Zu einer konsensualen Richtschnur entwickeln

Im Gespräch mit … Reiner Nagel, Bundesstiftung Baukultur, Potsdam www.bundesstiftung-baukultur.de
Ja, wir brauchen eine Kultur des Bauens. Ist das schon Baukultur? Wir fragten den Vorstandsvorsitzenden der in Potsdam ansässigen Bundesstiftung Baukultur, Reiner Nagel, ob er mit diesem Begriff „Baukultur“ noch arbeiten kann in Zeiten, die vielleicht eher auf Disruption als auf Kontinuitäten setzen sollte. Denn die Zeit drängt und „Baukultur“ klingt da gerade nicht nach Dynamik, Tempo und nicht nach einer Antwort auf die drängenden Fragen, die vor allem die Jüngeren gerade stellen.↓

Lieber Reiner Nagel, seit gefühlt immer schon lenken Sie die Aktivitäten der Bundesstiftung Baukultur. Geht Ihnen das Thema „Baukultur“ nicht manchmal auch ein wenig auf die Nerven? Baukultur, Baukultur, Baukultur!? Nutzt sich der Begriff ab oder hat er sich über die Jahre schärfen können?

Reiner Nagel: Nein, der Begriff hat sich für mich bis heute – erstaunlicherweise – kaum abgenutzt, er ist immer noch sehr sprechend und griffig und wird vor dem Hintergrund aktueller Fragestellungen beim Planen und Bauen noch konkreter. „Baukultur“ ist ein Synonym, das immer noch und immer wieder gefüllt werden kann. Der Begriff ist mehr als 100 Jahre alt und war ursprünglich eher mit traditioneller oder moderner Baukunst, Ingenieurbaukunst, Stadtbaukunst verbunden. Bis heute vermuten viele hinter der Baukultur zunächst einmal Denkmalpflege und ästhetische Fragen. Wir aber sehen Baukultur sehr viel umfassender und insofern ist der Begriff für mich erst einmal ein Gefäß, dessen Form immer wieder definiert und ausgefüllt werden kann. Aktuell aber habe ich den Eindruck, dass immer mehr Menschen das Baukulturelle weitergefasst verstehen, dass es eine Plattform darstellt, auf der die am Bau Beteilig-ten miteinander ins Gespräch kommen. Also, den Begriff „Baukultur“ gilt es fortlaufend zu füllen. Konkret mit dem Begriff verbunden sind zwei Dinge, erstens als Handlungsebene die Summe aller menschlichen Leistungen, unsere Umwelt zu gestalten. Das wäre allerdings zu wenig und darum zweitens eine reflektierte Haltung, hochwertig, kontextbezogen und verantwortlich zu planen und zu bauen.

Das „Hochwertige“ ist genau der kritische Punkt, der die Handhabbarkeit des Begriffs so schwer macht. Baukultur allgemein auf all das zu beziehen, was Artefakt ist, macht den Begriff für die Arbeit der Bundesstiftung nutzlos. Denn damit gehört ja auch das unterdurchschnittliche Bauen zur Baukultur. Sie wollen aber der Gesellschaft eine Qualität im Bauen näherbringen und weniger erklären, dass das Bauen allgemeiner Ausdruck unserer Kultur ist.

Wir müssen in unserer Arbeit über das allgemein Kulturelle, das Sie gerade beschrieben haben, ­hinausgehen. Wir müssen Perspektiven aufzeigen, weil der Anspruch an Qualität auch mit Verantwortung gegenüber der Gesellschaft zu tun hat. Natürlich ist McDonalds, ist Fastfood für viele geübte Praxis unserer Esskultur; aber eben keine gute. Tatsächlich werden Sie, wenn Sie auf der Straße die Menschen zu Esskultur befragen, ganz konkrete Antworten erhalten, denn es gibt das Wissen über Kochsendungen, über gute Produkte aus der Region, über gute Zubereitung und den guten Wein dazu. Mit „McDonalds!“ wird auf diese Frage niemand antworten.

Beim Wein gibt es die Bezugsjahrgänge, die regionalen Orientierungspunkte. Das wird bei der Baukultur schon schwieriger. Oder?

Ja, Baukultur lässt sich nicht jahrgangsweise oder baualtersklassenweise sortieren. Meines Erachtens entdecken wir Baukultur bei der Trennung des Weizens von der Spreu. Wir kommunizieren über das gute Beispiel und bilden hierdurch Maßstäbe. Die Schweizer zum Beispiel sprechen von „hoher Baukultur“. In der Davos Declaration von 2018 ist von „high-quality Baukultur for Europe” die Rede. Wenn Sie sagen, es gibt das Bauen, das wir nicht als Baukultur bezeichnen, würde ich sagen, ja es gibt ganz viel Bauerei. Aber darüber reden wir jetzt nicht, auch wenn es einfach wäre, Bausünden zu stigmatisieren.

Baukultur hat immer was mit Haltung und Verantwortung zu tun, mit Qualitätsansprüchen. Für diese Themen finden wir zum Glück immer mehr Verbündete im System. Beispielsweise aktuell die Immobilienwirtschaft, bei der wir das Thema Verantwortung zunehmend verankern wollen. So haben wir den „Kodex Baukultur für die Immobilienwirtschaft“ erarbeitet, zusammen mit dem ICG-Institut für Corporate Governance in der Immobilienwirtschaft. Und das haben wir deshalb gemacht, weil wir in der Konstellation der am Bau Beteiligten unterschiedliche Motivationen sehen. Hier haben wir die Architekten, die Ingenieure, die ausführende Bauwirtschaft, die Gewerke. Sie alle unterliegen durch Berufsordnungen Güteanforderungen. In der Immobilienwirtschaft ist das anders. Klar, es gibt den ehrbaren Kaufmann, es gibt Ordnungsethik und interne Fairnessregeln, aber eine ausgesprochene Verpflichtung der Bauherrschaft gegenüber der Gesellschaft gibt es in diesem Bereich nicht. Mit Blick auf die weitreichenden Auswirkungen und Dauerhaftigkeit jeder Entscheidung von Bauherrn für die gebaute Umwelt, bieten wir nun diesen Kodex Baukultur an. Es geht um eine Selbstverpflichtung, umfeldbezogen, prozessual und integriert zu planen. Vom Ergebnis aus denkend, lebenszyklusbezogen und nicht dominant renditeorientiert. Das führt schon mal dazu, dass in bessere und langlebigere Materialien investiert wird. Den Lebenszyklus als Thema für die Immobilienwirtschaft zu verankern, ist richtig und funktioniert inzwischen zunehmend. Und das durchaus im eigenen Interesse der Unternehmen, die künftig vermehrt ESG Anforderungen, also Environmental, Social, Governance Investitionskriterien erfüllen müssen. Das betrifft auch das Thema der Klimaverträglichkeit des Bauens. Also Rezyklierbarkeit, CO2-Fußabdruck, regionale Baustoffe, Transporte von Baumaterial. Das führt letztlich dazu, dass wir über die notwendige Vermeidung von CO2 in eine ganz andere Diskussion hochwertigen Bauens kommen. In diesem Zusammenhang sehe ich eine neue Relevanz für das Handlungsfeld Baukultur.

Gibt es eine Bauunkultur, wenn es eine Baukultur gibt?

Ja, auf jeden Fall. Bauunkultur ist unreflektiert, unabgesprochen, eindimensional in der Entscheidungsstruktur. Als Bauwerk undifferenziert, klobig, unvermittelt und seelenlos. Einfach nur Dinge zu bauen, um schnell viel Geld zu verdienen …

Womit unsere Baukultur doch auch beschrieben wäre … unreflektiert, renditeorientiert, eindimensional …?

Das ist der Ausdruck eines Teils unserer Realität, die ich aber, wie gerade schon gesagt, eher als Bauerei bezeichnen würde. Es gibt die Bauerei, aber noch zu wenig Baukultur.

Der Begriff der Baukultur leidet unter seinem ständigen Gebrauch. Wenn ich in Ihren Publi­kationen von der „guten Baukultur“ lese, drängt sich mir der Eindruck auf, die Bundesstiftung traut der einfachen Baukultur auch schon nicht mehr so ganz. Sind Sie da selbst nicht auch auf der Suche nach einem anderen Begriff, um von der Bauerei wieder zur Architektur zu kommen?

Ja, wäre Architektur alles, wäre ich sofort bei Ihnen, aber Baukultur ist weit mehr als Architektur. Es ist das ganze Thema des Ingenieurwesens, der landschaftlichen Standortplanung, des guten Handwerks und allem, was damit verbunden ist.

Die Architekten als Baumeister … Mit Blick auf die anstehenden, enormen Aufgaben und ebensolche Potentiale in der Bauwirtschaft sollten wir da wohl nicht mehr von guter oder hoher Baukultur sprechen, nicht mehr zuerst von Fassaden und schönen Plätzen, sondern vom Umbau eines für dieses Land so zentralen Wirtschaftszweigs?

Ja, aber ganz sicher brauchen wir dafür das Motiv des guten Gestaltens, der Schönheit. Natürlich erwische auch ich mich dabei, dass ich von hochwertiger Baukultur rede, was im Grunde eine Tautologie ist. Aber dennoch: Es geht uns nicht darum, das zuweilen verrohte Bauen als Baukultur aufzuwerten, sondern es geht uns um die virtuo­se Anwendung der Kulturtechniken Planen und Bauen. Also um das höhere Marktsegment. Wir müssen von dieser inzwischen fast schon allgemeinplatzfähigen „Nachhaltigkeit“ zu einer baukulturellen Ganzheitlichkeit kommen. Und wenn in politischen Reden immer häufiger floskelhaft vom „Nachhaltigkeitsdreieck“ die Rede ist, wird systematisch die Kultur als vierte Säule vergessen. Wir teilen diese vierte Säule auf in die räumlichen Konsequenzen unseres Handelns und die Kulturtechnik der Zusammenarbeit der Planenden, der Bauwirtschaft, der Bauherrschaft und der Nutzenden.

Wir beide unterhalten uns hier gerade gepflegt und die Jungen rufen auf der Straße – sehr laut – nach Handeln. Mit Matthias Sauerbruch sprach ich über das Thema Geschwindigkeit des Reagierens und ich war beinahe enttäuscht, als er sagte, dass Sauerbruch & Hutton die Welt nicht retten werden, dass sie sich sowieso ständig entwickeln, dass sie auf die Zeitläufte reagieren und ständig dran seien, das Beste zu versuchen [DBZ 01 | 2022]. Ich habe das Gefühl, dass das nicht mehr reicht, immer so weiter nach dem Bes-ten zu streben. So sind wir nicht schnell genug, fünf Minuten nach Zwölf. Architects for Future fordern sofortiges Handeln, mit Baukultur kann man denen nicht mehr kommen.

Wenn Matthias Sauerbruch sagt, wir versuchen ständig unser Bestes, dann heißt das ja auch: Keep your Standard! Und keep your Standard ist bei den Besten der Szene schon sehr viel und immer wieder eine Herausforderung, auch unter Zeit­as-pekten. Ansonsten haben Sie recht, wir müssen mehr tun, aber das schon längst, lange vor Architects for Future. Ich habe in den 1980er-Jahren studiert, da gab es schon – heute würde man „Aktivisten“ sagen – Gernot Minke und Dirk Althaus zum Thema Ökologisches Bauen. Die haben das angesprochen, was nun 30 Jahre später Architects for Future fordern, hoffentlich konsequenter im eigenen Tun als in Teilen unserer Generation.

Die Zeit drängt und das gibt der Baukultur die große Chance, aus einem Experten- und Nischenthema heraus diskursive und auch sehr greifbare Relevanz zu entwickeln. Wenn wir mehr Umbau machen würden – wir schreiben gerade an einem Baukulturbericht „Neue Umbaukultur“, das wichtigste Thema der Zukunft –, also den Bestand so umbauen, dass wir möglichst viel der hier schon gebundenen Energie erhalten, verwandeln wir die sogenannte graue Energie in goldene Energie für unsere Gesellschaft.

Goldene Energie!? Das klingt überzeugend, kommt das von Ihnen?

Ja, wir finden „graue Energie“ klingt eher nach „Momo“ und den „grauen Herren“ und funktioniert nicht so gut als Bild, das Sympathieträger für das bauliche Potential von Bestandsgebäuden sein soll.

Bei „Bild“ komme ich auf die „Ampel“, die aktuell auf der Regierungsbank leuchtet. Bedeutet das auch für Ihre Arbeit etwas Neues?

Wir sehen es als Erfolg, dass wir nach vielen Legislaturperioden endlich wieder ein eigenes Bauministerium haben und damit eine direkte Stimme für Baukultur im Kabinett. Der Koali­tionsvertrag ist auch für die anderen Ressorts voller Hinweise und Aufträge, bei denen Baukultur Teil der Lösung ist: beim Klimaschutz, beim Verkehr, bei der Wirtschaft. Planen und Bauen können hier über die gesellschaftliche Bedeutung hinaus struktur- und umweltpolitisch wirksam werden.

Ich fasse zusammen: Sie lassen nicht vom Begriff Baukultur, wollen ihn nicht durch einen ersetzen, der stärker zieht …?

Ja, ich sehe in der Diskussion um den Begriff an sich keine hohe Relevanz. Wichtiger ist es mir, das Wort tatsächlich als Handlungsebene zu begreifen und mit Inhalt und Bedeutung weiter zu füllen. Wenn ich zurückschaue, kann ich erkennen, dass wir mit „Baukultur“ einen hervorragenden Begriff haben, den wir immer weiter aufladen können. Man könnte auch sagen: „Breiter Weg“ ist doch kein guter Straßenname und doch steht er als „Broadway“ für das schillernde Theaterviertel New Yorks.

Nun wäre „Broadway“ eher Glamour, ist Baukultur vielleicht ein Kampfbegriff?

Eher Handlungsebene, auf die sich viele Bauschaffende, Politik und Gesellschaft verständigen können. Als Kampfansage sehe ich ihn eigentlich nicht. Wenn wir in die Runde fragen, ob jemand da sei, der schlechte Architektur macht, dann wird doch niemand die Hand heben! Ich glaube nicht, dass wir mit „Baukultur“ Bauschaffenden auf die Füße treten müssen.

Ich nehme den „Kampfbegriff“ auch wieder zurück. Ist „Baukultur“ im Gegenteil nicht eher zu dezent, zu wenig kämpferisch?

Ich würde eher von einem zu wenig vorgebildeten, eingeschränkten Blick sprechen, der auf das Baukulturelle gerichtet ist. Tatsächlich haben Umfragen ergeben, dass über die Hälfte der Menschen mit Architektur und Baukultur nicht viel verbinden können. 23 Prozent vermuten, dass Baukultur mit alten Gebäuden zusammenhängt, 18 Prozent sehen Städtebau als Thema und so weiter. Aus diesem Grund ist es für uns prioritär, die Relevanz deutlich zu machen und den Begriff mit Inhalt so zu füllen, dass die persönliche Betroffenheit deutlich wird. Dass Baukultur so verstanden immer wichtiger wird, kann ich aus vielen beruflichen Fragestellungen bestätigen. Architektur- und Stadtentwicklungsthemen, städtebauliche Fragen, freiraumplanerische Aufgaben, unsere Infrastrukturen Straße, Schiene, Wasser und Hochwasser und natürlich die Fragen von Wohnen und Arbeiten. Baukultur ist als System interdisziplinär.

Das Bauen ist mehr als Architektur und Kultur ist am Ende alles?!

(zögerlich) Ja, um am Ende ein gutes Ergebnis im Sinne von Baukultur zu erzielen, da treffen sich vielleicht diese beiden Gedanken. Um zu verstehen, was mit Baukultur erreicht werden kann, braucht es interdisziplinären Sachverstand und Zusammenarbeit. Wir reden mit allen Bauschaffenden und sprechen sie auf ihre Verantwortung hinsichtlich des Ergebnisses an. Denn am Schluss hat es ja jemand gemacht! Und noch mal zur Architektur – obwohl Architektinnen und Architekten uns mitbegründet haben und maßgebliche Träger der Stiftung und des Fördervereins der Baukultur sind – liegt ein echter Mehrwert darin, fachübergreifend zu kooperieren und hierfür einen gemeinsamen Nenner zu finden. Und deshalb noch einmal – Sie sehen immer noch unzufrieden aus –, ich finde, dass der Begriff „Baukultur“ ein sehr guter ist. Dass dieser Begriff – akademisch und architekturgeschichtlich auf seiner semantischen Ebene mitunter kritisiert wird, macht ihn nicht schwächer. Stichwort „rechte Räume“: Hier werden bei der Baukultur das kulturpolitische und die in ihm liegenden Bedeutungen – aus meiner Sicht – bezogen auf die heutige Situation überinterpretiert. Das sind eher Fragen einer zu engen Debatte um Heimat und nationale Identität. Kultur und Baukultur sind dagegen übergreifende Themen. Uns geht es darum, den Begriff „Baukultur“ stärker ins allgemeine Bewusstsein zu heben und ihn zu einer konsensualen Richtschnur eines gemeinsamen Handelns beim Planen und Bauen zu entwickeln.

Vielleicht können wir Baukultur dann doch als Ausdruck menschlichen, bewussten Bauschaffens verstehen und damit alle in die Verantwortung nehmen?

Ja, mit diesem eher weitgefassten Ansatz machen wir Baukultur auch zum Türöffner. Wir hatten hier vor zwei Wochen ein Treffen zum Thema „Die regulative Ebene der Umbaukultur“, da waren Architects for Future genauso beteiligt wie die Denkmalpflege, die Planungsverwaltung der Städte und die Fachjuristen. Die konnten mit diesem Begriff genauso viel anfangen wie die Bau- oder die Immobilienwirtschaft. Das deutet doch auf die Qualität dieses Begriffs hin, der in vielen Bereichen anschlussfähig ist, und auch so sein muss: nicht ausgrenzend, sondern das meiste einbeziehend.

Mit Reiner Nagel unterhielt sich DBZ-Redakteur Benedikt Kraft am 9. Dezember 2021 in den Räumen des Fördervereins der Bundesstiftung im DAZ, Berlin.

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