Nachhaltiger entwerfen

Digitale Lebenszyklusanlysen sind ein wichtiges Werkzeug, um bereits in frühen Entwurfsphasen die Ökobilanz von Projekten zu optimieren. Bollinger+Grohmann haben damit bereits erste Erfahrungen gesammelt und geben einen Einblick in den Stand der Technik sowie dessen Entwicklungspotenziale.

Der Bau und Betrieb von Gebäuden ist für über 35 % der globalen energiebezogenen Treibhaus-gasemissionen verantwortlich und stellt damit den größten Treiber des globalen Klimawandels dar. Um die Umweltwirkungen der Bauindustrie zu reduzieren und die globale Erwärmung zu begrenzen, ist ein sofortiges Umdenken bei Nutzungskonzepten, Entwurfs- und Realisierungsprozessen sowie eine kurzfristige, breite An­­wendung bereits vorhandener Lösungen notwendig. Die Handlungsmöglichkeiten des Bauwesens liegen in der Minimierung der konstruktionsbedingten Emissionen durch optimierte Gebäudekonstruktionen und der Minimierung der operativen Emissionen, die durch den Energieeinsatz im Gebäudebetrieb entstehen. Da die operativen Emissionen unter anderem durch rechtliche Instrumente bereits kontinuierlich sinken, rückt der Fokus zunehmend auf die Gebäudekonstruktion. Der enorme Ressourcenverbrauch des heutigen Bauens, insbesondere im Bereich der mineralischen Baustoffe, erfordert eine Neuentdeckung des materialsparenden Bauens, das sich an den Grundgedanken der Materialeffizienz, Robustheit, Strukturvielfalt und der Nutzung lokaler Ressourcen orientiert.

Konstruieren anhand von Lebenszyklen

Die Gesamtheit aller Umweltanforderungen an Bauteilen und Konstruktionen stellen eine Ent-scheidungsgrundlage für die Optimierung von Baukonstruktionen über rein nutzungsfunktionale und ästhetische Anforderungen hinaus dar. Eine möglichst umfassende Integration von Nachhaltigkeitszielen als Entwurfsparameter wird die Basis des Gebäudeentwurfs der Zukunft sein. Durch den lebenszyklusorientierten Entwurf werden Konstruktionen, Produktionsprozesse und Planungsstrategien entwickelt, welche die Lebensdauer und Adaptivität von Gebäuden erhöhen und final die Integration von Bauteilen und Baustoffen in eine umfassende Kreislaufwirtschaft ermöglichen.

Die Lebenszyklusanalyse beziehungsweise Ökobilanzierung stellt dabei eine objektive Methode zur Bewertung der Umweltwirkungen von Bauprodukten und Bauprozessen dar. Die Bilanzierung erfolgt über den gesamten Lebenszyklus des Gebäudes: von der Herstellung über die Nutzung bis zum Rückbau. In der Planungsphase werden damit nicht nur die Auswirkungen von Entwurfsalternativen und der Materialauswahl untersucht, sondern auch bereits Rückbauszenarien und Optionen für Weiternutzung und Wiederverwertung betrachtet. Für die Ökobilanzierung eines komplexen Gebäudesystems bedarf es damit Umweltinformationen über alle eingesetzten Materialien sowie der erforderlichen Material- und Energieströme. Die Kenndaten werden material- und produktabhängig in Umweltproduktdeklarationen (EPD) quantifiziert und in
Datenbanken, wie z. B. der „Ökobaudat“ gesammelt.

Digital und nachhaltig Entwerfen

Ein nachhaltiger Gebäudeentwurf – gemäß den oben beschriebenen Grundsätzen – erfordert ­einen iterativen Entwicklungsprozess, der die jeweilige Auswirkung von unterschiedlichen Komponenten und Materialien inklusive ihrer potenziellen Emissionen mit der Erreichung von gestalterischen und funktionalen Entwurfszielen in Beziehung setzt. Dieser schrittweise Abwägungsprozess ist nicht nur komplex, sondern auch sehr zeitaufwendig, wenn er analog erfolgt. Durch die Kopplung von digitalen Planungsmethoden wie Building-Information-Modelling (BIM) mit Umweltinformationen von Bauelementen wird die Ökobilanzierung jedoch einfach in den digitalen Arbeitsprozess integriert.

Das beschleunigt die Bilanzierungen drastisch und erschließt notwendige gestalterische Freiräume. Der entscheidende Vorteil digitaler Planungsmethoden im Gebäudeentwurf ist die schnelle Überprüfbarkeit von Entwurfsvarianten. Dabei kommt der digitalen Modellierungsstrategie über die verschiedenen Planungsphasen hinweg eine große Bedeutung zu. Bekanntermaßen ist der Einfluss von Entwurfsentscheidungen für die Umweltbilanz in frühen Planungsphasen besonders groß. Entwurf und Gebäudemodell besitzen in dieser Phase noch viele Unschärfen. Angemessen ist somit der Einsatz von einfachen, flächenorientierten 3D-Modellen mit geringer Detaillierungstiefe. Ziel ist die schnelle Generierung von Varianten für vergleichende Studien oder Grenzwertbetrachtungen um grundlegende Entwurfsentscheidungen zu ermöglichen.

In den späteren Planungsphasen gewinnt das Einpflegen von möglichst detaillierten Umweltinformationen in umfassende, multidisziplinäre BIM-Modelle als Grundlage für die Dokumentation,  Ausschreibung und Zertifizierungen an Bedeutung. Auf Basis dieser Erkenntnis entstand die Zusammenarbeit zwischen dem finnischen Unternehmen One Click LCA Ltd. und dem deutschen Planungsbüro Bollinger+Grohmann. Ziel der Kooperation war die Verbindung der stark verbreiteten 3D-Modellierungssoftware Rhinoceros
(Rhino) und der visuellen Programmierschnittstelle Grashopper (GH) mit der Ökobilanzierungs-Software One Click LCA. Im Ergebnis entstand ein Plug-in, das vor allem in den frühen Entwurfsphasen eine schnelle erste Beurteilung von Gebäude- oder Strukturkonzepten ermöglicht. Das Rhino-Plug-in kann durch eine in das Programm integrierte Benutzeroberfläche verwendet werden. Diese ermöglicht die Zuordnung von EPDs aus One Click LCAs umfangreicher Datenbank zu geometrischen Objekten des Rhino-Modells sowie den Abruf der damit automatisch einhergehenden Massenermittlung für die Objekte.

Durch die in der Rhino-Umgebung implementierte visuelle Programmierschnittstelle Grasshopper kann die Generierung und Modifizierung von geometrischen Modellen oder Analysen von Objekteigenschaften automatisiert werden. Das GH-Plug-in für One Click LCA besteht aus eigenen Komponenten, die eine automatisierte, parameterbasierte Ökobilanzierung ermöglichen. Damit werden bei Veränderungen der Parameter der Modellobjekte automatisch die Ergebnisse der Ökobilanzierung aktualisiert und über verschiedene Display-Varianten grafisch ausgewertet.

Planungspraxis: erste Anwendungen

Die beiden oben beschrieben Arbeitsprozesse und die dafür entwickelten digitalen Werkzeuge wurden in zwei ersten Anwendungen getestet. In beiden Fällen wurde im Wesentlichen die Trag-struktur betrachtet, da sie mit ihren großen Massenanteilen an der Baukonstruktion entscheidend zur Minimierung der konstruktionsbedingten Emissionen und zur Materialeinsparung beiträgt.
Für das Projekt UP! Berlin (DBZ 09 | 2021) erfolgte die Ökobilanzierung als nachträgliche Bewertung des erfolgreich abgeschlossenen Umbaus des Berliner Kaufhauses am Ostbahnhof zu einem neuen Bürostandort.

Das Bestandsgebäude in Stahlbetonbauweise umfasste ein Gesamtvolumen von ca. 80 x 80 x 50 m. Die Regelspannweite der Rippendecken der Skelettkonstruktion beträgt 12 m. Der Umbau erforderte im Wesentlichen drei Maßnahmen: die Herstellung gestaffelter Einschnitte in die Originalkubatur zur natürlichen Belichtung der innenliegenden Bereiche, die Aufstockung um zwei Vollgeschosse und ein Staffelgeschoss sowie das Einfügen eines fünften Erschließungskerns.

Im Verlauf des Planungsprozesses entstand ein Rhino-Modell des Primärtragwerks und ein Revit-Modell der Gesamtkonstruktion. Die Ökobilanzierung erfolgte auf Basis des entwickelten Rhino-Plug-ins. Zur Verdeutlichung der zukunfts-
weisenden Entscheidung des Bauherrn, den Bestand nicht durch einen vollständigen Neubau zu ersetzen, erfolgte ein Vergleich des realisierten Umbaus mit einem fiktiven Neubau gleicher Struktur als Referenzprojekt. Im Ergebnis zeigt sich, dass ein Neubau das Dreifache des Treibhauspotenzials (GWP) des Umbauprojekts verursacht hätte. Darüber hinaus wird der entscheidende Einfluss der Deckenkonstruktionen und der Gründung auf die Gesamtbilanz deutlich.

Für das sich noch in der Planung befindliche ­Projekt VOLTARIUM Berlin (Architektur: Thomas Hillig Architekten Berlin, Tragwerksplanung: Bollinger+Grohmann Ingenieure, Bauherr GSG) wurde der Einsatz der Kombination Rhino + GH in den frühen Entwurfsphasen als Entscheidungshilfe getestet. Das Gesamtprojekt beinhaltet unter anderem ein elfgeschossiges Bürogebäude mit einer gestaffelten Kubatur, die sich von einer Grundrissfläche von 41 x 60 m auf 32 x 34 m verjüngt. In der Vorentwurfsphase wurden anhand des prototypischen Modells eines Geschosses verschiedene Konstruktionsvarianten auf Parameter der Nachhaltigkeit und Materialersparnis untersucht, um eine allgemeine Lösung für den Gesamtkomplex zu entwickeln. Neben der konventionellen Stahlbetonflachdecke wurden eine Stahl- und mehrere Holzbauweisen analysiert. Die Auswertung der Ökobilanzierung wurde in die Gesamtbewertung mit einbezogen und führte letztlich zur Entscheidung, den Gesamtkomplex als eine Holzskelettkonstruktion mit deckengleichen Stahlunterzügen und Brettsperrholzplatten als Deckensystem umzusetzen.

Ausblick

Die One Click LCA Plug-ins für Rhino und Grasshopper ermöglichen dem Planungsteam die zum Teil komplexen Kriterien der Ökobilanzierung umfassend in die Variantenuntersuchungen der frühen Entwurfsphasen zu integrieren. Voraussetzung ist ein digitaler Entwurfsprozess, der schon in dieser Arbeitsphase mit Strukturmodellen arbeitet. In Zukunft könnte durch den gezielten Einsatz von Machine-Learning-Anwendungen eine noch größere Differenzierung in der Variantenuntersuchung erzeugt und damit der Auswahlprozess weiter optimiert werden. Dieser Ansatz ist Teil der aktuellen Arbeiten der transdisziplinären Forschergruppe “Shaping Space” der UdK Berlin und der TU Berlin.

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