Das Tragwerk ermöglicht Architektur
Die Tragwerksplanung besteht nicht daraus, dass man die in der Statik gelernten Tragsysteme im jeweiligen Entwurf unterbringt. Die Aufgabe ist, die raumbegrenzende Fläche so zu gestalten, dass sie trägt. Insbesondere bei vorgegebenen Flächenformen wie bei der Plattform für den Verkehr muss bedacht werden, was hinzugefügt werden muss, um die Tragfähigkeit zu gewährleisten. Das Tragwerk dient der Funktion, leistet aber auch einen wichtigen Beitrag zur ästhetischen Erscheinung.
Wenn wir diese Forderung vertreten, dann ist es evident, dass man mit der „üblichen“ Statikerausbildung der Aufgabe kaum gerecht werden kann. Der Tragwerksentwurf muss in die Ausbildung der Bauingenieure integriert, ja sogar in den Vordergrund gestellt werden. Das kann nur dann effektiv sein, wenn er an gemeinsamen Projekten mit den Architekturstudenten geübt wird. 1974 haben Harald Deilmann, Josef Paul Kleihues, Hermann Bauer und ich an der neugegründeten Universität Dortmund eine Fakultät Bauwesen etabliert mit den Studiengängen Architektur und Städtebau, Tragwerksplanung (konstruktiver Ingenieurbau), Bauproduktion und Bauwirtschaft.
Für Technische Gebäudeausrüstung gibt es keine adäquate Ausbildung. Die TGA-Ingenieure holen ihr Fachwissen von den verschiedenen Fakultäten, nur mit Bauwerken machen sie keine Bekanntschaft. Das führt zum Teil zu den gravierenden Problemen auf den uns allen bekannten Baustellen wie Elbphilharmonie, Berliner Flughafen, Kölner Oper etc. Wenn an solchen und anderen Großbaustellen derart gravierende Fehler auftreten, dann liegen Systemfehler vor.
Die Ausbildung Technische Gebäudeausrüstung muss auch aus gestalterischen Gründen mit der Architektenausbildung gekoppelt werden. Die Produkte, die die TGA-Ingenieure einbauen, mögen ihre technische Funktion erfüllen, jedoch werden sie den ästhetischen Anforderungen selten gerecht. Und hier müssten auch die Designer eingeschaltet werden, die technische Ausrüstung kann ja gestalterisches Element der Architektur sein wie die Tragkonstruktion.
Nach Kant hat die Kunst keine Begriffe und keine Regel, ganz anders aber die Baukunst, die ohne die Einhaltung unzähliger Regeln erst gar nicht entstehen könnte. Die Postmoderne und der Dekonstruktivismus existieren noch heute in den verschiedenen Kunstdisziplinen, in der aktuellen Architektur führen sie, wenn überhaupt noch, ein Nischendasein. Charakteristikum der Postmoderne sind Zitate, aus Antike, Renaissance bis hin zum Barock. Die neuen Baustoffe, die neuen Bauarten und Bautypologien haben ihre eigene Sprache und sind für Zitate weniger geeignet. Die neuen Anforderungen und Möglichkeiten kreieren völlig neue Formvorstellungen. Wir sind nicht mehr an in der Mechanik hergeleitete Tragsysteme gebunden. Mit der zur Verfügung stehenden Software quantifizieren wir heute das Tragverhalten von nahezu beliebigen Entwürfen. Und damit können wir den immer größer werdenden Hunger nach dem noch nie Gesehenen gründlich bedienen. Dabei möchte man immer hoffen, dass am Ende ein nutzungsgerechtes, also ein sinnvolles Gebilde entsteht.
Ein Meilenstein in der Baukunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die gedankliche und gestalterische Gestaltungskraft Frei Ottos, dokumentiert im Olympiastadion München (1970). Frei Otto hat uns eine neue Sicht eröffnet, deren Möglichkeiten noch lange nicht voll erkannt sind. Die Geometrie seiner Systeme war kein Streben nach architektonischen Effekten, sondern eine organische Übereinstimmung zwischen Konstruktion und Funktion. Frei Otto ließ sich in weiten Teilen von der Natur inspirieren, ohne auf „angesagte“ Stilrichtungen Rücksicht zu nehmen. Mit dieser Haltung war die Überwindung des anerzogenen Spezialistendenkens und das Gebot zur interdisziplinären Zusammenarbeit verbunden. Ottos Vermächtnis, das in weiten Teilen leider immer noch nur Vision ist, sollten unsere heutigen Akteure beherzigen und umsetzen.
Der Ingenieur
Stefan Polónyi studierte an der TU Budapest. 1956 kam er nach Köln, wo er 1957 ein eigenes Büro eröffnete (Stefan Polónyi & Partner, später Polonyi und Fink, dann IPP Prof. Polonyi + Partner). 1965 Prof. an der TU Berlin (Tragwerkslehre), dort baute er das Institut für Modellstatik auf. Von 1973 bis 1995 Prof. an der Universität Dortmund (Stichwort „Dortmunder Modell“).
Polónyi erhielt zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen. Seine bekanntesten Arbeiten sind St. Paulus in Neuss (F. u. Ch. Schaller), die wunderbaren Ruhrgebiets-Brücken in Oberhausen, Gelsenkirchen und Castrop-Rauxel, das Nederlands Dans Theater, Den Haag (Rem Koolhaas), Galeria Messe Frankfurt (O. M. Ungers) oder die Glashalle der Leipziger Messe (gmp). Stefan Polónyi lebt in Köln.