Urbanität im digitalen Zeitalter
Städte sind durch die Digitalisierung zentrale Arenen der Transformation. Als „Smart Cities“ malen sie Zukunftsvisionen, die in der Praxis aber viele Fragen aufwerfen. Im Februar 2018 diskutierten Forscher, Investoren, Stadtplaner und Kulturakteure im Rahmen der „15. Karlsruher Tagung URBANITÄT – Theorie und die aktuelle Praxis” über einen Städtebau zwischen Kontrollverlust und wachsender Bürgerbeteiligung im Zeichen der Digitalisierung. Die Tagung organisierte Alex Dill mit Markus Neppl am Karlsruher Institut für Technologie.
In den radikalen Architekturvisionen der 1960er- und 1970er-Jahre war die Stadt der Zukunft noch eine „soziale Maschine“, beispielhaft genannt seien hier die mächtigen „Walking Cities“ (1964) von Archigram. Reiner Nagel (Bundesstiftung Baukultur) präsentierte aktuelle polyzentrische Stadtmodelle, die sich in kleinmaßstäbliche Stadtviertel und ländliche Räume einfühlen. In der 2016 vorgelegten Studie des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU) zeichnen sich solche Strukturen durch ihre Anpassungsfähigkeit an die Digitalisierung und den demografischen Wandel aus. Mit ihnen rückt eine digital gestützte Beteiligungskultur, die Vielfalt der Kulturregionen, das Stadt-Land-Gefälle und ein bezahlbarer Wohnungsbau in den Fokus.
Als Chance und Risiko trifft die Digitalisierung in einem außergewöhnlichen Moment des Aufbruchs auf den Städtebau. Anhand einer historischen Übersicht legte Johann Jessen (Universität Stuttgart) dar, dass nach dem Bauboom des Wirtschaftswunders mit über 20 000 Wohneinheiten pro Jahr über viele Jahrzehnte kaum neue Stadtteile errichtet wurden. Heute ergibt sich durch Projekte wie den Heilbronner Neckarbogen (1 500 WE) oder Freiburg Dietenbach (6 000 WE) erstmals seit Jahrzehnten die Möglichkeit der Stadterweiterung mit kleinräumigen Funktionsmischungen und hochwertigen Grünräumen. Die Wiener Seestadt Aspern (10 500 WE) wurde jüngst mit dem Immobilienmanager Preis 2018 für den öffentlichen Raum, den nachhaltigen Mobilitätsmix, die gemanagte Einkaufsstraße und die erfolgreiche Ansiedlung von Betrieben ausgezeichnet. Getragen wurde der Projekterfolg durch ein ausgefeiltes Kommunikationskonzept, das die Stadtteilzeitung „City News“ schließlich in den bei den Anwohnern beliebten Blog „meine.seestadt.info” überführte.
Kathrin Möller (GAG Immobilien AG) berichtete über ein Quartiersmanagement mit vielfältigen sozialen Aufgaben, das heute Projekte wie die mit dem Bauherrenpreis 2018 ausgezeichnete Wohnbebauung „Grüner Weg“ (Lorber Paul Architekten / ASTOC Architects and Planners / Molestina Architekten) in Köln-Ehrenfeld begleitet. Die vielstimmige, digitale Urbanität müsse man auch aushalten, erläuterte Elisabeth Merk (Stadt München), die trotz der wachsenden Komplexität von Beteiligungsverfahren im Kampf gegen die Wohnungsnot aktuell eine große Anzahl von neuen Wohnungen realisieren muss. Eine Stadt der verschiedenen Geschwindigkeiten sei ein Lösungsansatz, um für die unterschiedlichen Akteure von Genossenschaften bis zu Investoren individuelle Konzepte zu entwickeln.
Markus Neppl (Karlsruher Institut für Technologie) illustrierte anhand von internationalen Beispielen, wie die herkömmlichen Planungsmethoden zusehends auch durch einen ephemeren Städtebau ergänzt werden. In einem öffentlichen Prozess hat er in Karlsruhe ein räumliches Leitbild entwickelt, das durch Bürgerbeteiligung auch informelle Stadtvorstellungen unterschiedlicher Milieus und Nachbarschaften umfasst. Hybride Planungsprozesse, wie für den Kreativpark „Alter Schlachthof” in Karlsruhe von ASTOC, verwischen die Grenzen zwischen Top-down- und Bottom-up-Projekten zusehends. Heute begleiten solche Verfahren Werbekampagnen mit einem Corporate Design, das den Projekten mit einem analogen und digitalen Medienmix eine hohe Prägnanz verleiht.
Chris Dercon (Intendant der Volksbühne Berlin) erläuterte, wie die Vogelperspektive des Bilbao Effekts heute durch Kulturinterventionen in den Quartieren abgelöst wird. Nicht nur das Theater erfindet sich durch urbane Inszenierungen wie am Flughafen Tempelhof neu. Auch angestammte Typologien wie das Museum oder die Bibliothek bieten als Laboratorien vielfältige Möglichkeiten der Reflexion über die digitale Transformation der Städte. Soziale Medien wie Instagram verhelfen nicht nur einer unscheinbaren Stadtteilbibliothek in Moskau nach einer Sanierung zu überraschender Popularität, so Anastassia Smirnova (SVESMI, Rotterdam und Direktorin STRELKA Institute, Moskau). Das ZKM in Karlsruhe erkundet mit Apps wie „My City, My Sounds” die klanglichen Eigenschaften und Bedeutungen von Stadträumen durch Audio-walks. Die App „Karlsruhe Maptory” informiert über zukunftsweisende Leistungen Karlsruher Persönlichkeiten der Wissenschaft und über Kunst im 20. und 21. Jahrhundert. Apps verbinden für Peter Weibel (Vorstand ZKM Karlsruhe) verschiedene Genres der bildenden und performativen Künste zu einer neuen Art des Musiktheaters, das über Projektionen hinaus die Stadt mit allen Sinnen erfahrbar macht. Bettina Schürkamp