Soziale Aspekte im Wohnungsbau
Die weichen Faktoren nachhaltiger Architektur
Die Bewertungsbereiche im Rahmen der Nachhaltigkeitszertifizierung gehen weit über eine rein energetische Betrachtung hinaus, die so oft als der wesentliche Baustein des nachhaltigen Bauens genannt wird. Der Begriff Nachhaltigkeit setzt sich bekanntlich aus den drei Komponenten Ökologie, Ökonomie und Soziales zusammen.
In den Bereichen Ökologie und Ökonomie stehen eine Menge an quantifizierbaren Planungsfaktoren zur Verfügung. Im Bereich der gesellschaftlichen Parameter hingegen besteht aufgrund des hohen Anteils „weicher“ Faktoren sowohl in der Planung als auch im Betrieb ein hohes Weiterentwicklungspotential. Wohnqualität wird bislang meist selektiv und unter subjektiver Auswahl von Kriterien wie Wohnfläche oder Ausstattungs- und Kostenmerkmalen beschrieben und bewertet. Dabei geht es gerade im Wohnungsbau neben der Bereitstellung von ressourcenschonender, energieeffizienter, dauerhafter und wirtschaftlich optimierter Architektur um Themen wie soziale Durchmischung, Möglichkeiten von Kommunikation und Integration, Partizipation, dauerhafte Stabilität von Quartieren oder Barrierefreiheit für ein Zusammenleben aller.
Wohnen ist ein Stück Lebensqualität, der soziale Zusammenhalt ist eine wesentliche Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft, zu der Architektur einen wertvollen Beitrag leisten kann. Da die sozialen Aspekte nur schwer quantifizierbar sind, wurden 17 Wohnungsbauprojekte anhand eines neuen Kriterienkatalogs mit den übergeordneten Themenkomplexen Prozessqualität, räumlich-gestalterische Qualität und baulich-technische Qualität evaluiert. Die Prozess-qualität liefert Informationen über die Akzeptanz eines Projekts bei allen Beteiligten, sowohl im Planungs- und Bauprozess als auch im Betrieb. Bei der Evaluation der räumlich-gestalterischen Qualität wurde auf die soziale Brauchbarkeit der Projekte fokussiert. Die baulich-technische Qualität stellt nicht nur ein Indiz für die Brauchbarkeit, sondern auch für die Akzeptanz der Bewohner dar (siehe dazu die Tabelle auf S. 65).
Prozessqualität
Der Grundstein für eine nachhaltige und von den Bewohnern positiv angenommene Wohnbauarchitektur – ökologisch, ökonomisch und sozial – wird vor allem in der Planungsphase, d. h. im Zuge der Projektentwicklung und im Planungsprozess gelegt. Dabei stellen drei Maßnahmen die Hauptbausteine dar:
1. Zur allgemeinen Qualitätssicherung sind Planungswettbewerbe ein zielführendes Instrument. Bereits in Wettbewerbsausschreibungen sollten soziale Aspekte explizit benannt und entsprechende Anforderungen formuliert werden. Je weiter ein Planungsprozess vorangeschritten ist, umso weniger wirksam und teurer werden Eingriffe. Als qualitätssichernde Maßnahmen können Gestaltungshandbücher, die Entwicklung eines Nachhaltigkeitsindexes und eine entsprechende Bauüberwachung eingesetzt werden. Dadurch können Wohnqualität, Zusammenleben und Nebenkosten, folglich die spätere Belastung der Mieter, entscheidend mitbestimmt werden.
2. Das Planungsteam sollte sich durch die Einbeziehung aller beteiligten Fachdisziplinen und Akteure auszeichnen und so eine integrierte Planung gewährleisten. Durch die möglichst frühzeitige Einbindung aller Experten – am besten bereits in der konzeptionellen Phase – entsteht ein intensiver Planungsprozess, der sich bei entsprechender Kommunikation optimal auf den Lebenszyklus des Gebäudes auswirken kann.
3. Durch die Partizipation der Nutzer, Anwohner und der Öffentlichkeit werden konkrete und wertvolle Anforderungen an die planenden Akteure gestellt, deren Umsetzung die Akzeptanz bei den Anwohnern immens fördert. Darüber hinaus erhöht es die Identifikation der späteren Bewohner mit dem Gebäude bzw. dem Quartier.
Belegung / Durchmischung
Wenn von Durchmischung gesprochen wird, muss unterschieden werden, ob es sich um demografische, soziokulturelle oder ökonomische Durchmischung handelt. Jede Form der Belegung birgt letztlich Konfliktpotentiale. Gelungene Heterogenität beruht immer auf einer dauerhaften, zeit- und personalintensiven Betreuung des Objekts und seiner Bewohner.
Gemeinschaft
Beim Thema „Gemeinschaft“ fließen Aspekte der Belegung (Prozessqualität) und der Zonierung als Teil der räumlich-gestalterischen Qualität zusammen. Gemeinschaft kann nur entstehen, wenn die entsprechenden Räume gegeben und die Konzepte, die dahinter stehen, den Nutzern vermittelt werden können. Das Verhältnis zwischen Anonymität und sozialer Kontrolle sollte im Gleichgewicht stehen. Gerade im sozialen Wohnungsbau, in dem das Raumangebot und die Wohnungsgrößen begrenzt sind, können Gemeinschaftsflächen helfen, im privaten Wohnraum fehlende Fläche zu ergänzen. Ein Trugschluss wäre allerdings zu glauben, dass sich kollektiv zu nutzende Räume generell positiv auf die Gemeinschaft auswirken. Handelt es sich um anmietbare Flächen, bedeuten diese durchaus eine temporäre Erweiterung der Wohnung. Gemeinsam genutzte Flächen können den Aufbau einer Gemeinschaft fördern, wenn darin auch ein soziales Angebot offeriert wird. Solche Aufgaben können auch von externen Anbietern übernommen werden. Stehen diese Einrichtungen nicht nur den Bewohnern zur Verfügung, öffnen sich Projekte in die Stadt und tragen sowohl zur Quartiersentwicklung als auch zur Identifikation mit dem Projekt bei.
Gemeinschaft kann nicht erzwungen, aber gefördert werden. Die räumliche Zonierung der Gemeinschaftsflächen kann Konflikten z. B. aufgrund von Lärmbelastung vorgebeugen. So ist es bereits in der Planungsphase wichtig, auf eine klare Abgrenzung und Nutzungszuweisung zu achten.
Kosten
Für den Bauherrn sind neben den Investitionskosten die Instandhaltungs- und Wartungskosten relevant. Alle drei Kostenarten können durch eine vorausschauende Planung maßgeblich reduziert werden. Dies betrifft zum einen die Entscheidung über die Konstruktionsart und Materialwahl, aber auch die Planung einer effizienten und somit kostengünstigen Erschließungsvariante. Für den Bewohner sind primär die Betriebs- und Nebenkosten relevant. Die Nebenkosten zur Energieversorgung können grundsätzlich durch Energieeffizienz in Bauweise und An-lagentechnik positiv beeinflusst werden. Unabdingbar ist – und das nicht nur bei komplexen technischen Anlagen –, den Bewohnern entsprechende Informationen oder auch Schulungen anzubieten.
Räumlich-gestalterische Qualität
Generell ist die Standortqualität eines der wichtigsten Kriterien bei der Wohnraumwahl. Projekte, die im Rahmen neuer Quartiersentwicklungen entstehen, sind auf die frühzeiti-ge Planung der Infrastruktur angewiesen. Hier sollte die Verkehrsplanung integraler Bestandteil des Planungsprozesses sein.
Gerade in den Innenstadtlagen wirken alternative Mobilitätskonzepte zur Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs, wie z. B. Carsharing, dem Stellplatzmangel und den hohen Kosten für Tiefgaragen entgegen.
Grundsätzlich sind fußläufige Entfernungen zu den Einkaufsmöglichkeiten für den täglichen Bedarf oder die ÖPNV-Anbindung ein wichtiges Kriterium. Neben der infrastrukturellen Anbindung sind auch weiche Faktoren wesentlich für das Kriterium „Standort“ und für das Image eines neu entstehenden oder zu verdichtenden Quartiers.
In nicht innerstädtischen Projekten sollte eine wohnverträgliche Nutzungsmischung im Quartier angestrebt werden, um neben der eigenen Wohnung andere Aufenthaltsorte zu schaffen, die zur Identifikation der Bewohner mit dem Standort beitragen und ihn lebenswerter machen (Cafés, Einzelhandel, Freizeitangebote). Eine Nutzungsmischung direkt
innerhalb einer Wohnanlage ist standortabhängig und funktioniert nur bedingt. Sie bedarf einer überlegten Zonierung der verschiedenen Nutzungen. Zusätzliche Einrichtungen, die auch von Anwohnern genutzt werden können, und eine sinnvolle Durchwegung tragen zur Belebung neuer Quartiere bei.
Haus und Umfeld
Durch die Gestaltung von Haus und Umfeld können Kommunikation, Durchmischung und Identität beeinflusst werden. Wichtig hierfür auf der planerischen Ebene sind die Themen Zonierung, Zugänglichkeit, Gemeinschaftsflächen und Dichte. Um Nutzungskonflikten vorzubeugen, ist eine klare Zonierung in öffentliche, halböffentliche und private Bereiche unumgänglich, denn nur so kann Gemeinschaft und Privatheit harmonisch nebeneinander gelingen. Dafür sind wahrnehmbare Schwellen notwendig, z. B. durch Höhenversprünge, Bepflanzungen oder Materialwechsel. Aber auch die Dichte und Größe spielen eine wichtige Rolle. Gerade in großen Wohnanlagen erscheint es wichtig, private und öffentliche Flächen sorgfältig anzuordnen und deutlich sichtbar voneinander abzugrenzen. Erschließungsflächen werden nur dann gleichzeitig als Kommunikationsflächen wahrgenommen, wenn die Dimensionierung und Ausstattung (Nischen, Sitzmöglichkeiten etc.) eine zweite Nutzung zulassen und entsprechende Aufenthaltsqualität bietet. Bei bestehenden Erschließungssituationen können auch die Treppenabsätze oder der Raum vor den Briefkästen so ausgebildet werden, dass die Kommunikation unter den Bewohnern gefördert wird.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Wahl der Mittel und die Möglichkeiten der Zonierung von Haus und Umfeld sowohl von der Größe, d. h. von der Anzahl der Wohneinheiten, als auch vom Umfeld abhängig sind. Die einzelnen Funktionen mit unterschiedlichen Anforderungen dürfen sich nicht stören und müssen entsprechend voneinander getrennt sein.
Wohnung
Sieht das Konzept eine heterogene Bewohnerstruktur vor, sollte dies durch ein entsprechendes Wohnungsgemenge ermöglicht werden. Dabei geht es im ersten Schritt um eine Grundrissvarianz und im zweiten Schritt um die schlüssige Kombination verschiedener Wohnungstypen. Unterstützt wird die Wohnqualität durch Räume, die durch Gleichwertigkeit in Größe, Ausstattung und Belichtung eine hohe Nutzungsflexibilität ermöglichen. Neben gleichwertigen Individualräumen lässt ein großzügiger Aufenthaltsraum die Nutzung von Wohnungen sowohl für Familien wie auch für Wohngemeinschaften zu.
Bauweisen ohne tragende Wände innerhalb der Wohneinheiten bieten eine Vielfalt an Lösungsmöglichkeiten. So können Grundrisse an verschiedene Bedürfnisse angepasst und die Wohnungen nach der Förderperiode ggf. an neue Zielgruppen zu vermietet werden. Nicht überzeugend sind Grundrisse,
deren Variabilität durch sogenannte Schalt-räume erzeugt wird. Ein solcher Raum zwischen zwei Wohnungen kann entweder der einen oder der anderen Wohnung zugeschlagen werden. In der Praxis wird diese Option jedoch kaum genutzt. Aufgrund der seltenen Nachfrage steht die Schallschutzproblematik in keinem Verhältnis zum Aufwand. Flexibi-
lität wird auch durch Grundrisse geschaffen, bei denen sich die Versorgung in einer klar definierten Raumzone bündelt. Dadurch wird der Wohngrundriss frei von dienenden Funktionen und kann individuell gestaltet werden. Neben der Varianz ist vor allem die Möblierbarkeit hoch zu bewerten. Nicht jeder Grundriss ist für jede Zielgruppe geeignet. Gerade im sozialen Wohnungsbau sollte die Möblierbarkeit durch Standardmöbel gesichert sein.
Private Freiräume müssen durch Lage und Größe gut nutzbar sein, dann zählen sie zu den wesentlichen wertsteigernden Faktoren einer Wohnung. Solange kleine Gärten, Dachterrassen oder Balkone vorhanden sind, können Wohnräume auf ein notwendiges Maß reduziert werden. Die Dimensionierung der Freibereiche sollte sorgfältig geplant sein. Darüber hinaus trägt ein fest integrierter Sichtschutz der Balkone (massiv oder textil etc.) zum einheitlichen Erscheinungsbild bei.
Grundsätzlich müssen sich Bauherren und Architekten insbesondere bei Projekten des sozialen Wohnungsbaus der Grenzen der Individualität bewusst sein und die Funktionstüchtigkeit nicht der Architektur unterordnen (form follows function).
Baulich-technische Qualität
Die Balance, die zwischen dem Kosten- und Qualitätsanspruch zu finden ist, ist immer auch eine Gratwanderung zwischen den nicht selten gegenläufigen Anforderungen der verschiedenen Akteure. Auf Bauherrenseite haben zunächst kostenreduzierende Maßnahmen Priorität. Allerdings sollten die gewählte Baukonstruktion und die Materialien auch im Betrieb wenig Kosten verursachen und dem Objekt eine dauerhaft optische Qualität verleihen. Hinsichtlich der Bauqualität sind auf Bewohnerseite Schall- und Wärmeschutz ausschlaggebende Kriterien. Doch gilt es zu beachten, dass nicht nur der winterliche, sondern auch der sommerliche Wärmeschutz den Wohlfühlwert der Bewohner beeinflusst.
Insbesondere bei großzügigen Verglasungsflächen, die aufgrund der guten Tageslichtversorgung geschätzt werden, ist ein wirksamer Sonnenschutz unumgänglich.
Bei der Materialwahl ist zu beachten, dass langlebige Materialien mit geringem Pflegeaufwand Wartungsmaßnahmen und Instandhaltungskosten minimieren und darüber hinaus zu einem höheren Pflegebewusstsein der Bewohner beitragen.
Fazit
Entwurfs- und Gestaltungsgrundsätze wie eine differenzierte Zonierung zwischen halböffentlichen, öffentlichen und privaten Räumen ebenso wie eine ausreichende Dimensionierung von Zimmern, privaten Freibereichen und Erschließungsflächen zählen zu den Schlüsselkriterien. Von entscheiden-der Bedeutung für einen hohen Wohlfühlwert ist gute Nachbarschaft – ob anonym oder freundschaftlich. Gemeinschaft gelingt, wenn jeder Bewohner auch Rückzugsorte findet. Nicht jeder wünscht sich eine enge nachbarschaftliche Bindung, andere jedoch suchen gezielt danach. Auch erhöht eine zielgruppengerechte Planung die Identifikation der Mieter mit ihrer Wohnumgebung und vermindert das Risiko von baulicher Vernachlässigung. Wesentlich ist auf allen Ebenen und in allen Phasen die Kommunikation unter den Akteuren, Betreibern und Bewohnern.
Soziale Nachhaltigkeit lässt sich nicht in einem Satz formulieren. Sie ist durch ein komplexes Gefüge von Parametern definiert und abhängig von der gelungenen Befriedigung unterschiedlicher individueller Wohnvorstellungen in einem sozialen Kontext.