Kultur-/=Buchgeschichte
Wie heißen die drei Begriffe noch, mit denen wir uns das Baukulturelle immer wieder um die Ohren hauen? Venustas, Firmitas und Utilitas, von Vitruv anders gereiht, hier in der Präferenzreihung des Rezensenten. Vitruv, gerne auch als Marcus Vitruvius Pollio zitiert (weil man ihn eben kennt, den vor über 2 000 Jahren geborenen ersten Architekten), kommt immer dann ins Spiel, wenn es um das Grundsätzliche in der Architektur geht. Oder dann, wenn man nicht weiterweiß.
Der Mann, der wohl Bauingenieur war, hat uns neben einer in der Urheberschaft nicht geklärten Basilika im italienischen Fano die „De architectura libri decem“ hinterlassen, die legendären Zehn Bücher über die Architektur; genauer: über das Bauen, denn der Konstrukteur von Kriegsmaschinen und Aquädukten hat über das Bauen insgesamt geschrieben. Und dabei Regeln formuliert, die bis heute den Architekturdiskurs beflügeln oder ihn lähmen, je nachdem.
Und hier nun kommt eine kleine Publikation gerade recht, der wir eine ganz besondere Biografie der Libri decem entnehmen können, die man weniger literarisch auch mit kritischer Editionsgeschichte beschreiben sollte.
Ziemlich zu Beginn lese ich, dass es von dem Manuskript des Vitruv kein Original mehr gibt, es gibt Abschriften, sogenannte Codices, die gut 1 500 Jahren brauchten, bis Johannes Gutenberg und Leon Battista Alberti auftraten – hier der Erfinder des Buchdrucks in Europa, da der Architekt und gebildete Renaissance-Mensch. Beiden haben wir es zu verdanken, dass die Zehn Bücher Vitruvs ihre bis heute andauernde Geschichte haben, deren Wirkmächtigkeit die vorliegende Publikation eben nicht über die unsichere Textschiene herausarbeitet, sondern über die Editionsgeschichte.
Tatsächlich gibt es bis heute mehr als 100 ernstzunehmende Verlegerarbeiten, die erste wohl aus dem Jahr 1486, die letzte ist noch nicht editiert. André Tavares versucht nun, in der Durchsicht und Kommentierung dieser Editionen, die Vitruvgeschichte, wie sie geworden ist, über einen einzigen Link vom Anfang bis heute sichtbar zu machen. Denn natürlich haben alle Verleger als Autoren gehandelt, haben die bilderlosen codices mit Anschauungsmaterial gefüllt, das sie an anderen (Druck-)Orten fanden. Berühmtes Beispiel ist die Proportionsskizze da Vincis, die dieser aus Vitruvs Texten zum Goldenen Schnitt entwickelte, die jedoch mit dem antiken Autor ursächlich nichts zu tun hat.
Der Link nun ist die Darstellung des von vier Säulen gefassten cavaedium, das Vitruv kurz als zentrales Bauteil des Wohnhauses beschreibt und das in der ersten Druckfassung gleich ein Bild erhält. Und in den folgenden Ausgaben wieder, andere.
Diese Veränderungen analysierend offenbart uns der Autor – auch mit dem Blick auf tatsächlich Gebautes – vor allem die Entstehungs- und Wirkgeschichte eines Werkes, das längst nicht mehr die Arbeit eines Einzelnen ist sondern die eines Kollektivs, das am gemeinsamen Kulturellen festhält. Das im Hinterkopf könnte den Diskurs über das „richtige“ Bauen verändern. Heute! Be. K.