Mit Beton frei über Architektur nachdenken
DBZ Heftpate
Andreas Bründler
Buchner Bründler Architekten Basel/CH
Aus einem absoluten Gestaltungswillen heraus begann man in der modernistischen Architektur, Beton als Material zu verwenden und zwar in Form von Sichtbeton. In den 1950er- und 1960er-Jahren wurde Sichtbeton im Brutalismus zum wesentlichen Baustoff. Diese Architektur entwickelte ihre Bauwerke nicht nur in Bezug zum Beton, sondern geradezu aus diesem Material und seinen Eigenschaften heraus. Heute ist Sichtbeton eines der am meisten verwendeten Materialien in der Schweizer Architekturlandschaft. Die Frage ist: Warum?
Stellvertretend möchte ich diese Frage mit unserem Werk beantworten, denn als gemeinsamer Nenner unserer Arbeiten kann der Umgang mit eben diesem Material gesehen werden: Beton hat fast jedes unserer rund vierzig seit 1997 realisierten Projekte geprägt. Dabei geht es aber nicht nur um die Erscheinung des Materials im gebauten Endzustand, es geht vielmehr um die Vielzahl von Möglichkeiten und Denkräumen, welche das Material Beton eröffnet. Diese Möglichkeiten beeinflussen unsere architektonischen Entwicklungs- und Entwurfsprozesse. Jede Vision, die letztendlich in eine gebaute Form gebracht wird, kennt ihren abstrakten materiellen Ausgangspunkt. Es scheint, als bilde Beton eine Art primäre Grundmaterie, die es erlaubt, frei Strukturen und Räume zu entwerfen. Es ist ein Material, dass es uns ermöglicht, fast ohne Einschränkungen über Architektur nachzudenken, ganz gleich von welcher Richtung aus dieses Denken geformt und beeinflusst wird.
Das Material erscheint als Neutrum im kulturellen Sinn, weil es das Rückgrat der Architektur ist, außerdem bestehen sämtliche Infrastrukturbauten dieser Gesellschaft aus Beton. Seine Wertigkeit ist deshalb nicht abschließend definiert. Es eröffnet die Möglichkeit, es frei mit inhaltlichen Themen zu besetzen, es frei zu programmieren, es für jede konzeptuelle Aufgabe einzusetzen. Mit diesem Neutrum lassen sich ferner homogene Räume entwickeln, die eine freie Skalierung ermöglichen und die sich in der Wahrnehmung zwischen konkreter haptischer Erscheinung und Abstraktion bewegen. Das Material hat so ein breites Spektrum an strukturellen Möglichkeiten. Von der archaischen Höhlenform zum minimalistischen Unterstand sind sämtliche Systeme denkbar – horizontal wie vertikal sind sie frei erweiterbar.
Die durch ihre Rauheit wirkenden Betonräume stehen dabei in einem spannungsvollen Dialog mit dem städtischen Kontext. Betonkonstruktionen erscheinen ehrlich, pur und archaisch. Nach wie vor besteht die Referenz zum natürlichen Stein. Dadurch ist das Material Substanz und Oberfläche zugleich. Konstruktive Themen werden somit in die Sichtbarkeit gebracht und der Veränderung durch Zeit und Natureinflüsse unterworfen. Dies ist ein emotionaler Aspekt, der uns an unsere eigene zeitliche Limitiertheit erinnert. Wir mögen die Erscheinung von Beton: Sie ist das Resultat eines Entstehungsprozesses, der am Ende eine ganz spezifische Schönheit entwickelt. Die Spuren handwerklicher Arbeit schreiben sich dem Material ein, dadurch birgt es auch etwas Unberechenbares in sich. Die Lesebarkeit dieser Prozesse und die immer wieder individuell andere handwerkliche Oberflächenbeschaffenheit machen Beton zu einem lebendigen Material. Diesen Eindruck nutzen wir in Bauten wie der Casa d’Estate in Linescio, die sonst im Inneren einer einfachen Formensprache folgt.
Und schliesslich: Betonbauten sind dauerhaft und beständig. Ihnen ist dadurch die Möglichkeit inhärent, ein permanenter Teil der Stadt zu werden. In diesem Sinne erlangen sie eine vergleichbare über Jahre hinweg gezeichnete Präsenz wie die klassischen anorganischen Baumaterialien. Im Hotel Nomad wurde ebendiese urbane Präsenz des Betons wiedererlangt, in dem wir bei einem Umbau auf die ursprüngliche Sichtbetonfassade aus den 1950er-Jahren zurückgegangen sind.