Standpunkt III
Nina Gérard und Verena Kohschulte zum Thema „Städtische Wohnkonzepte“

Noch nie haben so viele Menschen auf der Welt in Städten gewohnt. Trotzdem werden in Deutschland, gerade im Osten, viele innerstädtische Gebiete zur Brache. Ein unattraktives Wohnumfeld, fehlende Infrastruktur und nicht zuletzt mangelnde Arbeits- und Kulturangebote lassen junge Leute wegziehen. Zurück bleiben diejenigen, die nicht anders können, die Alten und sozial Schwachen. Wie kann man diesem Leerstand entgegen wirken? Nina Gérard und Verena Kohschulte entwickelten in ihrer Diplomarbeit ein Umstrukturierungs-Szenario zur Reaktivierung eines Plattenbaus.


Sie haben sich mit einem Gebäude in Johannstadt, dem größten innerstädtischen Plattenbaugebiet Dresdens, beschäftigt. Was ist Ihrer Meinung nach die Ursache für den hohen Prozentsatz des Leerstands trotz der sehr guten Lage?

Trotz der von Ihnen erwähnten guten Lage nahe des Studentenviertels Neustadt, der Altstadt und der Elbe, ist Johannstadt geprägt vom Monofunktionalismus Wohnen und bietet wenig städtische Infrastruktur. Der hohe Prozentsatz des Leerstands lässt sich zudem durch den unsanierten Zustand und qualitative Mängel des Plattenbaus IW66 P2 erklären. So ist eine barrierefreie Erschließung des Gebäudes nicht möglich und trotz einer Vielfalt von Wohnungsgrößen sind die Grundrisse mit sehr kleinen und niedrigen Räumen und einer ungünstigen Raumaufteilung sehr unflexibel.

 

Sie beabsichtigen eine Umstrukturierung in vier Phasen. Erläutern Sie bitte kurz Ihr Konzept.

Ziel des Entwurfs war eine sensible Umstrukturierung des Gebäudes mit angrenzendem Parkplatz, um eine Identifikation der Bewohner mit ihrem Umfeld zu schaffen bzw. zu erhalten. Daraus entstand das Konzept der 4 Phasen. Phase 0 ist der Bestand, Phase 1 und 2 sind Interventionen und Phase 3 steht für Szenarien. Der 11-geschossige Bau zeichnet sich durch seine Masse mit 114 x 12,5 x 35 m und sich wiederholende Fassadenelemente aus. Prägnant ist die innenliegende Erschließung mit drei Verteilergeschossen.

Phase 1 ist von den drei Elementen Leerstandsumnutzung, Platz und Laubengang geprägt. Das leerstehende Erdgeschoss wird durch gewinnbringende Nutzungen zu einer öffentlichen Zone. Diese verbindet sich mit der städtebaulichen Struktur und spannt eine neue Freifläche auf: den ParkPlatz. Der Leerstand im Gebäude wird zu Gemeinschaftsflächen wie Wintergarten, Sauna und Spielfläche umgenutzt. Weitere Intervention ist eine verbindende horizontale Erschließung, der Laubengang. Wie ein Kamm trifft er auf das Gebäude. An den ehemaligen Verteilergängen zieht er sich in das Gebäude und schwächt so das Bild der Masse. Phase 2 stellt einen andauernden Prozess dar. Bedingung für eine Veränderung der Struktur ist neuer Leerstand, der Auszug von Bewohnern. So entstehen aus ein bis drei alten Wohnungen neue Wohnungsmodule gemäß den sich geänderten Ansprüchen und zeigen sich in der Südfassade als Patchwork. In Phase 3 ist eine der unendlich vielen Variationen eingetreten, das Gebäude hat sich komplett gewandelt.

 

Was macht für Sie städtisches Wohnen aus?

Das Wohnen in der Stadt bringt herausragende Qualitäten mit sich, wie Unabhängigkeit, Flexibilität und ein breites Angebot an kulturellen und kommerziellen Aktivitäten, allerdings auch eine Anonymität, die als negativ empfunden werden kann. Die positiven als auch negativen Aspekte versuchen wir, in unserem Entwurf zu bearbeiten. So bringen wir in ein vom Monofunktionalismus Wohnen geprägtes Gebiet städtische Struktur mit öffentlichen Nutzungen im EG und mit dem Laubengang ein halböffentliches Element für die Bewohner, das Nachbarschaft und gegenseitige Unterstützung bringen soll.

 

Die Gesellschaft wandelt sich. Denken Sie, dass traditionelle Wohngrundrisse noch geeignet sind, den Bedürfnissen gerecht zu werden?

Die variierenden Lebensformen, Einkommen und Bedürfnisse einer sich rasant entwickelnden Gesellschaft fordern eine flexible Architektur, die auf die immer differenzierteren Ansprüche reagiert. Auf dieser Tatsache beruht der Entwurf unserer Module und die Phase 2, eine anpassungsfähige Entwicklung der Sanierung. Jetzige Mieter können in der grundsanierten Wohnung wohnen bleiben, während nebenan moderne Wohnungen entstehen. Unser Konzept begründet sich in einer Entwicklung und Umstrukturierung gemäß den Bedürfnissen der Zeit.

 

In den meisten Städten sind Gründerzeitbauten die beliebtesten Wohn- und Arbeitsobjekte. Warum ist das Ihrer Meinung nach so und wie können diese offensichtlichen Qualitäten auf Neu- oder Umbauten übertragen werden?

Altbauwohnungen bieten einer heterogenen Gesellschaft durch die Vielfalt an Grundrissen Individualität und eine Basis für eigene Kreativität, die die Identifikation der Bewohner mit ihrem Wohnort stärkt. Der Wunsch nach räumlichen und atmosphärischen Qualitäten wird erfüllt. In der Umsetzung bei Neu- und Umbauten ist es daher wichtig, eine breite Varianz an Wohnformen, -größen und Grundrissen zu schaffen. Räumliche Wohnqualitäten wie hohe Räume in Altbauten können gut in Maisonettewohnungen übersetzt werden. Wohnküchen oder Wohnräume mit integrierten Küchen, Balkone oder Wintergärten und großflächige Wohnräume bilden weitere Varianten, individuellen Bedürfnissen unterschiedlicher Lebensformen gerecht zu werden.

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