreicht man den Galeriegang, der sich direkt unterhalb der beeindruckend leicht erscheinenden Überdachung aus pneumatisch unterstützen ETFE-Folienkissen befindet.
„Dass die Wahl auf genau diese Leichtbaulösung fiel, hatte nicht nur ästhetische, sondern auch wirtschaftliche Gründe“, fährt Ivan Binder in seinen Erläuterungen fort. „Die hohen Anforderungen an den Brandschutz in überdachten Veranstaltungsräumen hätten eigentlich zu zu hohen Kosten geführt. Da ist der Vorschlag von Hartmut Rüdiger, diese zu sparen, indem man ein Dach baue, das im Brandfall einfach verschwindet, und damit den Innen- zu einem Außenraum macht, perfekt gewesen.“ „Bei ca. 280 °C lösen sich die Folien komplett auf ohne abzutropfen. Da braucht es dann auch keine aufwendige Entrauchung mehr und das stählerne Tragwerk wird in seiner Tragfähigkeit ebenfalls nicht gefährdet“, ergänzt Hartmut Rüdiger.
„Aufgrund des sehr geringen Eigengewichts benötigt eine Überdachung mit ETFE-Folienkissen auch nur eine im Vergleich zu schwereren Glasdächern minimale Tragkonstruktion, was ein weiterer, ästhetischer Vorteil gewesen ist“, betont Architekt Rüdiger. Auch weitere Materialanforderungen wie eine hohe UV- und Lichtdurchlässigkeit, Wärmeschutz, Widerstandsfähigkeit und leichte Wartung bzw. Selbstreinigung erfüllen die Kissen aus beschichtetem Fluorpolymergewebe ohne Weiteres. Um die Konstruktion zu realisieren, wandte er sich an die Membranexperten und Ingenieure für Tragwerk und Leichtbau formTL aus Radolfzell, die bereits mehrfach ETFE-Foliendächer- und -fassaden planten, unter anderem 2013 das Tropenhaus des Botanischen Gartens im dänischen Aarhus (siehe DBZ 07 | 2014).
Pneumatisch vorgespannt
Für die Horizontalebene des 415 m2 großen Atriumdachs mit einer horizontalen Spannweite von max. 22 m entwickelten die Ingenieure ein großes Folienkissen, das aus drei 0,25 mm dünnen Folienlagen, d. h. zwei Kissenlagen besteht. „Die Herausforderung bei der Planung hat darin bestanden, die Wölbung des Großkissens so festzulegen, dass einerseits der Blick aus den oberen Büroräumen in das Atrium nicht gestört wird und gleichzeitig die rautenförmig angeordneten Seilscharen, die das Dach umschließen und die die horizontalen Zugkräfte aufnehmen, möglichst dünn ausgeführt werden konnten“, so Ingenieur Michael Schäffer von formTL bei der Vor-Ort-Besichtigung. Dabei gelte die Regel: Je stärker die Wölbung, desto geringer die auftretenden Horizontalkräfte. Als Optimum aus diesen Anforderungen hätte sich ein Kissenstich von je 2,40 m für die zwei Kissenlagen, also insgesamt fast 5 m ergeben. Erreicht wurde dies mit einem Stützdruck von 300 für die untere und 350 Pa für die obere Lage. Und gehalten wird das Folienkissen schließlich von 10 mm dünnen Stahlseilen mit einem Gewicht von insgesamt nur 700 kg.
Um erhöhte Dachlasten bei Schnee auszugleichen, wird der Stützdruck temporär auf 1 600 Pa erhöht, automatisch gesteuert von einem Schneewächter. Beim Ausfall der Stützluftanlage oder Versagen des Foliendachs legen sich die Folien auf die untere Seilschar. Die Notentwässerung erfolgt in diesem Fall über Flexschläuche und das unter dem Foliendach verlaufende, gelenkig gelagerte Ablaufrohr. Im planmäßigen Zustand entwässert das Dach dagegen frei über die Ränder auf die Dachfläche des Massivbaus.
Aufgeständert und abgespannt
Durch die aus ästhetischen Gründen und zur Entlüftung des Atriums notwendige Aufständerung des Großkissens entstanden zwischen Dach und Attika weitere Fassadenflächen, die ebenfalls mit über mehrere Fassadenachsen spannenden ETFE-Folienkissen und dazwischenliegenden Abschnitten mit RWA-Klappen realisiert wurden. Geneigte und gebogene Fassadenträger dienen dafür oberhalb der Attika als Auflager, wogegen die Seilscharen an ein umlaufendes Randrohr anschließen, das V-förmig gegen die massive Betondecke abgespannt wurde. Direkt unter dem Dach herrschen beim Vor-Ort-Termin trotz wolkenlosem Himmel und frühsommerlichem Wetter angenehme Temperaturen. Zu verdanken ist dies maßgeblich dem innen, auf die obere Folienlage aufgedruckten Muster, das den Wärmeeintrag aufgrund des verwendeten Silber-Farbtons mit hohem Reflexionsgrad auf einen angenehmen Wert reduziert.
Alle Planungsbeteiligten, Ivan Binder, Hartmut Rüdiger und Michael Schäffer sind sichtlich stolz auf die gefundene Dachlösung. Die Frage nach Wermutstropfen, auch in Hinsicht auf das gesamte Gebäude bleibt zunächst unbeantwortet: „Es gibt einfach nichts, was wir uns anders gewünscht hätten. Wenn überhaupt gibt es nur eine kleine Einschränkung: Bei Platzregen sollte man wegen der Lautstärke der aufprasselnden Tropfen Konzerte, Ansprachen oder Vorträge im Atrium lieber für eine Weile unterbrechen.“
Carsten Sauerbrei, Berlin
Baudaten
Objekt: Lilienthalhaus Braunschweig
Standort: Lilienthalpl. 1, 38108 Braunschweig
Typologie: ETFE-Großkissen-Dach
Bauherr: Volksbank BraWo, Braunschweig,
www.volksbank-brawo.de
Nutzer: Volksbank BraWo, Braunschweig
Architekt: ARCHITEKTENRÜDIGER, Braunschweig,www.architektenruediger.de
Bauzeit: Oktober 2016 – April 2017
Fachplaner
Tragwerksplaner Atriumsüberdachung: formTL ingenieure für tragwerk und leichtbau GmbH, Radolfzell am Bodensee, www.form-tl.de
Tragwerksplaner Gebäude: martens+puller Ingeni-eurgesellschaft mbH Braunschweig, www.martens-puller.de
TGA-Planer (Stützluftversorgung ETFE-Großkissen):
elnic GmbH, Rosenheim, www.elnic.de
Ausführende Firma: Temme // Obermeier GmbH, Rosenheim, www.to-experts.com
Projektdaten
Gesamtlänge: 30 m
Maximale Breite: 22 m
Spannweite: 22 m
Konstruktionsart: Seilumspanntes ETFE-Großkissen
System: Zugbeanspruchte Konstruktion, die über den Kissen-Innendruck vorgespannt wird
Anzahl der Felder: 1
Hersteller
Folienhersteller:
Nowofol Kunststoffprodukte GmbH & Co. KG,
www.nowofol.de
Bedruckung obere Folienlage:
Reisewitz Beschichtungsgesellschaft mbH, www.reisewitz-gmbh.de