Immer diese (verantwortungslose) Baukultur

Gehört unbedingt zur Baukultur in ­diesem Land: Umbaumaßnahmen im Bestand (Norderney)
Foto: Benedikt Kraft
Gehört unbedingt zur Baukultur in ­diesem Land: Umbaumaßnahmen im Bestand (Norderney)
Foto: Benedikt Kraft
Eigentlich scheint alles klar: Baukultur ist eine Sektion in der Kultur, die insbesondere Planerinnen und Ingenieure, Verbände, Kommunal- und Bundespolitik angeht. Und natürlich Sie, die Sie das hier lesen. Aber dann las ich gestern bei Kollegen der Fachpresse vom Schweizer Heimatschutz, über dessen Arbeit gerade ein Buch erschienen ist, „Baukultur erhalten“. Das Buch inspiriere, so die Kollegen, zum auch in diesem Land „wertschätzenden Umgang mit […] Baudenkmalen“. Da ist es wieder, das am Ende zu Nichts führende Missverständnis von Baukultur!

Seien Sie ehrlich: Es nervt Sie auch! Verbände, Verlegerinnen, Vereine, Ausstellungsmacher und Architektinnen, aber auch die Politik proklamieren im Wochentakt „mehr Baukultur“ in diesem Land oder sehen Baukultur als bedrohte Spezies (?) an. Man verlöre immer mehr (gebaute Masse), Abrisse (von Denkmalen und Bauten geschätzter Kollegen – mir fällt gerade keine Kollegin ein) bedrohten die Baukultur in diesem Land wie lange nicht. Es gibt zahlreiche Web-Initiativen, die, von „Erstunterzeichnern“ angeführt, um weitere Stimmen für den Erhalt und gegen einen Abriss von diesem oder jenem baulichen Zeugen von Baukultur aufrufen. Die Unterschriftenlisten unter den Aufrufen, Appellen, Mahnungen und Wegweisungen werden dann entweder als „Offene Briefe“ gehandelt, oder den zuständigen und Verwaltungsabteilungen der Kommunen zugeleitet, die den Abriss erlaubt, geduldet, angetrieben haben.

Erklärt wird das Engagement zumeist mit dem Hinweis darauf, dass es sich bei den bedrohten Bauten um „Zeugnisse“ eines „architektonischen Erbes“ handle, um ein „Symbol für den Städtebau der Nachkriegszeit“, dass mit seinem Verschwinden unterm Bauschutt die Gesellschaft – meist die Stadtgesellschaft – ein „architektonisch geschichtlich wichtiges Gebäude“ verlöre. Und damit einen Teil ihrer Identität. Wobei, und das sei hier einmal unterstellt, dieser letztere Verlust nur die Hirn- und Herzkammern derjenigen adressiert, die sich über die Identität des Verlorenen bewusst sind, vulgo, sie den Architekten oder auch mal die Architektin in den Kontext deutscher, gar internationaler Architekturgeschichte einordnen können.

Vom Missbrauch eines Begriffs

Ikone der „Baukultur“: die von Hans Döllgast reparierte Alte Pinakothek, München
Foto: Benedikt Kraft

Ikone der „Baukultur“: die von Hans Döllgast reparierte Alte Pinakothek, München
Foto: Benedikt Kraft
Natürlich gibt es auch Neubauten, die die Baukultur bedrohen, wenn wir davon ausgehen, dass „Baukultur“ das meint, was der heutige König von England und damalige Prince von Wales, Charles, angesichts des Modells eines Erweiterungsbaus der National Gallery am Trafalgar Square mit „monstrous carbuncle“ bedroht sah. Und – offenbar angeschoben von diesem traumatischen Erlebnis – selbst Hand anlegte in Sachen Baukultur: Er realisiert – bis heute? – in der südenglischen Grafschaft Dorset die Planstadt Poundbury nach den in seinem Buch „A Vision Of Britain“ entwickelten gestalterischen Grundsätzen. Vergleichbares hat es in Deutschland jüngst nur in Frankfurt a. M. gegeben mit dem „Dom-Römer-Projekt“, einem Komplettwiederaufbau der im Krieg 1939-45 zerstörten Altstadt, dessen Realisierung wesentlich durch die Frankfurter Bürgerschaft und Einzelpersonen initiert und in Teilen auch gestalterisch mitbeeinflusst war. Der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche, des Berliner Schlosses oder der Garnisonkirche (bisher nur der Turm mit Kapelle) und des Barberinis, beide in Potsdam, sowie zahllose weitere, auch einmal nur in Teilen realisierte Rekonstruktionen unseres baukulturellen Erbes verweisen auf zweierlei: das Baukulturelle wird zum unverzichtbaren Teil nationaler oder doch regionaler Kulturgeschichte deklariert und zweitens basieren all diese Wiedererweckungen auf der Begründung, man wehre sich gegen einen zunehmenden Identitätsverlust. Dass dieser tatsächlich als ein Phänomen einer kleiner gewordenen, digital annähernd komplett durchwirkten Gegenwart wahrgenommen werden kann, ist unbestritten, ebenso die wachsende Sehnsucht nach Orientierung in einer zunehmend von Orien­tierungspunkten befreiten Alltagswelt. Doch wer verliert hier eigentlich in welchem Umfang wessen Identität?

Es geht also in der Sorge um den Erhalt von Baukultur um die Angst vor Verlust. Was beim Abriss offensichtlich ist, ist beim Neubau erklärungsbedürftig. Oder man sieht Abriss und Neubau in einem Zusammenhang, so wie man es beim Neubau einer Grundschule in der ostwestfälischen Kleinstadt Halle nachvollziehen konnte. Hier verlässt eine Grundschule gerade ihren Altbau und zieht in den Ersatzneubau. Die alten Grundschule, Baujahr 1902, wird abgerissen, ihren letzten Tag feierten Schulkinder und Lehrkräfte mit einem Abschiedsfest, bei dem es hieß „Tschüss, altes Haus!“

Gemeinsamen Nenner finden

Ist das Baukultur? Ja. Wohnsiedlung in Neu-Ulm
Foto: Benedikt Kraft

Ist das Baukultur? Ja. Wohnsiedlung in Neu-Ulm
Foto: Benedikt Kraft
Tschüss Geschichten und Geschichte, tschüss Identität? Nun ist/war das alte Schulgebäude weder Denkmal noch Zeugnis eines architektonischen Erbes. Und dennoch war es ganz offenbar – das konnte man während des Abschiedsfestes erkennen – wesentlicher Teil der Baukultur einer Kleinstadt. In einem Gespräch vor gut zwei Jahren mit Reiner Nagel (DBZ 02|2022), dem Baukulturverwahrer unseres Landes und Vorstandsvorsitzender der in Potsdam (!) ansässigen Bundesstiftung Baukultur, fragte ich ihn auch, ob der Begriff der „Baukultur“ am Ende nicht zu sehr auf die Architektur als Gebautem fokussiert sei, um ihn diskursiv aber auch ganz praktisch ins alltägliche Bauen einbringen zu können. Reiner Nagel darauf: „Um zu verstehen, was mit Baukultur erreicht werden kann, braucht es interdisziplinären Sachverstand und Zusammenarbeit. [...] Und deshalb noch einmal [...], ich finde, dass der Begriff ‚Baukultur‘ ein sehr guter ist. Dass dieser Begriff – akademisch und architekturgeschichtlich  – auf seiner semantischen Ebene mitunter kritisiert wird, macht ihn nicht schwächer.“

Meine Bedenken, dass mit „Baukultur“ auch das „Erbe“ und nationale Identität mitschwinge, kommentierte der Vorsitzende: „Stichwort ‚rechte Räume‘: Hier werden bei der Baukultur das kulturpolitische und die in ihm liegenden Bedeutungen – aus meiner Sicht – bezogen auf die heutige Situation überinterpretiert. Das sind eher Fragen einer zu engen Debatte um Heimat und nationale Identität. Kultur und Baukultur sind dagegen übergreifende Themen. Uns geht es darum, den Begriff ‚Baukultur‘ stärker ins allgemeine Bewusstsein zu heben und ihn zu einer konsensualen Richtschnur eines gemeinsamen Handelns beim Planen und Bauen zu entwickeln.“

Nun scheint das nicht gelungen zu sein, die „Baukultur“ zu einer Sache für alle zu machen. Immer noch arbeitet das Baukulturelle mit der sogenannten – und historikerseits längst ablegten – Begrifflichkeit der „Hochkultur“; oder wie am Anfang geschrieben wurde, mit einer von Hoheitsseite (Denkmalpflege) zertifizierten Kultur des Bauens. So lange wir „Baukultur“ nicht als Bild und weniger als Ziel verstehen, wird sich im Umgang mit unserer Baukultur – also jedem von Menschenverstand und Menschenhand gebauten Haus – nichts ändern und wenn es gut läuft, feiern wir immerhin noch eine Abschiedsparty, bevor die Bagger anrollen: Tschüss, altes Haus.

Baugeschichte schreiben

Baukultur – endlich einmal ohne An- und Abführungszeichen – sollten wir endlich so verstehen, dass jeder Umgang mit dem Gebauten Teil unserer Kultur ist. Abriss ist damit ebenso Baukultur, die sich allerdings dann auf dem Niedergang befindet. Aber kann man von Niedergang sprechen, wenn das Kulturelle am Ende und irgendwie auch relativiert „alles“ ist? Alles, was wir tun und nicht tun? Wenn wir immer nach Gründen suchen, etwas abreißen zu können/zu müssen, ist das Ausdruck unserer kulturellen Identität. Dass wir damit allerdings Baugeschichte schreiben, die für unser ökonomisches Überleben – weil Abriss wie auch Ersatzneubau immer die Verweigerung von grundsätzlicher Innovation ist – und natürlich langfristig geschaut auch für unser biologisches Überleben schlechte Prognosen stellt, das sollte uns bewusst sein. Ganz richtig deutet Reiner Nagel in dem Gespräch die „graue Energie“ in „goldene Energie“ um. Wie wäre es, „Baukultur“ durch „Bauverantwortung“ zu ersetzen? Das klingt nicht schön, aber Verantwortung zu übernehmen, hat mit Schönheit auch nichts zu tun, eher mit Engagement für die Gemeinschaft, was dann am Ende auch schön werden kann … was immer „schön“ dann auch ist! Und weil wir nun alle, die wir planen, in Häusern leben und arbeiten, diese kaufen und verkaufen und über das alles berichten, für die Entwicklung des Baukulturellen Verantwortung tragen, ist „Bauverantwortung“ dann das Beschreibende, das niemanden ausschließt. Nun sind Sie gefragt und ich und wir alle, wenn wir das Bauen in verantwortlicher Weise voranbringen wollen. Auf welche Weise wir Verantwortung übernehmen, das wiederum bleibt jedem selbst überlassen in ihrem, in seinem baukulturellem Wohl- oder Missempfinden. Und vielleicht nervt die Baukultur dann auch nicht mehr, ist sie doch zu unserem ganz eigenen Projekt geworden. Benedikt Kraft/DBZ

www.bundesstiftung-baukultur.de
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