Unzufriedenheit als Motor
Atelier Seraji Architectes & Associés, Paris

Nasrine Seraji ist gleichzeitig Professorin und praktizierende Architektin. Ihr Engagement als Direktorin der Ecole Nationale Supérieure d‘Architecture de Paris Malaquais und Leiterin des Instituts für Kunst und Architektur an der Akademie der Bildenden Künste in Wien versucht sie ebenso mit 100 prozentigem Einsatz zu erfüllen wie ihre Aufgaben als praktizierende Partnerin des ASAA.

Das Portfolio des Ateliers ist beeindruckend und weist sowohl im Bereich der Stadtplanung, der öffentlichen Bauten, als auch im Wohnungs­bau eine Vielzahl verschiedenartigster Projekte und Architekturen auf.

Girasole, ein Wettbewerbs­projekt aus dem Jahre 2007 für den Bau von 350 Wohnungen an einem Kreisverkehr im 16. Bezirk in Paris ist die Weiterentwicklung einer komplexen und vielschichtigen Formensprache und Orga­nisation, die man bereits am Endlesshouse in Wien, aus dem Jahr 2003 erkennen konnte. Die Architekten arbeiten nicht nur bei öffentlichen Gebäuden wie der Ecole d‘Architecture de Lille, sondern auch bei den Wohnbau­ten mit einem Reichtum an Materialien, Oberflächengestaltungen, geneigten Flächen und Versprüngen in den Fassaden, die ihre Architektur so außergewöhnlich erscheinen lässt.

In den Wohnungsentwürfen manifestiert sich eine permanente Suche nach neuen, besseren und adäquateren Grundrissen, die dem sonst so starren Raster des Wohnungsbaus entkommen will. Die intensive Arbeit mit den Gebäudeschnitten führt zu einem In­einandergreifen der Wohnungen und zu Verschiebungen in den Fassaden und damit wiederum zu einer erstaunenswerten Formenvielfalt.

Unter den etwa 60 Projekten, die Nasrine Seraji seit der Gründung ihres Büros Atelier Seraji 1990 in Paris, geplant hat, nennt sie drei Projekte, die ihr besonders am Herzen liegen, die Meilensteine in der architektoni­schen, organisatorischen und philosophischen Entwicklung ihrer Arbeit darstellen und zur Architekturauffassung führten, für die das Atelier Seraji Architectes & Associés heute steht: der Bau des temporären American Centres in Paris 1991, der Wettbewerb für die Philharmonie Bremen 1995 und der Wettbewerb für die Architekturschule in Tours 1997.

Seraji, die aus einer Familie von Bauin­genieuren stammt, begann nach einem einjährigen Studium der Medizin in Teheran, das

5-jährige Architekturstudium an der Architectural Association in London: „Die AA war die einzige Institution, an der ich mit meiner Art des Abiturs Architektur zu studieren beginnen konnte ohne weitere Prüfungen ablegen zu müssen. Dieses Architekturinstitut war diesbezüglich sehr unkonventionell und offen. Was die AA damals interessierte waren die Ideen die man mitbrachte, wie man über Architektur dachte, welches Weltbild man hatte. Die Tatsache, dass ich ein Jahr Medizin studiert hatte, war für mich ein „Plus.”Nach ihrem Diplom 1983 arbeitete sie in verschiedenen Architekturfirmen in England, und schrieb sich 1985 im Royal Institute of British Architects ein. Es war die Regierungszeit That­chers, gezeichnet von großen Privatisierun­gen, intensiver Bautätigkeit und technischen Fortschritten wie dem Einzug des Computers in der Architektur. Trotz lukrativer Honorare fand sie die Arbeit und Position der Architekten unbefriedigend: „Ich kam aus einer Schule in der in erster Linie die Ideen zählten, wie man sie darstellte und da­rüber sprach. Jedes Projekt begann erst mit der Beschreibung des Konzepts und des theoretischen Hintergrunds und nicht bei der Beschreibung des Raumprogramms oder der Struktur des Gebäudes. Diese Herangehensweise fehlte mir in der täglichen Arbeit.“

Die Unzufriedenheit mit der Situation in England führte dazu, dass Seraji 1989 an einem Ideenwettbewerb zum 200jährigen Jubiläum der Menschenrechte und der französischen Revolution, der in 10 verschiedenen künstlerische Disziplinen abgehalten wurde, teilnahm und ihn auch gewann. Auf der Suche nach der kulturellen Dimension und einer seriösen Architekturdiskussion verlässt Seraji England und geht nach Paris.

„Ich hatte nicht Architektur studiert, um die Ideen ingenieurstechnisch umzusetzen. Es ging mir darum, die kulturelle Komponente der Architektur in meinen Entwürfen umzu­setzt, zum Ausdruck zu bringen und in seinem kulturellen, zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext zu verankern.“ Das temporäre Gebäude des American Center, das 1991 für eine Dauer von 2 Jahre errichtet wurde markiert die Ankunft Serajis in Paris.

Der Wettbewerb an der Philharmonie in Bremen, bei dem sie den 2. Preis gewann, bedeutete ein Wachstum des Büros von 3 auf 16 Mitarbeitern und damit vor allem eine organisatorische Herausforderung: Die Komplexität bestand darin, wie man so viele Personen, die an einem Projekt arbeiten, koordi­niert und dirigiert, so dass trotz aller Ideen und Vorstellungen, die jeder einzelne Mitarbeiter zu dem Projekt hatte, der Entwurf eine logische, kohärente und sichtbare Einheit darstellt. Damit war nicht nur die Präsentation einer einheitlichen Architektursprache und eines einheitliches Konzepts für das fertige Produkt nach außen gemeint, sondern vor allem die Kommunikation innerhalb des Ateliers während der Projektentwicklung: „Die entscheidende Frage für mich war, wie ich den Mitarbeitern meine Ideen für dieses Projekt verständlich mitteilen konnte, so dass das Konzept für jeden einzelnen ebenso klar und verständlich ist wie für mich selbst.“

Mit diesem Projekt maßen sie sich auch zum ersten Mal mit bereits renommierten Architekturbüros.

Eine Architekturschule zu entwerfen ist der Traum jedes Architekten, das Programm ist jedem der Teilnehmer aus eigener Erfahrung bekannt: Als Architekt muss man nicht die genauen Anforderungen an eine Oper kennen, aber jeder Auftraggeber geht davon aus, dass der Architekt per se ein Spezialist im Wohnungsbau bzw. im Bau von Architekturschulen ist. Als Architekt hat man eine Anzahl von Jahren in verschiedenen Wohnungen gewohnt und zumindest 5 Jahre in einer Universität verbracht, wodurch man eine ziemlich gute Kenntnis dieser zwei Programme besitzt.

Die Arbeit am Wettbewerb für Tours wurde also zu einer Leidenschaft und zum Versuch, ihre persönlichen Vorstellungen von einer Architekturschule umzusetzen. Zum Zeitpunkt des Wettbewerbs hatte Seraji bereits 5 Unterrichtsjahre an der AA hinter sich, an der Columbia University unterrichtet und begonnen an der Princton University zu lehren:“ Der Wettbewerb war der Zusammenfluss zwischen meiner Lehrtätigkeit an verschiedenen Architekturinstitutionen und meiner Arbeit als selbständige Architektin. Die Fragen nach der Essenz einer Architekturschule und ob es möglich wäre eine Lehrstätte zu entwerfen, deren Form gleichzeitig den Unterricht und seiner Pädagogik bestimmen könnten waren Teil meiner täglichen Arbeit.“

In der Arbeit des Ateliers liest man eine Komplexität und Überlagerung von Dingen, sowohl in formaler, programmatischer aber auch in methodischer Hinsicht.“ Jedes Projekt stellt eine Auseinandersetzung mit einem theoretischen Hintergrund dar, wenn das einzelne Projekt nicht eine Anzahl von anfänglich gestellter Fragen bezüglich seiner Bedeutung, Organisation, seine Relevanz im städtischen und sozialen Kontext erfüllen kann, fehlt ihm das eigentliche Fundament. Jedes der Projekte, das wir planen und bauen, ist die Umsetzung und die Antwort auf eine Vielzahl von aktuellen, gesellschaftlichen und architektonischen Ideen, ein Spiegel seiner Zeit. Hier kommt es in unserer Arbeit zur Überlagerung des theorethischen Wissens mit der konstruktiven Umsetzung, wobei die Sichtbarmachung der Ideen ein zentrales Anliegen ist.“

Seraji ist sich bewusst, dass im Verhältnis zu der großen Anzahl von Projekten, die sie bereits entworfen haben relativ wenige tatsächlich gebaut worden sind:“ Ich gewinne immer mehr den Eindruck, dass man die Komplexität, die die Projekte in sich bergen, nicht sehen und niemand die Verantwortung dafür übernehmen will. Wahrscheinlich müssen wir die Darstellung dieser Komplexität verändern.“ Ihrer Meinung nach schreckt die Darstellung komplexer Architekturen und Programme die Auftraggeber ab, da diese automatisch mit zu hohen Kosten, einem zu großen Zeitaufwand, mit zu komplizierten Konstruktionen und zu langwierigen Entschei­dungsprozessen verbunden werden:“ In gewisser Weise stellt die Komplexität, die wir

in unseren Projekten umsetzen, eine Kritik an einem unflexiblen und starren Architektur- und Funktionsauffassung dar. Wenn wir sie zu offensichtlich darstellen, stößt das auf Ablehnung.“

Paris intra muros, als eine der dichtesten und kompaktesten Städte Europas, in der die Quadratmeterpreise immer hoch, Wohnungen schwer zu finden und Bauplätze knapp bemessen sind, verlangt von den Archi­tekten, wie den Bauträgern unkonventionelle Lösungen und Visionen, die der Stadtentwicklung gerecht werden.

Die Überplattung der verschiedenen Portes de Paris und der Eisenbahntrassen an der Gare d‘Austerliz sind konkrete und gelungene Beispiele dieser Stadtverdichtung.

Big, Heavy and Beautiful, 203 Wohnungen, die sich an der Porte d‘Orléans über vier Geschosse von Parkgaragen für PKW´s und Busse des öffentlichen Verkehrsnetzbetreibers RATP stapeln, zeigen die ganze Meisterschaft, die sich das Atelier mit dem Umgang solcher Auf­gaben erarbeitet hat.

„Wir können es uns beim Bau eines solchen Riesens mit einer derartigen Bedeutung und einer derartigen physischen Präsenz nicht erlauben uns zu irren. Mit Big, Heavy & Beautiful verweisen wir auf eine Anzahl von Überlegungen und Referenzen, die unserer Meinung nach im Zentrum der Arbeit stehen sollten. Jedes unserer Gebäude ist aus mehreren Schichten, wie der Erscheinung, der Konstruktion, der Funktion und der Organisation aufgebaut. Ich finde es spannend, dass die Bedeutung der verschiedenen Lagen von verschiedenen Benutzern zu verschiedenen Zeiten erfahren werden.“

Auch der Entwurf für den Wettbewerb Les 3 Etablissements humains in Boulogne Billancourt ist ein Bauwerk, das die Konditionen des Planen und Bauens in Paris sehr gut sym­bolisiert: die Überlagerung einer Kindertages­stätte, einer Grundschule, einer Bibliothek und einer Sporthalle mit 65 Sozialwohnun­gen in einer kompakten und effizienten Baumasse. Die Architektursprache verändert sich von Projekt zu Projekt, passt sich an die lokalen Gegebenheiten, wie auch an das Programm und die Ideen an.

Das Atelier stellt sich auf für die Zukunft

Der Eintritt von Nicolas Fevrier aus Nizza und Roland Oberhofer aus Terenten in Südtirol 2006 als Partner des Ateliers markiert eine weitere Stufe in dessen Entwicklung:

„Um das Atelier zu vergrößern und sicher­zugehen, dass die Philosophie des Büros längerfristig weitergeführt werden kann, war ich auf der Suche nach Partnern, die mich und meine Arbeitsweise sehr gut kannten, Partner, die sich mit meiner Architekturauffassung identifizieren konnten und bereit waren eigenen Initiativen zu starten.“

Normalerweise arbeiten Architekten über etliche Jahre in einem Architekturbüro, bevor sie Partner werden, das war bei Nicolas Fevrier und Roland Oberhofer nicht so, aber als ihre ehemaligen Studenten kannten sie Serajis Arbeitsweise, ihre Ansprüche und ihre Grund­sätze und wissen diese auch an die anderen Mitarbeiter zu vermitteln.

Laut Nasrine Seraji führt die Diskrepanz zwischen einer tiefgehenden Reflexion und der schnellen Realisierung eines Projektes zu einer Anzahl von Frustrationen, die gleichzeitig stimulierend sind, um über die gegebene Problematik hinaus weiterzudenken und neue Konzepte zu entwickeln. Diese Unzufriedenheit bleibt für sie einer der bedeutensten Stimuli ihrer Arbeit.


Michael Koller, Amsterdam

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