Roboterbasiertes Bauen
Architektur und digitale Fabrikation

Zusehends zeichnet sich heute „eine einheitliche technologische Basis des Bauens ab, wie sie seit den 1920er-Jahren in der Industrialisierung des Bauens mehr erträumt als verwirklicht wurde.“ (Nikolaus Kuhnert und Anh-Linh Ngo: Entwerfen im Digitalen Zeitalter (Editorial), in: Archplus 189, 2008, S. 7ff.) Allerdings geht es nicht mehr nur um die Erneuerung einer Branche, sondern um eine die gesamte Disziplin gleich­zeitig erfassende Entwicklung: Die Synthese von Daten und Material beim Entwerfen und Bauen. Seither wird es möglich, architektonische Bauprozesse mit digitalen Informationen anzureichern, das Material zu „informie­ren“ und Programmierung und Konstruktion als wechselseitig bedingten und gleichzeitig wesentlichen Ausdruck der Architektur im digitalen Zeitalter zu taxieren. Im Gegensatz zu den freien Experimenten in der Frühzeit der Digitalisierung handelt es sich weniger um ein formales oder typologisches Denken durch den Bezug auf festgelegte Geometrien oder Formen, sondern um die umfassende Fortschreibung der architektonischen Disziplin in Zeiten radikal veränderter Produktionsbedingungen.

Vor diesem Hintergrund sind es konkrete konstruktive Zusammenhänge, die durch das Zusammenwirken von digitalen Entwurfs- und Fabrikationsprozessen analytisch erfasst und in einem architektonischen Maßstab umgesetzt werden können. So kann der Aufbauprozess von Material mit dem Roboter direkt mit Entwurfsdaten verknüpft werden, um damit die digitale Realität des Computers mit der materiellen Realität gebauter Architekturen so direkt wie nur möglich zu verbinden. Zentral ist dabei ein additives Prinzip, das es ermöglicht, den Aufbau komplexer architektonischer Strukturen aus einzelnen Elementen gezielt zu kontrollieren und zu manipulieren, sodass nicht-standardisierte, räumliche und funktionale Konfigurationen entstehen können. Zugleich erlaubt der Roboter nicht nur die Ausführung von repetitiven, sich wiederholenden oder einfachen Mustern. Vielmehr kann dieser an differenzierte und nicht-standardisierte Konstruktionsprozesse angepasst werden, sodass es möglich wird, industrielle Einheitlichkeit durch konstruktive Differenziertheit zu ersetzen. Es ist genau dieser Paradigmenwechsel, aus dem sich vollkommen neue ästhetische und materielle Perspektiven für die Architektur ableiten. Als ob dieses Potential gewissermassen schon immer in der „DNS“ des Roboters angelegt war, bricht heute etwas durch, das diesen zum geeigneten Werkzeug einer individuellen und globalen Produktionswelt macht. Es sind seine „generischen“ Eigenschaften, die es dem Roboter erlauben, in jeweils gleichbleibender Effizienz und Präzision stets offen für weitere Anpassungen und Aufgaben zu bleiben. Seither ist es möglich, dem allgemeinen Primat der Individualisierung in der Architektur auch technologisch Rechnung zu tragen und die Welt industrieller Logik mit der Welt des Informationszeitalters zu verknüpfen. Die sich daraus abzeichnenden architektonischen Potentiale sollen an dieser Stelle diskutiert werden.


Erweiterte Potentiale der digitalen Fabrikation

Im Fall der Fragilen Struktur, 2011/2012 im Rahmen einer Lehrveranstaltung an der ETH Zürich entwickelt, werden über 1 000 diskrete Holzelemente assembliert. Hier folgt der Entwurf einer räumlichen Stapeltechnik, die ohne Verbindungsmittel auskommt und damit die Frage der Form auf die vorgelagerte Ebene der konstruktiven Stabilität verlagert. Die Fragile Struktur wurde im Vorfeld
anhand unterschied­lichster Variationen ent­­­wickelt. Zu einem frühen Zeitpunkt wurde eine Vielzahl roboterassemblierter Prototyp­en gebaut, die es erlaubten, in sehr schnellen Bausequenzen unterschiedlichste Aufbausysteme „evolutionär“ zu entwickeln und zu validieren. Zugleich erschwerte die besondere Vorgabe einer „ver­bindungslosen“ und einer am Gleichgewichts­zustand angenäherten Struktur die Möglichkeit, diese Entwicklungsarbeit manuell zu leisten. Die Fragile Struktur wird nicht klassisch entworfen, sondern entlang dem Gleichgewichtszustand „konstruktiv generiert“.

Tatsächlich konnte die aus diesem Ansatz resultierende Struktur nur durch einen roboterbasierten Aufbauprozess umgesetzt werden, denn dieser stellte einerseits die notwendige Präzision sicher, während andererseits auf zusätzliche Aufbau- und Vermessungshilfen verzichtet werden konnte. Bemerkenswert ist zugleich die bauliche Dimensionierung der Fragilen Struktur. Denn mit einer Gesamtlänge von über 8 m übersteigt diese den herkömmlichen Arbeitsbereich eines Industrieroboters um ein Mehrfaches, sodass sich der Roboter für die Umsetzung frei im Raum bewegen musste, um die Struktur auf die gesamte Länge gewissermaßen „nahtlos“ zu assemblieren.

Zudem ermöglichte es die zusätzlich mit Sensortechnik ausgestattete mobile Robotereinheit, die Umgebung und deren geometrische Abweichungen in Bezug auf die idealisierte, im Computer generierte Struktur zu erkennen und die gewonnenen Daten in Abhängigkeit von der eigenen Position in die Assemblierung einfließen zu lassen. Entsprechend wurde eine Parkgarage als Ort gewählt; wobei abfallender Boden, sich im Raum befindliche Stützenelemente oder eine eingeschränkte Deckenhöhe wesentliche Merkmale boten, um dieses Projekt in einer realen Bausituation vergleichbaren Umgebung tatsächlich „in situ“ auszuführen. Die Folge sind zahlreiche Anpassungen, die sich unmittelbar auf die roboterbasierte Assemblierung und die konstruktive Artikulation der Fragilen Struktur auswirkten.

Hier gehen ebene Flächen nahtlos in gekrümmte Flächen über und spannen sich unterschiedlich zwischen Decke und Boden, es entsteht ein Wechselspiel zwischen der rhythmischen Wiederholung der Holzelemente und ihrer differenzierten Auflösung im räumlich eingepassten, selbsttragenden Gesamtverbund.

Damit kann, wie die Fragile Struktur verdeutlicht, dem unmittelbaren baulichen Kontext ein erneut wichtiger Stellenwert im digitalen Zeitalter eingeräumt werden, dies insofern, als spezifische entwerferische und konstruktive Differenzierungen die Folge sind und durch den Einsatz des Roboters entscheidend beeinflusst und katalysiert werden können.


Die Operationalität der Utopie

Wie in dem Projekt Flight Assembled Architecture deutlich wird, kann das roboterbasierte Bauen weit über den Maßstab einzelner Bauelemente hinausgehen: Flight Assembled Architecture steht für die weltweit erste, von fliegenden Robotern erbaute, urbane Architekturinstallation und wurde erstmals am Fonds régional d‘art contemporain (FRAC) Centre in Orléans gezeigt. Dieses Projekt basiert auf einer Zusammenarbeit von Gramazio & Kohler und Raffaello D’Andrea und wurde 2011 für die gleichnamige Ausstellung am FRAC Centre (Co-Produzent) ent­wickelt.

Mehrere Quadrocopter fügen hierbei vor Ort über 1 500 Module zu einer komplexen vertikalen Struktur zusammen. Deren Flugverhalten basiert auf der algorithmischen Übersetzung digitaler Entwurfsdaten, wobei die Quadrocopter zuerst auf einer Plattform landen, dort einzelne Elemente aufnehmen und anhand einer vorgegebenen Bausequenz zielgerecht assemblieren. Schlussendlich entsteht eine vertikale Gesamtfigur, die das Modell einer 600 m hohen Stadtvision abbildet.  Mit insgesamt 180 Stockwerken und einer Nutzfläche von 1,3 Mio. m² bietet das sogenannte „Vertical Village“ Lebensraum für über 30 000 Einwohner und schafft durch die poröse Struktur eine grösstmögliche Vielfalt an programmatischen und städtebaulichen Potentialen. Hierin wird die Frage der Vielseitigkeit und Zugänglichkeit von urbanen Räumen und deren Inhalten zu einem zentralen Thema; gerade deshalb, weil die Einbettung von vier riesigen zusammenhängenden öffentlichen Doppelringen mit einer Gesamtlänge von über jeweils 1 km nicht auf den untersten Ebenen stattfindet, sondern über die gesamte Höhe des Bau­körpers verteilt stattfindet und heterogene Stadtstrukturen erzeugt. Der öffentliche Raum erstreckt sich somit auf die gesamte Höhe. Zusammen mit dem Innenhof – mit einem Durchmesser von über 300 m – schafft dies die Möglichkeit für eine urbane Grosszügigkeit und Durchlässigkeit, welche das öffentliche Leben mit all seinen Angeboten weniger einheitlich, horizontal und abgeschottet als vielmehr offen und als wandelbar erachtet.

Der Entwurf aus zueinander versetzten Modulketten bedient sich einer rasterartigen Organisation, die grosse Freiheitsgrade für die unterschiedliche Positionierung der Module erlaubt. Diese verläuft jedoch nicht horizontal wie bei traditionellen, auf dem Raster aufbauenden Stadtentwürfen, sondern wird vertikal gedreht und zu einer zirkulären Einheit geschlossen. Dadurch entsteht ein Verbund, der nicht nur Grundlage für die besonderen selbststabilisierenden Eigenschaften der porösen Gesamtstruktur ist, sondern im Übergang von einer idealen zu einer räumlich differenzierten und hochverdichteten Urbanität nichts weniger als eine grundsätzliche Revision moderner Stadtplanung in Aussicht stellt.

In der Tat generiert das Projekt durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Technologien, Perspektiven und Potentiale eine Art Schwebezustand zwischen einer für den Besucher real erfahrbaren architektonischen Installation und einer urbanen Zukunftsutopie. Damit stellt die Installation, obwohl in einem hundertfach verkleinerten Maßstab, die vermeintlich klare Grenze zwischen urbaner Vision und baulicher Realität in Frage und wird zu einem Instrument, das die Grenzen zwischen Wirklichem und Möglichem neu auslotet, um die Digitalisierung der Entwurfs- und Produktionsverfahren in einer gänzlich neuen architektonischen (vertikalen) Skalierung zu ermöglichen. Somit spannt sich mit dem Einsatz fliegender Roboter in Flight Assembled Architecture eine radikale materielle Praxis und zugleich umfassende Interdisziplinarität auf – und genau hier wird aus Utopie Zukunftsforschung.


Die interaktive Verknüpfung von Mensch und Maschine

Mit der fortschreitenden Digitalisierung steht paradoxerweise nicht mehr die in den 1990er-Jahren noch allenthalben beschworene Entmaterialisierung der Architektur zur Debatte, sondern im Gegenteil: die Materialisierung des Digitalen wird wichtiger, je intensiver der Mensch-Maschine-Dialog verläuft und sich komplexe materielle Aggregationen umsetzen lassen. Die grosse Stärke des Roboters liegt in dieser Hinsicht im strukturgebenden Differenzieren von grossen Mengen an Elementen, also darin, das Überzählige, Unüber­schaubare und Uneinheitliche zu beherrschen und dies in Abhängigkeit menschlicher Entscheidungen weiter zu kultivieren. Dies zeigt das folgende Projekt Spatial Aggregations. Dort werden mehrere hundert Stabelemente zu komplexen räumlichen Aggregationen assembliert, wobei vor allem die zugrundeliegende Aufbausequenz einen massgebenden Einfluss auf den architektonischen Entwurfs- und Bauprozess hat; das heißt, wichtig ist nicht nur die Verbindung der einzelnen Elemente untereinander als vielmehr deren konstruktive Abfolge.

Hier wird der Einsatz des Roboters gerade dort unumgänglich, wo die räumliche Komplexität beim Aufbau der Strukturen ausschließlich durch einen maschinellen Prozess umgesetzt und kontrolliert werden kann. Doch umgekehrt machen die im Vergleich zu den menschlichen Handfertigkeiten teilweise unzulänglichen räumlich-kinetischen Eigenschaf­ten des Roboters und dessen unzureichende Greifeigenschaften wiederum das gezielte manuelle Eingreifen durch den Menschen
erforderlich. Folglich wird ein intensives Zusammenwirken von Mensch und Maschine notwendig, sodass neue Freiheitsgrade und Selbstverständlichkeiten in der digitalen Fabrikation evident werden. Und tatsächlich: In Spatial Aggregations fügt der Mensch einzelne Stabelemente anhand vorher aufgebrachter Markierungen selbst ein. Diese werden jeweils an einem vom Roboter in exakter räumlicher Position gehaltenen Stab positioniert, um beide dann schlußendlich verbinden zu können.

Aus dieser wechselseitigen Verbindung von Mensch und Maschine entsteht in weiterer Konsequenz ein zusätzlicher, sehr interessanter Zusammenschluss: Denn durch den menschlichen Eingriff entstehende Verschiebungen und Toleranzen werden durch die vom Roboter zwischenzeitlich positionierten Elemente wieder ausgeglichen, sodass die Vor- und Nachteile des Zusammenwirkens von Mensch und Maschine wirkungsvoll ergänzt bzw. kompensiert und für die digitale Fabrikation genutzt werden können: Das Ziel ist demnach weniger die rein automatisierte Materialisierung eines vordefinierten Zustands als vielmehr eine prozessbewusste Untersuchung der Kooperation von Mensch und Maschine während eines strukturgebenden Aufbauverfahrens.

Festzustellen bleibt somit, dass der Mensch durch den Roboter keinesfalls relativiert wird, sondern sich als Leitfigur einer konstruktiven Realität zwischen Programmierung und Fabrikation etabliert. Die damit implizierte Hin­wendung zu assoziativer Logik und anthropologischer Handwerklichkeit könnte sich in Zukunft als so tiefgreifend erweisen, dass folglich das Gegenteil im Zentrum dieser Debatte stehen müsste: Durch den Einsatz des Roboters in der Architektur erhält der Mensch nicht weniger, sondern mehr Bedeutung.


Eine neue Dotierung der Architektur im digitalen Zeitalter

Dies bezeichnet die Art und Weise, wie ma­terialbewusste Entwurfsprozesse in der digitalen Fabrikation zu verstehen und zu erfor­schen sind. Hier gilt es, fernab von industrieller Einheitlichkeit oder formaler Vordergründigkeit, eine umfassende materielle Vielfalt zu ermöglichen, um neue mehrschich­tige Ordnungen in der Architektur zu entdecken, damit wiederum neue Erkenntnisse für weitere Entdeckungen gewonnen werden können. Tatsächlich bleibt abzuwarten, wie sich diese Entwicklung für die Architektur aus­wirken wird, aber eines muss bereits jetzt festgehalten werden: Durch den Einsatz des Roboters in der Architektur gelangen eine ganze Reihe verdrängter architektonischer Aspekte wieder auf die Agenda, beispielsweise die Aufhebung der Trennung zwischen geistiger Arbeit und Produktion, zwischen Entwurf und Ausführung, zwischen Standardisierung und Nicht-Standardisierung.

Hierin geht es keineswegs um eine „digitale Industrialisierung“ im Sinne einer reinen Kosten- oder Effizienzerhöhung durch automatisierte Bauprozesse. Es geht ebenso wenig um ein kurzlebiges, ästhetisches Kapitel des Informationszeitalters. Vielmehr handelt es sich um eine umfassende Perspektive, die heute in alle Arbeitsfelder des Architekten eingreift und innerhalb einer konkret technologisch-basierten Betrachtung, von der Computerprogrammierung bis hin zur Fabrikation mit Robotern, eine radikal materielle und offene „Dotierung“ der Architektur ermöglicht. Damit gelingt nicht nur die Erforschung und Aufnahme der neuesten digitalen Technologien in den Gehalt der Architektur, sondern gleichzeitig wird es möglich, diese Entwicklungen ästhetisch, konstruktiv und räumlich aufeinander zu beziehen und damit architektonisch nutzbar zu machen.

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