Mythen kommen nach der WahrheitEine Ausstellung in Berlin versucht sich am Mythos (Babylon)
Die Schlangen vor dem Museum sind beachtlich. Drinnen, im wie immer stickig warmen Pergamonmuseum, das sich seiner haustechnischen Anpassung so sehr entgegensehnt (insbesondere vom hier arbeitenden Personal), wimmeln Besucher allen Alters, angelockt von einem großen Wort: Babylon.
Babylon ist Mythos und Mythen gehören den Massen. In unserer von der Wissenschaft von manchem Dunklen wie übermäßig Strahlenden gereinigten Welt, in welcher es zunehmend schwieriger wird, einen Mythos schon länger als ein paar Monate am Leben zu halten, hängen wir deutlich hingebungsvoller an den ganz großen Mythen. Der Mythos von Sysyphos ist ein solcher, der Mythos von Troia eine teils geklärte und dann aufs neue mythologisierte Erzählung von schier ewigem Bestand.
Doch manchmal geht es diesen Ewigen an den Kragen; vor Jahren geschah das der Varusschlacht, die plötzlich ortlos weil transloziert wurde, fernab des seit Patriagedenken geheiligten Blutbodens am Teutoburger Wald. Und Troia soll auch ganz woanders liegen, als die bisherigen Ilias-Übersetzer und -Exegeten uns glauben machen wollten. Oder ganz aktuell versuchen Neuerer die Klassifikation der St.-Emilion-Weine abzuschaffen zum Schrecken all derjenigen, die die Keller mit Premier Grand Cru Classé-Weinen gut gefüllt glaubten … Mythen platzen manchmal, um sich erneut in einen Mythos zu verwandeln, den letzten wirklich großen, den von der Wahrheit.
Und schon bin ich wieder bei der Warteschlange vor dem Pergamon-Museum, die sich unter dem Ausstellungsplakat „Babylon. Mythos und Wahrheit“ durch, schrittchenweise, doch ohne kürzer zu werden in Richtung Kasse und Garderobe schiebt. Also Mythos und Wahrheit, zwei Welten, die ohne einander kaum können, denn in beiden steckt etwas vom anderen. Und Babylon mittendrin. Diese scheinbar so bekannte Stadt, die eher als ein „Projekt Stadt“ zu bezeichnen ist, beschäftigt, inspiriert Künstler, Prediger und auch Architekten schon immer und noch heute. In Analogien oder Symmetrien, oder in den megalomanen Tagträumen kindischer Herrscher dieser Welt formen sich Bilder von diesem Projekt. Ihr häufigstes, schon emblematisches ist das vom Turm zu Babel. Die Zikkurrat, ein uraltes Synonym für die Überschreitung von Grenzen, steht bildgewaltig für den armseligen Versuch, Gott endlich einmal auf Augenhöhe gegenüberstehen zu wollen. „Blasphemie“ rufen die einen, die anderen sehen es – heutzutage – sportlich. Und bauen auf den amerikanischen Fuß genau Türme mit verklärenden Namen: Freedomtower zum Beispiel.
Schnell geht das mit dem Mythos, Sodom und Gomorra wurde wohl die gleich hohe Schlagzahl verordnet, ins abseitig Gruselige und äußerst Spekulative zu rudern. Genauer: Sie wurden gerudert. Von interessierter Seite. Denn wie konnte es passieren, dass ein lediglich hohes Gebäude und eine vielleicht exaltiert zeremonisch organisierte Stadt in solchen Verruf gerieten? Welche Überlieferungen, vielleicht Überseztungsfehler haben den Mythos von Babylon geschaffen? Und wer hat diese Fehler warum angeordnet?
Glücklicherweise wird die recht konventionelle Ausstellung, die sich in der Haupthalle mit ihrem 1 : 1 Sockelnachbau des originalen Pergamonfries in Wahrheit (rechts gehen) und Mythos [=Unwahrheit?] (links gehen) teilt, von einem hervorragend gemachten, zweibändigen Katalog begleitet. Sonst wäre – insbesondere die Abteilung Wahrheit – eine staubtrockene Darbietung archäologischer Fundstücke, Orte und Ausgräberpersönlichkeiten. Im Zentrum stehen hier das fest mit dem Museumsbau verklebte Ischtar-Tor sowie die Prozessionsstraße von Babylon. Über 800 Objekte, darunter Statuen, Reliefs, Weihgaben, Architekturteile und Schriftzeugnisse, verwirren den unvorbereiteten Besucher, der – nach nichtrepräsentativer Spontanumfrage – meist aus der „Mythos“-Abteilung hierher kam, um vielleicht ein wenig Wahrheit zu finden; der Mythos zieht offensichtlich mehr.
Doch mit der Darstellung der Dualität von Mythos und Wahrheit und, nicht zu vergessen, der dreitausendjährigen Geschichte Babyloniens, klingt mir noch eine andere Melodie im Ohr, die der Rekonstruktion, der bewussten Bilderschöpfung. Die Überlieferung der wahren Vergangenheit in zigtausend Fragmenten, deren Authentizität zum Wohle des Ganzen erst einmal angenommen wird, ja angenommen werden muss, sonst müssten sämtliche Forscher an ihrer Arbeit verzweifeln, war und ist bis heute umstritten. Der Aufbau von 1 : 1-Rekonstruktionen simmuliert Authentizität, reflektiert letzten Endes jedoch nur unser Verständnis von Geschichte. Die Rekonstruktionsversuche des Wahren in Abgrenzung zum Mythos sind ehrenhaft, sind unterhaltsam und fruchtbar. Dass sie am Ende jedoch nur weitere Mythen produzieren beziehungsweise die vorhandenen über die Zurschaustellung von plastischen Bildern verfestigen wird den Kuratoren bewusst sein; ob das gewollt ist – auch im Hinblick auf die Rückgabeforderungen der Türkei – muss zunächst einmal offen bleiben. Uns allen bleibt jedoch eine erhellende Kataloglektüre und eine Reise in die Hauptstadt. Dort bildet sich, ein paar hundert Meter vom Ausstellungsort entfernt, ein neuer Mythos, tief unterhalb einer fragwürdigen Rekonstruktion. Heinrich Lee