Weimar in Shanghai
International AutomobileCity / Anting New Town, Shanghai

Der Bauboom in China ist beispiellos. Noch nie wurde in einem Land innerhalb so kurzer Zeit so viel gebaut. Lag in der Shanghaier Innenstadt noch vor zwei Jahrzehnten in einigen Wohngebieten die Pro-Kopf-Wohnfläche unter zwei Quadratmetern, so sind jetzt dort Pro-Kopf-Wohnflächen von 30 m² vorgesehen. Gleichzeitig verdaute die Metropole
am Yangtze Millionen von Landflüchtlingen, ohne dass Slums entstanden, wie in manchen anderen Zentren Asiens. Shanghai entwickelte sich dabei von einem grauen Moloch zu einer bunten, lebenswerten Metro-
pole mit viel Grün. Deutsche Architekten und chinesische Architekten, die in Deutschland studierten, haben diesen Prozess wesentlich mitgeprägt. Shanghai plante zur Entlastung der gewachsenen Stadt einen Kranz von Satellitenstädten, die jetzt Form annehmen. Die „Deutsche Stadt“, die AS&P – Albert Speer & Partner GmbH dort plante, nimmt jetzt Gestalt an, der erste Bauabschnitt ist realisiert.

Das Frankfurter Architekturbüro gewann im Jahre 2000 den internationalen Wettbewerb für den Masterplan der Shanghai International Automobile City und die städtebauliche Planung von Anting New Town. Auf einer
Fläche von rund 50 km² sollen Produktions-, Ausstellungs-, Handels-, Ausbildungs-, Managementflächen sowie Entertainment rund um das Auto entstehen, dazu eine Formel-
1-Rennstrecke, Museen und Freizeiteinrichtungen sowie eine komplette Wohnstadt für 50 000 Einwohner. In Anting hat Volkswagen seinen chinesischen Stammsitz. Volkswagen verkauft in China bereits etwa so viele Fahrzeuge wie in Deutschland und gilt als Pionier der Chinageschäfte deutscher Unternehmen. Anting war noch vor wenigen Jahren ein verschlafenes Dorf am Rande von Shanghai. Volkswagen begann dort in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts seine Produktion inmitten von Feldern.

„Wichtige städtebauliche Prinzipien und charakteristische Elemente deutscher Bau-
tradition waren Basis für das vielfältige und nachhaltige Konzept. Multifunktionale Blockstrukturen, eine Funktionsmischung im Stadtzentrum, öffentliche Plätze und fußgängerfreundliche Straßenräume bestimmen das Stadtbild. Während fünfstöckige Gebäudeblocks die Hauptstraßen säumen, reduziert sich die Gebäudehöhe auf vier- und dreistöckige Strukturen innerhalb der Wohnblocks und zu den Siedlungsrändern“, fasst AS&P den Planungsentwurf zusammen.

Im August 2002 beauftragten die chinesischen Aufraggeber AS&P und vier weitere renommierte deutsche Architekturbüros mit dem Entwurf der Wohnungsbauten und des Stadtkerns von „Anting West“. Der von AS&P geplante und realisierte Anteil umfasste ca. 1000 Wohnungen, ein Ausstellungszentrum, eine „Muster-Siedlung“ sowie ein 5-Sterne Business Hotel. Da die Nachfrage nach Appartements in Anting New Town absehbar das jetzige Angebot übersteigt, ist die Erweiterung, „Anting East“, bereits in Planung. 


„Ich wohne sehr gerne in Anting. Frische Luft, Grün, angenehme Ruhe, schöne Häuser, die mich an Deutschland erinnern und nette Nachbarn, wenn ich überhaupt jemanden dort treffe.“ (Ming Shen, Deutschlehrer an der Tongji-Universität).

Das Stuttgarter Planungsbüro Fichter erstellte den Masterplan für die Infrastruktur und ein nachhaltiges Energiekonzept. „Gerade in China ist es sehr schwierig, nachhaltige technische Infrastruktur in die Planungen zu integrieren. Die Bauträger betrachten fast ausschließlich die Investitionen, die langfristi-
gen Betriebskosten werden vernachlässigt. Es gehört schon viel Überzeugungsarbeit dazu, klarzumachen, dass die in unserem Konzept enthaltenen Einsparungen von 60 % sich schnell rechnen“, erklärt Martin Hollnaicher, der bei Fechter die Chinaprojekte koordiniert.

Die chinesische Seite wollte zunächst eine deutsche Bilderbuchstadt mit Fachwerkhäusern, Dorfkirche und Kopfsteinpflaster. AS&P präsentierte jedoch moderne europäische Architektur, die sich am Bauhaus orientiert. Im Frühjahr 2007 eröffnete das Shanghaibüro von AS&P, „wir sind jetzt halb Chinesen“, erklärt Albert Speer damals in der „Welt“. Von Shanghai aus sollen zukünftig nicht nur die zahlreichen Chinaprojekte geplant, sondern auch Arbeiten für andere Länder erledigt werden. Das Büro unterhält dafür Koopera-
tionen mit mehreren chinesischen Architekturbüros.

Die ursprüngliche Planung wurde wie auch bei anderen Städtebauprojekten auch von den chinesischen Auftraggebern immer wieder stark geändert. Hinzu kommt, dass die Planer auf die Ausführung wenig Einfluss haben. Im Machtspiel der Ausführenden haben die Bauträger das Sagen. Architekten haben in China keine besonders hohe Reputation, sie gelten weniger als Gestalter, eher als Techniker und Handwerker.


„Aber man muss auch sehen, dass Anting kein Modellfall für China sein kann. Dazu sind die Wohnungen zu teuer und die Siedlungsdichte nicht hoch genug. Bei der
enormen Bevölkerungszahl fehlt schlicht der Platz für ein solch aufwendiges Siedeln. Es ist jedoch ein Modell für Energiespartechniken, Dämmtechniken und ökologisches Bauen insgesamt.“ (Johannes Dell, Executive Board Member AS&P)


Im zurückliegenden Immobilienboom konnten in Shanghai die Bauträger einfach alles verkaufen, ein Zustand, den die Weltwirtschaftskrise grundlegend ändert, der Verkäufermarkt wandelt sich zum Käufermarkt. In Anting sind bereits ein futuristisches Automuseum und ein supermoderner Automobilcampus in Betrieb. Noch wirkt die Stadt unbewohnt und ohne Leben, obwohl die meisten Wohnungen bereits verkauft sind. Spätestens mit der Eröffnung der S-Bahn-Verbindung mit Shanghai dürfte sich dort
urbanes Leben entfalten. Thomas Kiefer, Aumühle

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