Wahrhaftigkeit der Form
Der Brückenbau ist nach wie vor die Königsdisziplin der Bauingenieure. Sie sind allein für die Qualität ihrer Brücken hinsichtlich Sicherheit, Kosten und Kultur zuständig. So ist der Bauingenieur einer der letzten Generalisten. Ein einzelner kann noch etwas bewegen – äußerst attraktiv für den kreativen Nachwuchs. In unserem Büro werden leidenschaftlich gern Brücken entworfen und konstruiert, in der Hoffnung, so einen Beitrag zur Qualität der lebenswichtigen gebauten Infrastruktur und Baukultur leisten zu können. Eine Infrastruktur, sei sie technisch und funktionell noch so perfekt, wird eben erst durch Kultur zur Zivilisation.
Der Brückenbau darf und muss daher für sich in Anspruch nehmen, was jedem anderen öffentlichen Bau – Museum, Theater, Bahnhof, Krankenhaus, Schule etc. – mit größter Selbstverständlichkeit zugebilligt wird: dass er Teil unserer Baukultur ist und dass deshalb sein Anspruch auf gestalterische Qualität gleichberechtigt neben seiner Funktion steht. Die Baukunst ist unteilbar!
Unsere besondere Zuneigung gilt den Fußgängerbrücken, den Brücken zum Anfassen und Begreifen. Sie erlauben, weil sie klein sind und vergleichsweise wenig kosten, immer wieder neue Werkstoffe und Tragwerkstypen auszuprobieren. An der TU Berlin wird gerade die erste Spannbandbrücke mit Kohlestofffaserbändern getestet. Sie spannt 15 m weit und die beiden Spannbänder sind nur 1 mm stark. Sie trägt Verkehrslasten nach Norm, aber sie ist recht schwingungsempfindlich. Deshalb wird diese Brücke im Rahmen einer Dissertation mit künstlichen Muskeln versehen, die über Sensoren und Prozessoren gesteuert, die Schwingungen der Brücke in „realtime“ wegdämpfen. Null Bauhöhe und unendliche Steifigkeit?
Eine Brücke muss ihren Ort reflektieren, sich auf ihn einlassen, im Ganzen und im Detail. Sie kann sich bescheiden einfügen oder bewusst abheben. Daraus folgt, dass jede einzelne Brücke, ob klein oder groß, unserer Zuwendung bedarf: die kleinen, weil sie am nächsten an den Menschen dran sind, sowie Überführungen, weil sie von Millionen Autofahrern ständig gesehen werden – und die großen, weil sie nicht nur den Ort, sondern sein ganzes Umfeld bleibend verändern.
Nicht erfreulich ist, dass immer mehr Bauherren den ‚Bilbaoeffekt‘ suchen. Immer öfter fordern sie Ikonen und Landmarken, obwohl solche Eigenschaften nur bedingt bestellbar sind. In ihrer Not bieten die Ingenieure dann, nur um Ungewöhnliches zu schaffen, statisch unsinnige Tragwerke oder lassen sich zu teurer und lächerlicher Tragwerksakrobatik verleiten. Zum Glück gibt es Ausnahmen. Von Spanien über Belgien bis England werden von Ingenieuren, allein oder im Team mit Architekten und Landschaftsarchitekten, zunehmend schöne und effiziente Brücken gebaut. Wir müssen dazu dringend das Entwerfen, die Geburtsstunde eines Bauwerks und natürlich auch einer Brücke, in die Ausbildung der Bauingenieure einbeziehen. Dabei soll der Brückenbau nicht allein und isoliert gelehrt werden, sondern als Teil des ganzen, sich gegenseitig befruchtenden Ingenieurbaus.
Damit könnte der Tatsache Rechnung getragen werden, dass im Ingenieurbau die Wahrhaftigkeit der Form eine entscheidende Rolle spielt. Da eine Brücke zunächst und vor allem ein Tragwerk ist, das ein Hindernis überwindet, wird jeder Ingenieur der Forderung zustimmen, ihre Form müsse sich aus ihrem Tragverhalten entwickeln und dieses widerspiegeln: Ist ihr Kraftfluss nicht ablesbar, ist sie nicht wahrhaftig, wird gar ein falscher Kraftfluss vorgegaukelt, ist sie unehrlich. Gestalt und Kraftfluss, Form und Konstruktion gehören zusammen wie die Flüssigkeit und das Gefäß, die Musik und der Takt, der Tanz und der Rhythmus.