Zurück zum menschlichen Maßstab

Einen experimentellen Umgang mit Materialien, eine enge Verbindung zu lokalen Gemeinschaften und Respekt für die Umwelt - dadurch zeichnet sich Anupama Kundoos Arbeit aus. Die indische Architektin ist derzeit eine gefragte Expertin für nachhaltige Architektur. Kundoo hat eine Vision für die Zukunft des Bauens, die über standardisierte Ansätze unserer „überregulierten“ westlichen Baupraxis hinausgeht. Sie fordert nicht nur eine Umstellung unserer Bauweise, sondern vor allem ein neues Denken, das soziale, ökologische und kulturelle Aspekte gleichermaßen berücksich-
tigt – hin zu einer Wiederkehr regionaler Bauformen mit ­lokal verfügbaren Baumaterialien.

Das Mitra Youth Hostel in Auroville/Indien, entworfen von Anupama Kundoo sssdf sd sdf sdf sf sdsdf sf sd sdf sdf sdf sdf sdf
Foto: Javier Callejas

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Foto: Javier Callejas

Kundoo betont den erheblichen Einfluss der Bauindustrie auf den Klimawandel. Angesichts der massiven Ressourcenverschwendung und der Umweltzerstörung fordert sie, den Fokus auf lokale Materialien, handwerkliches Können und ener­gieeffiziente Bauverfahren zu legen. In ihren Projekten verwendet sie häufig natürliche oder recycelte Materialien wie Lehm, Ziegel, Naturstein oder Bambus und setzt auf Technologien, die mini­malen Energieverbrauch erfordern. „Im Moment schaffen wir mehr Probleme als wir tatsächlich lösen“, sagt Kundoo. Oft ist uns nicht bewusst, dass auch die vielen kleinen Entscheidungen, die wir beim Lösen eines größeren Problems treffen, einen negativen Einfluss auf die Umwelt haben.

Ein zentraler Aspekt ihrer Philosophie ist die „Materialbewusstheit“. Für Kundoo geht es nicht nur darum, nachhaltig zu bauen, sondern auch, ein Verständnis für die Herkunft und den Lebens­zyklus der verwendeten Materialien zu entwickeln. Was uns dabei im Weg stehe, sei eine Mischung aus vergessenem Wissen um Produktion und Einsatz der lokalen Baustoffe und ein Übermaß an Regulierungen. Es müsse jedoch nicht immer das dreifach verglaste Fenster sein, wenn wir im Winter statt eines T-Shirts einen Pullover tragen, so Kundoo. 

Sharana Daycare entstand nach Anupama Kundoos Entwürfen im Jahr 2019
Foto: Javier Callejas

Sharana Daycare entstand nach Anupama Kundoos Entwürfen im Jahr 2019
Foto: Javier Callejas

Kreativer Umgang mit Abfallprodukten

Althergebrachten Handwerkstechniken und lokal verfügbaren Materialien haftete lange eine Arme-Leute-Aura an, dies ändere sich gerade, wie man am Lehmbau sehe. Sie plädiert auch für einen neuen Umgang mit dem Abfall, der beim Bauen entsteht. Früher wurde alles verwertet: Der nicht perfekt gebrannte Ziegel fand seine Verwendung dann eben im Innenraum, wenn er sich für die Außenmauer nicht mehr eignete. Heute hingegen sei es oft billiger, etwas wegzuwerfen, statt sich Gedanken über einen kreativen Umgang damit zu machen.

Grundsätzlich dürfe der Natur Baustoffe immer nur in kleinen, vor Ort benötigten Mengen entnommen werden. Wir müssten zurück zu einem menschlichen Maßstab und weg vom Maßstab der Maschinen. Dass jeder allein in seinem Haus lebe, führe nicht nur zu Vereinsamung. „Individualismus ist per se nicht nachhaltig“, so Kundoo. Inzwischen schlagen Stadtplaner vor, autofreie Zonen auch für mehr Begegnung unter den Menschen zu schaffen. „Der menschliche Maßstab ist das Wichtigste, das es für unser Wohlergehen zu erhalten gilt“, sagt Kundoo, nicht nur die Erhaltung der natürlichen Ressourcen. Vielleicht hängt auch beides miteinander zusammen.

Das Projekt „Full Fill Home“ ist eine experimentelle, vorgefertigte Struktur aus recycelten Materialien. Das „Full Fill Home“ kann in nur 6 Tagen aufgebaut werden
Foto: Sebastiano Giannesini

Das Projekt „Full Fill Home“ ist eine experimentelle, vorgefertigte Struktur aus recycelten Materialien. Das „Full Fill Home“ kann in nur 6 Tagen aufgebaut werden
Foto: Sebastiano Giannesini

Maßgeschneiderte Lösungen

Die Architektin möchte zudem eine vernachlässigte Ressource in der Architektur beleuchten: die Zeit. Kundoo arbeitet mit dem Thema Zeit in der Architektur auf mehreren Ebenen - von der Erforschung und Entwicklung handwerklicher Techniken bis hin zum Bau von Gebäuden ohne Massenfertigung und große Maschinen.

Sollen wir also überhaupt nicht mehr neu bauen, sondern nur auf dem Vorhandenen aufbauen? „Ich bin kein Freund von Generalisierungen“, so Kundoo. Schließlich sei jedes Gebäude ortsspezifisch zu betrachten. „Es gibt nicht die eine One-Size-Fits-All-Lösung“, sagt sie, das habe die Industrialisierung nur versucht uns einzureden. Wie in der Medizin oder im Rechtswesen gehe es bei der Architektur um maßgeschneiderte Fall-zu-Fall-Lösungen. „Denn dafür sind wir Architekten ausgebildet“, so Kundoo.

In Tokyo lebe eine Person im Schnitt auf knapp 20 m2, was in etwa die Hälfte der Quadratmeterzahl ist, die einem Berliner zur Verfügung steht. Ob Küche, Wäscheraum, Gästezimmer oder große Bäder – fast alles ließe sich teilen. Je weniger Aktivitäten man in die eigenen vier Wände verlagert, desto kleiner kann eine Wohnung sein – und des­to gemeinschaftsbezogener wird das Leben.

Die Bücherei der verlorenen Bücher, entworfen von Kundoos Büro
Foto: Javier Callejas

Die Bücherei der verlorenen Bücher, entworfen von Kundoos Büro
Foto: Javier Callejas

„Kein Freund von Wettbewerben“

Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Bildung. Als Hochschullehrerin sieht Kundoo in der Aufklärung der nächsten Architektengeneration einen Schlüssel zur Veränderung. Sie lehrt an Universitäten weltweit, derzeit in Berlin, und ermutigt ihre Studierenden, nicht nur über den Nutzen von Architektur nachzudenken, sondern auch über deren Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft.

Dem Nachwuchs mit seinem neuen Nachhaltigkeitsdenken müsse aber auch eine Chance auf dem Markt gegeben werden. „Es mag ein Sakrileg in Deutschland sein, aber ich bin kein Freund von Architekturwettbewerben“, sagt Kundoo. „Wie können junge Architekten da eine Chance bekommen?“ Zumal wenn sie aufgrund von nachhaltigen Konzepten teurer als die Konkurrenz sind. Statt allein auf den Wettbewerb zu setzen, sei Kollaboration wichtig. „Zusammenarbeit ist auch ein Weg, der zu Exzellenz führen kann.“ Letztlich sei vieles auch eine Frage der Ethik und nicht allein des Preises.

Vision für die Zukunft

Anupama Kundoo fordert eine ganzheitliche Betrachtung der Architektur. Sie plädiert für eine Zukunft, in der Bauen nicht auf Kosten der Umwelt geht, sondern im Einklang mit ihr steht. Dies erfordert nicht nur eine experimentelle Herangehensweise, sondern auch ein Umdenken in unserer Haltung gegenüber Konsum, Ressourcen und Gemeinschaft. „Zuallererst sollten wir eine Vision haben“, sagt Kundoo. Ohne die bleibe man im Hier und Heute verhaftet und es ändere sich nichts. Eine Vision und den Willen, etwas zu riskieren. Vielleicht lässt sich mit dieser Einstellung nicht das meiste Geld verdienen, aber man könne ruhiger schlafen. Dass sich zunächst belächelte Visionen am Markt durchsetzen können, zeige die erfolgreiche Einführung von Bio-Lebensmitteln, die vor 50 Jahren nur in vereinzelten Bio-Läden erhältlich waren und die es heute in jedem Supermarkt gibt.

Prof. Dr. Anupama Kundoo studierte Architektur an der Universität Mumbai und promovierte 2008 an der Technischen Universität Berlin, wo sie derzeit wieder lehrt. Sie hat an verschiedenen Hochschulen weltweit Architektur und Stadtmanagement gelehrt, darunter an der Yale University und der Columbia University. Kundoo erhielt u.a. den RIBA Charles Jencks Award für ihren Beitrag zur Architekturtheorie, den Preis Building Sense Now 2021 der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) und 2022 den Global Award for Sustainable Architecture unter der Schirmherrschaft der UNESCO. Ihr Büro hat Standorte in Berlin und Pondicherry (Indien).
Foto: Andreas Deffner

Prof. Dr. Anupama Kundoo studierte Architektur an der Universität Mumbai und promovierte 2008 an der Technischen Universität Berlin, wo sie derzeit wieder lehrt. Sie hat an verschiedenen Hochschulen weltweit Architektur und Stadtmanagement gelehrt, darunter an der Yale University und der Columbia University. Kundoo erhielt u.a. den RIBA Charles Jencks Award für ihren Beitrag zur Architekturtheorie, den Preis Building Sense Now 2021 der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) und 2022 den Global Award for Sustainable Architecture unter der Schirmherrschaft der UNESCO. Ihr Büro hat Standorte in Berlin und Pondicherry (Indien).
Foto: Andreas Deffner

Fazit

Mit Anupama Kundoos Vision einer ressourcenschonenden, gemeinschaftsorientierten Architektur mit zeitgemäßem Ästhetikanspruch ebnet sie den Weg für eine Zukunft, in der Bauen nicht nur Mittel zum Zweck ist, sondern ein Beitrag zu einer besseren Welt. Den Naturgesetzen (Schwerkraft, Sonne, Wind, Regen) müsse man mit Bescheidenheit und Demut gegenübertreten, während sie dafür plädiere, menschengemachte Gesetze und Regulierungen stets zu hinterfragen.

Die Zukunft des Bauens benötige drei Qualitäten: Vorstellungskraft, Experimentierfreudigkeit und Anpassungsfähigkeit. Und da Kundoo ein positiver Mensch ist, glaubt sie, dass wir die Kurve kriegen. „Es ist alles eine Frage des Denkens!“

Heide Teschner/DBZ

Vita

Prof. Dr. Anupama Kundoo studierte Architektur an der Universität Mumbai und promovierte 2008 an der TU Berlin, wo sie derzeit wieder lehrt. Sie hat an verschiedenen Hochschulen weltweit Architektur und Stadtmanagement gelehrt, darunter an der Yale University und der Columbia University. Kundoo erhielt u.a. den RIBA Charles Jencks Award für ihren Beitrag zur Architekturtheorie, den Preis Building Sense Now 2021 der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) und 2022 den Global Award for Sustainable Architecture unter der Schirmherrchaft der UNESCO. Ihr Büro hat Standorte in Berlin und Pondicherry (Indien).

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