„Warum Stahlbau? – Antworten eines Ingenieurs“
Der Beginn kunstgeschichtlicher Epochen und damit der Baukunst und Bautechnik liegt wohl schon 3 000 Jahre zurück. Eisen- oder Stahlbau ist in dieser Zeitspanne mit unterschiedlichsten Epochen eine äußerst junge Bauweise, die sich erst mit der Industrialisierung im 19. Jh. entwickelte. Warum also Stahlbau, wenn die Baukunst so lange ohne ihn ausgekommen ist?
Ende des 18. Jh. entstehen die ersten eisernen Brückenbauten, zunächst wenig belastete schmucke Bogentragwerke kleinerer Spannweiten, in der Mitte des 19. Jh. sind es bereits hochbelastete Eisenbahnbrücken. Im Hochbau findet der neue Werkstoff schnell Anwendung in Denkmalbauten und in kunstvollen Ausbauten. Die Tragwerke zeigen bald gestaltete schlanke Stützen und zunehmend Bindertypen und Kuppeltragwerke immer größerer Abmessungen.
Der Werkstoff Stahl, zu Beginn noch spröde und nicht schweißbar, ermöglichte durch seine hohe Festigkeit schlanke, feingliedrige, meist verzierte Tragwerke. Eine Eisenkonstruktion war in dieser Zeit nicht nur ein Funktionsbauwerk, Eisenkonstruktion war gleichbedeutend mit Eisenarchitektur. Die Werkstoffeigenschaften begrenzten damals noch die Möglichkeiten architektonischer Formgebung. Insgesamt gesehen hat der Werkstoff Eisen aber dem kreativen Handeln neue Freiräume erschlossen.
Heute ist Stahl ein hoch- und dauerfester, duktiler Hightech-Werkstoff, dessen Eigenschaften enorme architektonische Möglichkeiten bieten. Stahlbau fordert hohes Ingenieurwissen im Hinblick auf die Dimensionierung und die konstruktive Durchbildung. Damit geht die Entwicklung der Ingenieurwissenschaften nicht zufällig einher mit der Entwicklung des Stahlbaus.
Im Blick des Ingenieurs liegt das Design der Tragstruktur eines Bauwerkes, seltener das der Ausbauelemente. Die Sicherstellung von Tragsicherheit, Gebrauchstauglichkeit und Dauerfestigkeit bezieht Gestaltung und Formensprache des Bauwerkes untrennbar mit ein, da die Tragstruktur selbst einen wesentlichen Einfluss auf Ausstrahlung und Faszination eines Bauwerkes ausübt. Ein Emotionen weckendes Brückenbauwerk trägt seine Lasten in eleganter und müheloser Weise und benötigt keine aufgesetzten Stilmittel. Für die Schaffung weitspannender, höchst schlanker und transparenter Tragwerke, feingliedriger Seilstrukturen und anspruchsvoller Konstruktionsdetails sind die Eigenschaften des modernen Werkstoffes Stahl unverzichtbar.
„Festigkeit“, „Brauchbarkeit“ und „Schönheit“ definierten bereits in der Antike den Begriff der Baukunst. Der schonungslose Umgang des Menschen mit seiner Umwelt und die nicht mehr zu übersehenden Folgen haben heute den Begriff der „Nachhaltigkeit“ hinzugefügt. Nachhaltige Infrastruktur schließt funktionale, wirtschaftliche, ressourcenschonende und in Form- und Farbgebung ästhetische Bauwerke mit ein. Für das Gelingen von dezenten und sensiblen Landschaftsformen angepassten Brückenbauwerken bietet der Werkstoff Stahl die perfekte Grundlage. Im Hochbau sind die Wertigkeit von Stahlstrukturen und ihre intelligente Verbindung mit Werkstoffen wie Glas für anspruchsvolles lichtdurchflutetes Design nicht mehr wegzudenken. Zudem setzt die Anpassung an sich verändernde Kapazitäts- oder Nutzungsanforderungen innerhalb des Lebenzyklus weite, stützenfreie Räume, geringe Konstruktionshöhen, die einfache Möglichkeit des Gebäudeumbaus und damit einen hochfesten Werkstoff mit flexiblen Verbindungsmitteln voraus.
Bauwerkssanierungen mit der Erhaltung schützenswerter Bausubstanz sind oft nur mit neuen leichten Stahltragwerken zu realisieren. Die Schonung der Umwelt zwingt zu flächensparendem und zeitlich begrenztem Bauen. Verkehrsbehinderungen sind schon aus volkswirtschaftlichen Gründen zu vermeiden. Diese Aufgaben sind nur mit einem hohen Vorfertigungsgrad leichter und weiter gespannter Stahl- und Verbundtragwerke zu lösen.
Eine nachhaltige Betrachtung des Bauens fordert einen Werkstoff, der mit Ende der Lebensdauer eines Bauwerkes recycelt und der Wiederverwendung zugeführt werden kann. Stahl erfüllt in Kombination mit zeitgemäßer Planung und bei sorgfältiger Durchbildung der baulichen Einzelheiten alle diese Anforderungen und ist damit für den Ingenieur der ideale Werkstoff für elegante und effiziente Bauwerke. Jüngst in unserem Hause konzipierte Projekte wie die 1 000 m lange Eisenbahnbrücke Brug over die IJssel in den Niederlanden in Stahlverbundbauweise oder eine neue Eventarena in Baku mit einer filigranen Stahlkonstruktion sind dafür gelungene Beispiele.
Der Ingenieur
Dipl.-Ing. Hans-Joachim Casper,
1973-1980 Studium des Bauingenieurwesens an der TU Karlsruhe, seit 1980 bei SSF Ingenieure AG. Hier Leiter Bereich Ingenieurbau / Schwerpunkt große Stahl- und Stahlverbundbrücken.