Muss erst verdaut werden
Eine Biografie hat dickleibig zu sein, das ist – bezogen auf die Prominenz der LebensgeschichteninhaberInnen – ein absolutes Muss. So verwundert es nicht, dass die Lebensbeschreibung des größten Architekten des 20. Jahrhunderts 816 Druckseiten bietet und durchaus schwer in der Hand liegt. 2008 erschien die Arbeit zuerst, nun liegt sie ins Deutsche übersetzt vor. Und am Ende einer längeren, zwischen „begeistert sein“ und Fragezeichen-im-Gesicht schwankenden Lesereise darf man ruhig fragen: Was sollen wir damit nun machen?! Offensichtlich zielt die Publikation auf unsere Neugier, den Menschen Charles-Édouard Jeanneret-Gris hinter dem GröAaZ LC zu entdecken, den Träumer, den Opportunisten, das Muttersöhnchen, den genialen Architektenamateur, den Maler, den einfachen Kerl, den ehrgeizigen Chaoten, den Zweifler und Depressiven, den Jubilierenden und den, der sich immer wieder einmal selbst als Mittelpunkt des Universums betrachtete. Und er wird uns geboten in all diesen Facetten des Menschlichseins in einer Chronologie der Lebensereignisse. Allein der Anfang startet mit dem Ende, in dem angedeutet wird, dass es wohl kein Badeunfall war im August 1962, der das Leben dieses Mannes beendete, der ein Staatsbegräbnis bekam, wie es für einen GröAaZ nun mal angemessen ist.
Bücher über Le Corbusier, Zeitschriftenartikel, Devotionalien aller Art füllen zig Regalmeter. Alles schien schon offenbart, alles untersucht. Und dann kommt einer, der dem Meister so dicht auf die Pelle gerückt ist, dass er seine Gedanken liest, sein körperliches Empfinden empfindend beschreibt, der Abstand hält trotz aller Bewunderung, die wunderbar trocken bleibt und die Augenhöhe niemals verlässt.
Wir haben es geahnt: Auch Le Corbusier hatte Ängst, Zweifel, war ein energiegeladener Schöpfer und jähzorniger Sohn, ein neidischer Bruder und mit den Frauen hatte er ganz eigene Verhältnisse. Mit der Politik ebenso, hier allerdings wird nicht ganz klar, ob der Vichy-Mitläufer tatsächlich bloß auf den eigenen Vorteil bedacht war oder ob nicht doch das Große (seine städtebaulichen Visionen waren Tabula rasa-Fantasien) durchaus auch faschistoide Züge hatte wie auch seine Vorstellung vom Reinigenden der großen Kriege.
Der Mangel der Biografie liegt in der Akribie, mit der der Autor Biografisches aus den Briefen an die Mutter, die Freunde, die Gönner gesammelt hat − vieles davon unveröffentlicht und allein deshalb schon verführerisch für den Gebrauch. Im Leseverlauf nervt es dann, wieder etwas über den Hund der Familie zu lesen oder die sexuellen Nöte eines erst spät zum Mann Erwachten. Die sehr persönlich gehaltene Biografie schafft es selten, Alltägliches mit dem Herausragenden (Arbeiten) zu verbinden; auch führen wichtige Bezugspersonen, die das Werk des Meisters mit in die Welt brachten, eher ein Schattendasein. Der Fokus also liegt auf den vielen bisher wenig oder überhaupt nicht genannten Dingen und Ereignissen. Hier kann man fragen, ob diese „Versäumnisse“ nicht auch mit gutem Grund bis zu diesem Buch eben solche geblieben sind. Das dicke Buch zielt auf unsere Neugier; ob diese befriedigt wird, hängt an der Erwartungshaltung. Die Bilder im Kopf, die diese Arbeit erzeugt, angesicht von Sainte-Marie de la Tourette, den Unité d’Habitation oder auch dem Nationalmuseum in Tokio nicht als irritierend zu empfinden, das wird die Aufgabe der kommenden Zeit sein. Dieses Buch muss verdaut werden … ob das gelingt? Mit Sach- und Personenregister. Be. K.