Zeichen setzen
Chance B und
Allgemeine Sonderschule Gleisdorf/A

In Gleisdorf plante Architekt Reinhold Tinchon ein be­-
sonderes Gebäude für Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Im Erdgeschoss des zweigeschossigen Bauteils im Südwesten gehen die Kinder in die Sonderschule, in der Tagesförderstätte der Chance B darüber werden erwachsene Behinderte betreut.

Früher war die Allgemeine Sonderschule Gleisdorf in einem Altbau am Hauptplatz untergebracht, an allen Ecken und Enden fehlte es an Raum. Behinderten Menschen eine zweite Chance zu geben und sie durch Förder-, Betreuungs- und Integrationsmaßnahmen bei der Bewältigung ihres Alltags zu unterstützen, ist aber auch Ziel der „Chance B“. Also schlossen sich beide Institutionen zusammen, um auf einem Grundstück der Gemeinde als PPP-Projekt eine neue Sonderschule mit Tagesförderstätte zu errichten. 2005 wurde dafür ein geladener Wettbewerb ausgeschrieben, den Architekt Reinhold Tinchon gewann.

Er entwarf zwei unterschiedlich hohe, parallele Bauteile, die in der Mitte einen offenen Hof bilden. Er wird von hölzernen Dachträgern überbrückt. Ihre Rippen schreiben dem Zwischenraum unter freiem Himmel eine irreguläre Struktur ein und verweisen so auf Existenzformen jenseits der Norm. Außerdem sorgen sie für Schatten und eine starke Corporate Identity. „Der Hof ist der wichtigste Raum. Wir wollten ihm eine besondere Note geben. Die Dachträger waren wesentlich für die Wiedererkennbarkeit. Ihre Struktur ist so irregulär und speziell wie behinderte Menschen“, sagt Architekt Tinchon. Die hofseitigen Wände sind orange verputzt, die Träger mit orangen OSB-Platten verkleidet: So wird der Freiraum als Ganzes erfassbar und wirkt fast wie ein kollektives Wohnzimmer.

Freiraum für alle

Der acht Meter schmale, eingeschossige Flügel mit Werkstatt, Portierloge, Garderobe, Bewegungsraum und Freiklasse im Nordosten ist zum Hof orientiert und synergetisch nutzbar, im Erdgeschoss des anderen Traktes liegt die Schule, im ersten Stock die Tagesförderstätte. Alle Klassen und Gruppenräume öffnen sich zu Maisfeld und Sonne im Südwesten, jede Ebene hat schwellenlose Zugänge ins Freie. Das gläserne Foyer verbindet beide Trakte und teilt den Hof in zwei Bereiche. An der Zufahrt setzt ein weit vorstehendes Dach eine einladende Geste, dahinter bilden die Holzträger gleichsam ein Baumhaus für alle. Unter seinem schattigen Geäst kann man sitzen und spielen, am Ende des Hofes wächst eine Sommerlinde und warten Hochbeete darauf, mit Naschbeeren bepflanzt zu werden.

Das Umfeld ist sehr inhomogen. Streusiedlungen, Bauernhöfe, Felder. Das Polytechnikum und eine Sportschule säumen die Zufahrt im Nordwesten. Wie ein Flügel ragt das trapezförmige Dach mit dem eingeschnittenen Oberlicht weit auf das Trottoir: So können die Busse im Trockenen halten. Fast 18 m lang, überbrückt es den Weg zum Foyer und bildet einen gedeckten Vorplatz. Hier können sich viele sammeln und warten, falls es drinnen eng wird. „Die Gegend ist nichtssagend. Unser Gebäude reagiert darauf, indem es sich nach innen orientiert“, so Tinchon. „Wir wollten ein Volumen bilden, das von einem Kommunikationshof durchschnitten ist.“

Mit dem Freiraum formt sich dieses zweigeteilte Haus seinen wesentlichen Bezugsraum selbst und setzt zugleich ein Zeichen zur Umgebung. „Es war ein Balanceakt: Die Behinderten sollten einen geschützten Aufenthaltsbereich haben, aber nicht weggesperrt werden. Deshalb gibt es die öffentliche Vorzone beim Polytechnikum.“ Bis auf den Gehsteig schwappt der gelbe Asphalt vom Hof, durch das transparente Foyer schimmert die Sommerlinde. Ein schlangenförmiges Stück Weg windet sich um den Baum: Es ist aus unterschiedlichen Materalien, die sich mit Händen und Füßen haptisch begreifen und deutlich unterscheiden lassen.

Der Bewegungsraum ist so proportioniert, dass er auch als Bühne und für Veranstaltungen dienen kann. „Die Grundidee war, alle gemeinsam nutzbaren Räume in einem Baukörper zu bündeln und dafür großzügiger zu gestalten“, so Tinchon. Nach außen gibt sich die Nebenraumspange dezent grau verputzt und verschlossen, innen aber sind ihre Fassaden aus Glas. Man sieht in die Werkstatt, wo Vogelhäus­chen darauf warten, vollendet zu werden. Links vom zentralen Durchgangsbereich des Foyers ist die Portierloge, rechts steht der Lift.

Räume, die unterstützen (maßgeschneiderte Details)

Der Lift führt in die Tagesförderstätte im ersten Stock. Hier werden erwachsene Behinderte mit höchstem Hilfebedarf betreut, durch das Über-Eck-Glas ihres Büros hat Leiterin Johanna Kienreich-Brandl das Foyer im Blick. „Man sieht sofort, wer kommt und geht.“ Vor dem Lift weitet sich der Gang zur kommunikativen Zone. Er wird von einem Oberlicht erhellt und verjüngt sich an beiden Enden zu Fenstern mit Aussicht. Alle Räume für die Behinderten sind im Südwesten. „Klare Strukturen tragen sehr dazu bei, dass sich die Menschen gut orientieren können. Dadurch gewinnen sie an Sicherheit und Stabilität. Man merkt stark, wie sich der Raum auf ihre Entwicklung auswirkt.“ In die weißen Wandschränke am Gang sind gelbe Garderobennischen mit Bänken eingeschnitten. Die ausziehbaren Kästen für Rollstuhlfahrer sind so hoch angebracht, dass sie drunterfahren und problemlos selbst hineingreifen können.

Die zwei Gruppenräume lassen sich mit einer Faltschiebewand verbinden oder trennen. Sieben schwer behinderte Menschen verbringen hier von 8:00 bis 15:30 Uhr mit bis zu sechs Betreuenden ihren Tag. Eichenparkett verströmt eine wohnliche Atmosphäre, jede Gruppe hat eine offene Küche. Man kocht und isst gern gemeinsam: Herdplatte und Spüle sind rollstuhlgerecht, alle Möbel orange. Glastüren sorgen für einen schwellenlosen Übergang auf die riesige Terrasse, die sich vor beiden Räumen erstreckt. In ihr Dach ist ein Oberlichtband geschnitten, das sich mit Jalousien beschatten lässt. Hier kann man wind-, regen- und sonnengeschützt bei fast jedem Wetter draußen sein. „Die Terrasse ist ein echtes Highlight. Die Leute sind gern da“, weiß Johanna Kienreich-Brandl, Leiterin Tagesförderstätten.

Das Pflegebad ist mintgrün gekachelt: große Fliesen am Boden, kleine Quadrate an den Wänden. Durch ein über Eck verglastes Fenster sieht man aus der Wanne in die Landschaft. Bei Bedarf schützen Jalousien vor Einblick. An den Schienen in der Decke, die vom Bad bis zum hinteren Bereich des Raumes führen, baumelt eine Hebehilfe: sie erleichtert den Betreuern ihre Arbeit.

Im Erdgeschoss liegt die Allgemeine Sonderschule Gleisdorf. Sie ist die größte in der Steiermark. 27 Lehrer, Lehrerinnen, Behindertenpädagogen und Therapeuten unterrichten hier derzeit 34 verhaltens­auffällige, schwerst- und mehrfachbehinderte Schüler und Schülerinnen zwischen sechs und 18 Jahren. Boden, Wände und die Bänke an den Gängen sind gelb. Dahinter liegen die Garderoben mit den weißen Schränken und die Bäder mit den Wickelliegen. Vier Klassen gibt es, jede hat ihre eigene Leitfarbe, höhenverstellbare Tische, rollstuhlgerechte Sanitäreinrichtungen, kleine, mittlere und große Sessel. Alle Räume öffnen sich barrierefrei ins Grüne. Jede Klasse ist in einen Lern-, Arbeits- und Ruhebereich gegliedert und umsichtig gestaltet. So gibt es beispielsweise in den offenen Küchen ausziehbare Schneidbretter für Rollstuhlfahrer. 130 Baubesprechungen und 70 Projektleitungssitzungen brauchte es, bis das Haus fertig war. Architekt Tinchon: „Viele Lösungen wurden in einem sozialen Prozess mit Nutzern und Auftraggebern erarbeitet. Wir sind sehr stolz, sie als kollektives Werk sehen zu können.“ Isabella Marboe, Wien
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