Man hört nie auf, Architekt*in zu sein

New York City, 2007: Der junge Architekturstudent Evan hat ein Atelier, das von oben bis unten vollgestopft ist mit kleinen Zetteln, Bildern, Farben und interessant geformten Steinen. Das Atelier ist bei seinen Kommiliton*innen sehr beliebt, so erzählt man sich. Ständig kommen sie vorbei auf der Suche nach Inspirationsbildern oder Büchern, die sie sich ausleihen wollen. Evan ist genervt. Doch dann trifft er auf einer Vernissage Paul und Ben. Die beiden sind Internet-Fans und erzählen Evan von ihrem neuen Projekt: eine Einkaufs-App, mit der man sich Produkte merken kann, um sie später zu kaufen oder Freund*innen zu zeigen. Evan erkennt, dass diese Idee auch das Problem mit seinen Kommiliton*innen lösen könnte: als digitale Pinnwand, auf der man sich alle möglichen Bilder merken und mit anderen teilen kann.
Der junge Architekturstudent war Evan Sharp. Zusammen mit seinen Freunden Ben Silberman und Paul Sciarra erfand er Pinterest – eine der wichtigsten visuellen Inspirationsquellen für Kreative. Menschen wie Evan gibt es viele. Auf der im angloamerikanischen Raum beliebten Internetplattform Archinect beispielsweise findet man zahlreiche Architekt*innen, die nicht in ihrem gelernten Beruf arbeiten. Die Plattform nennt sie „Working out of the Box“.
Warum arbeiten so viele Archi­tekt*in­nen nicht in ihrem Beruf, sondern werden lieber Köch*innen, Desig­ner*in­nen oder Aktivist*innen? Ich glaube, weil das Architekturstudium unheimlich breit aufgestellt ist. Viele Aspekte des Lebens sind  Teil unserer Profession. Sie sind nicht nur Pflichtfächer, die später nie wieder gebraucht werden, sondern können ganze Werke prägen. So ist zum Beispiel das Werk des selbsternannten Anarchisten-Architekten Peter Grundmann, der einem Architekturvortrag gerne mal eine Einführung in das Werk Adornos voranstellt, stark von der Soziologie geprägt. Oder Patrik Schumacher: Der Architekt und Partner bei Zaha Hadid Architects promovierte 1999 an der Universität Klagenfurt als Philosoph und veröffentlicht regelmäßig sehr lesenswerte Texte rund um das Thema Libertarismus. Diese Geisteshaltung findet unmittelbar Ausdruck in seinen Gebäuden und der den Gebäuden zugrunde liegenden Gestaltungslehre ­– dem Parametrismus –, die er zusammen mit Zaha Hadid entwickelte.
Nur wenige Fachrichtungen müssen zwischen so unterschiedlichen und scheinbar unvereinbaren Gebieten wie der Kunst und dem Ingenieurwesen vermitteln und dabei auch noch einen Ausdruck finden. Das Architekturstudium entlässt uns Architekturschaffende als totale Generalist*innen – Renaissance-Menschen, die in einer komplexer werdenden Welt immer seltener werden. Das ist ein Geschenk und einfach wunderbar!
Aber: Jede Architekt*in, die in der „wirklichen“ Welt ihr Handwerk verrichtet, kann sich an die Anfänge ihrer Karriere erinnern und an das Gefühl, NICHTS zu wissen. Wir alle erinnern uns an Nächte, in denen wir die Hochschule verfluchten, weil sie uns nicht auf das Schreiben von Bauanträgen vorbereitete. Oder an die eine Sitzung, in der man sich fragt, ob jemals eine Professor*in erwähnt hat, dass man Pläne irgendwann grünstempeln muss. Die „wirkliche“ Welt und das Studium scheinen oft nur zwei Gemeinsamkeiten zu haben: lange Nächte und viel Kaffeekonsum. Aber wenn man es geschafft hat, die Hürde zu nehmen und im Arbeitsalltag anzukommen, verändert sich der Blick auf das Gelernte erheblich. Ihr werdet merken, dass wir in der Hochschule zwar keinen Kurs in Beamtendeutsch -Architektendeutsch belegen konnten, dass uns dafür die Dozent*innen aber beigebracht haben, Dinge schnell zu lernen und anzuwenden, in einem Team zu arbeiten und vor allem eine Haltung zu entwickeln. Wir haben gelernt, abstrakt zu denken und wie wichtig es ist, ein Konzept zu haben. Es sind genau diese Fähigkeiten, die es uns ermöglichen, eine großartige Schuh-Designer*in zu sein oder eine fantastische Köch*in.
Und die vielleicht wichtigste Erkenntnis: Man hört niemals auf, Architekt*in zu sein. Denn Architekt*in zu sein, ist mehr als der Titel oder ein Job. Es ist eine Art, die Welt zu verstehen und gestalten zu wollen – und die Welt besteht aus mehr als nur Häusern.
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