Ich hätte keine 100.000 € mehr gebraucht
Die Stadt Nürnberg beginnt spät aber nicht zu spät mehr für die RadfahrerInnen zu tun. So wurde ein Fahrradparkhaus am Hauptbahnhof eröffnet, ein mehr als 100 m langer, luftiger Pavillonbau. DieGemeinschaftsproduktion von Architekten und Tragwerksplanern schauten wir uns vor Ort an und sprachen mit denen, die „die Diskussion und Reibung“ im Planen durchaus schätzen.
Glückwunsch zu dem gelungenen Projekt! Wie sind die Reaktionen? Der Fachwelt, den NutzerInnen? Wie wird der Fahrradspeicher hier am Hauptbahnhof wahrgenommen?
René Rissland (RR): Von Kollegen bekommen wir viel Zuspruch: „Gratulation, habt ihr super gemacht.“ Aber auch von den Nutzern, Rückmeldungen von Freunden, Bekannten, da kommen Sätze wie: „Ich habe mein Fahrrad gestern mal in eurem Haus abgestellt. Superding!“
Superding … Könnte man statt „Fahrradspeicher“ drüberschreiben. Aber gab es auch Anmerkungen zu Schönheit, Eleganz, dem Thema der Angemessenheit jenseits des Gelungenseins?
Martin Kotissek (MK): Generell versuchen wir immer auch den Aspekt der Schönheit in unserer Tragwerksplanung zu berücksichtigen. Aber es ist leider wirklich so, dass die Resonanz auf das Tragwerk eines Fahrradparkhauses eher untergeordnet ist. Vielleicht weil es eben so schlicht ist und nicht wirklich in den Vordergrund tritt. Es ist selten, dass man darauf angesprochen wird, meist eher mit dem sehr allgemeinen Tenor, wie ihn René gerade schon andeutete.
Was doch auch schade ist, wenn Architektur, die eine öffentliche Nutzung hat, zuerst als „Superding“ wahrgenommen wird?!
RR: Nun ja, „Superding“ ist so schlecht ja nicht. Es beschreibt doch die positive Wahrnehmung dessen, was wir hier geschaffen haben. Und wieso schade?! Ist es nicht so, dass der dynamische Effekt in unserer Fassade, die Ästhetik des Moirés, das Flimmern direkt aus dem Tragwerk kommt, das das Ergebnis einer interdisziplinären Transferleistung, also unserer gemeinsamen Arbeit darstellt?
MK: Ich weiß gar nicht, ob das Flimmern von den Passanten als eine planerische Leistung wahrgenommen und nicht eher als einfach vorhanden, als eine Selbstverständlichkeit aufgefasst wird.
RR: Du meinst, dass die Fassade gar nicht als Tragwerk wahrgenommen wird?
MK: Genau.
Das wäre auch eine Überforderung. Aber noch mal zum „schade“: Da plant man gemeinsam eine Fassadenkonstruktion, zerbricht sich den Kopf und erreicht am Ende Schönheit und Zweckmäßigkeit und keiner merkt es … Ist das motivierend?
RR: Ich denke, dass der Neubau an dieser Stelle schon als gestaltet wahrgenommen wird. Zwar dezent und unaufdringlich, aber auch mit einem gewissen Wiedererkennungswert. Eine zentrale Fahrradgarage in Nürnberg braucht das auch als Zeichen einer fahrradgerechteren Stadt. All das sind Gründe, warum wir uns intensiv Gedanken darüber gemacht haben, wie man die banale Stützfunktion eines Tragwerks so verändern kann, dass sie wesentlicher Teil der Fassade wird.
Jetzt sind wir schon sehr beim Tragwerk, zu dem wir später noch mal kommen. Wie würdest du das Gestalterische des Fahrradspeichers skizzieren?
RR: Wir hatten im Zuge der Mehrfachbeauftragung die Aufgabe, ein Baufeld mit diesem Funktionsbauwerk zu besetzen. Der Fahrradspeicher musste ziemlich lang werden, 102 m etwa. Das war annähernd die komplette Länge des Baufeldes, um die geforderten 400 Fahrradparkplätze darin unterzubringen. Zudem durfte der Speicher auch nicht zweigeschossig sein, er hätte ansonsten den Bahndamm dahinter überragt. Unser Konzept sah vor, die Fahrräder zur Bahnseite in Doppelstockparkern unterzubringen. Zur Platzseite wollten wir möglichst transparent und offen arbeiten, um Angsträume zu vermeiden und eine Adresse zum Platz auszubilden. Deshalb sind dort nur ebenerdige Parkanlagen installiert, vor allem auch für diverse Sonderräder, Lastenräder und Anhänger.
Natürlich kam als nächstes zwangsläufig die Frage auf, wie wir mit der Länge des Bauwerks umgehen sollten? Bei der Fassadenausbildung gab es anfangs deshalb auch unterschiedliche Ansätze. Da war die Idee, die Länge zu brechen, die Fassade in Segmente zu teilen. Aber wir haben schnell erkannt, dass wir die Garage in ihrer vollen Länge zeigen wollen, ja, dass wir sie betonen und ihr eine Dynamik geben müssen. Das bezieht sich nicht nur auf die Bewegungsabläufe beim Fahrradfahren, sondern nimmt auch Bezug zu den oberhalb fahrenden Zügen und zu den Bahngleisen. Und ganz nebenbei haben wir eine Bahnhoffassade für die Südstadt kreiert, ein Rückseitenbild, das auch Entrée sein könnte.
Das ist definitiv so. Ab welchem Zeitpunkt war dann Tragraum mit dabei? Haben die Tragwerksplaner am Schräggestrebten der Fassade mitgewirkt?
RR: Wir arbeiten oft mit Tragraum schon in den Wettbewerben zusammen. Generell binden wir unsere Ingenieure und Landschaftsarchitekten schon früh in unsere Projekte mit ein. Wir schätzen die Diskussion und Reibung. Bei Tragraum sind wir sicher, dass das Team nach Lösungen sucht, die unserer Auffassung von Architektur entsprechen. Und auch hier beim Fahrradspeicher gab es ein Hin und Her, wir haben viel ausprobiert und bekamen immer Feedback, was uns am Ende zu diesem Ergebnis geführt hat.
MK: Die erste Idee, in die Richtung dieser Speichenstruktur zu gehen, kam von den Architekten, der Moiré-Effekt war da schon da. Von uns wurde dann vorgeschlagen, diese Speichenstruktur ohne weitere Stützkonstruktionen auch gleich als Tragkonstruktion zu nutzen. Ich würde sagen, dass das, was wir heute hier sehen, anders wäre, wenn wir erst nach der Entwurfsentwicklung eingebunden worden wären.
Wie seid ihr auf das Material gekommen?
RR: Das Gebäude oder seine Struktur lebt von der Filigranität. Wenn man sich die Struktur anschaut, sieht man Stützenprofile in der Größenordnung eines normalen Handlaufs. Das ist von der Materialität her – bei genormten Baustoffen – nur mit Stahl umsetzbar. Das haben wir dann in unserem Entwurf so umgesetzt, besprochen mit Tragraum. Dann kamen natürlich Fragen nach dem gesamten Tragwerk, wie das eine mit dem anderen zusammengehen kann, die Front mit dem Hinterbau, wie das Dach, die Zugänge usw. Ein Tragwerksplaner war zur ersten Präsentation für die Stadt offiziell noch nicht eingebunden, aber natürlich fragen und rückkoppeln wir. Und so haben wir nachgefragt, mit welchem Material wir planen können. Mit Stahl. Brauchen wir hinter der Fassade noch Stützen? Was nicht schön wäre, aber ist es notwendig? Nein, man kann es auch ohne Stützen hinter der Speichenwand schaffen ... So haben wir das Projekt schritt- und stückweise weiterentwickelt. Der Stadt hat das Konzept mit der Transparenz gefallen, ebenso, wie wir die Stellplätze innen angeordnet haben und wie wir das Parkhaus als offenen Pavillon konzipiert haben. Dann gab es die Beauftragung und wir haben die Ingenieure, mit denen wir das alles vorbedacht hatten, mit reingenommen und gleichsam nahtlos am Projekt weitergearbeitet.
Gab es im Projektverlauf Knackpunkte, die das Ursprungskonzept gefährdet hätten?
MK: Nein. Größere Abänderungen gab es nicht. Vielleicht haben wir anfangs ein paar Detailpunkte unterschätzt. Man will natürlich das Konzept, das alle überzeugt hat mit der filigranen Fassade, den unsichtbaren Trägern nicht aufgeben. Dass dann sämtliche Anschlüsse wesentlich aufwendiger werden, war in dem Umfang niemandem bewusst. Nicht von der Fertigung her, aber von der praktischen Frage aus: Wie bilde ich die Punkte aus?
Rechnerkapazität?!
MK: Nein, das ist keine Frage des Rechnenaufwands, eher eine, die der Verstand eines konstruierenden Ingenieurs gut in den Griff kriegen muss.
RR: Und zwischendrin gab es Diskussionen, fast Feilscherei darum, wie weit der Durchmesser der Stahlstäbe zu reduzieren sei … Vielleicht waren wir da auch einmal ein bisschen am Rand der Nachweisbarkeit [lacht].
Also ihr wolltet es möglichst dünn haben.
RR: Dünn, dünn, dünn …genau.
Und der Tragwerksplaner sagt, es gibt auch Grenzen.
MK: Die Problematik ist: Anfangs tastet man sich an ein Problem immer heran, man betrachtet Regelbereiche. Dort funktioniert das Ganze sehr gut. Ist der Regelbereich wie hier beim Haupteingang für fünf, sechs Meter unterbrochen, gibt es natürlich Lastkonzentrationen an der Stelle, wo das Dachtragwerk wieder auf dieser Regelfassade aufliegt. Und bei Durchmessern von knapp 48 mm ist dann auch irgendwann die Grenze erreicht. Was wir unbedingt vermeiden wollten, waren unterschiedliche Durchmesser der Stützen.
RR: Ja, das wäre gar nicht gegangen.
Die optisch als eine Einheit durchlaufende Fassade besteht aus vielen Einzelelementen?
RR: Abgesehen von Fertigungs- und Baustellenprozessen gab es auch die Vorgabe vom Bauherrn, dass wir das Volumen modular planen sollten. Die Garage sollte leicht demontierbar sein oder erweiterbar. So haben wir die meisten Verbindungen als Schraubverbindungen ausgelegt. Die Fertigung der einzelnen, ineinandergreifenden Fassaden- und Tragwerkselemente hatte dann noch mit einem weiteren Problempunkt zu tun: mit dem Gefälle! Über die ganze Länge des Baus sind das etwa 50 cm. Damit war klar, dass wir die Elemente nicht einfach gleich fertigen konnten. Auch das Berechnen erwies sich als aufwendig.
MK: Das Gefälle führt dazu, dass jedes Element eine andere Anfangshöhe hat, als die Endhöhe dann darstellt. Und was die Überlegungen zu Maßen der einzelnen Elemente angeht, mussten wir festlegen, wie groß Fertigungseinheiten werden dürfen: Transport, Montage, Verzinkung etc., Themen, die alle beim Stahlbau hineinspielen. Und dann müssen diese Elemente miteinander verbunden werden und zwar so, dass ich die Fugen nicht wahrnehme. Dafür haben wir uns für die einzelnen Elemente Laschenverbindungen einfallen lassen, die zum einen die Elemente koppeln, zum anderen auch das Thema Zwang und Verformungen aus unterschiedlichen Temperaturlasten gleich mit aufnehmen können.
Damit sehen die Elemente wie aus?
MK: Der Stoß im Flachstahl oben und unten ist versetzt, wir haben eine Z-förmige Schnittlinie parallel zur letzten Strebe im Element. So hat man die Überlappung hinbekommen.
Also haben wir zwar Module, doch jedes ist so individuell, dass eine Wiederverwertung in einem anderen Kontext eher schwierig ist?
MK: Das ist richtig. Wenn man den Speicher woanders aufbauen wollte, bräuchte man eine ähnliche Gefällesituationen. Oder man müsste einen Sockel generieren, der dieses Gefälle ausbildet.
RR: Das wäre eine andere Möglichkeit gewesen, dass man generell einen Sockel baut. Aber den wollten wir nicht, wir wollten dieses Superleichte bis in den Boden haben.
Was trägt am meisten? Die Fassade vorne, die Stützen hinten?
MK: Durch die hinteren Stützen ist das System in zwei Haupttragachsen aufgebaut. Die vordere ist die Rundrohrfassade, die hintere ist ein Tragwerk mit den eingespannten, aufgelösten Stahlstützen. Aufgelöst deswegen, weil wir damit die Stellplätze der Fahrräder dazwischen einpassen können. Was auch eine wirtschaftliche Entscheidung ist.
Hättet ihr 100 000 € mehr im Budget gehabt, wäre das Ergebnis ein anderes?
RR: Ich hätte keine 100 000 € mehr gebraucht, für mich ist der Bau perfekt optimiert. Die subtile Ästhetik der Platzfassade als Adresse, das funktional Banale dezent im Hintergrund.
MK: Das unterstreiche ich. Auf der Schauseite vorne investiere ich, sowohl Geistesgut als auch finanzielle Mittel. Und im hinteren Bereich, wo die Stützen zwischen den Fahrradständern mit zwei Ebenen nicht auffallen, da gehe ich auf eine ganz einfache, funktionale Lösung, die ihren Zweck erfüllt.
Bis hin zu den Seecontainern, die da drin stehen.
RR: Richtig. Die sehen wir auch im Bahnkontext, hier ein bisschen veredelt durch den weißen Anstrich.
Gab es im Projekt zwischen Architekt und Ingenieur auch einmal Streit?
RR: Wir reden noch immer gern miteinander.
MK [lacht]: Es gab vielleicht die eine oder andere Diskussion bei Detailpunkt-Lösungen, wo ich der Meinung war, das sei ästhetisch noch vertretbar, wo aber der René das noch weiter auf die Spitze treiben wollte, weil es ihm genau an der Stelle wichtig war. So beispielsweise bei der freien Ansichtskante des Vordaches, da wurden uns als Maximalmaß 7 cm Konstruktionshöhe gegeben, mehr nicht, weil mehr Höhe aus gestalterischen Sicht den filigranen Charakter des Vordachs nicht mehr repräsentieren würde. Das sind die Stellen, wo ich mich als Ingenieur frage: Tun mir 3 cm mehr weh oder eigentlich nicht?
Zehn Zentimeter hätten die Arbeit erleichtert … aber die Optik gestört?
MK: Das hätte vielleicht an der einen oder anderen Stelle Profile etwas leichter gemacht. Aber ich würde eher sagen, wenn ich das Endergebnis sehe, haben sich die ganzen Diskussionen gelohnt!
Eigentlich ein schönes Schlusswort, aber was mich noch interessiert: Was lernt man aus einem solchen durchaus überschaubarem wie anspruchsvollem Projekt?
MK: Ich habe wieder einmal für mich erfahren, wie extrem wichtig und zielführend es ist, gemeinschaftlich eine Idee umzusetzen. Dann kollidiert am Ende nicht die eigene Tragwerksidee mit dem Grundkonzept des Entwurfs. Hier lerne ich immer noch und fühle mich darin bestärkt, diesen Grundsatz auch wieder frühzeitig bei anderen Projekten hinzukriegen. Ob ich das rein Konstruktive dieses Projekts in einem anderen Gebäude genau so wieder einsetzen kann, glaube ich eher nicht. Die Lösung hier ist zu individuell. Das ist definitiv so. Dennoch bleibt es etwas sehr Besonderes im Vergleich zur Routine bei den „üblicheren“ Hochbauten, die wir tagtäglich bearbeiten.
Und Tragraum zeigt mit diesem Projekt, dass man auch Sonderlösungen kann. Und „klein“ ist manchmal eben auch sehr anspruchsvoll.
MK: Definitiv!
RR: Ich sehe es nicht unbedingt so, dass der Speicher ein Einzelbeispiel ist. Für uns ist dieser Fahrrad-Pavillon vor allem auch ein Austesten, Ausprobieren, ganz schlicht: Erfahrung sammeln gewesen. Und diese Erfahrungen bilden unser zukünftiges Know-how, das interdisziplinär geprägt ist. Wir entwickeln momentan das „Fahrradnest“, den kleinen Bruder des Speichers. Der hat die Größe von einem Container und passt auf PKW-Parkplätze. Hier haben wir unsere Erkenntnisse in einen anderen Maßstab transferiert.
Oder ein anderes Beispiel ist Wallenfels, in Oberfranken. Die Ortsmitte soll dort wiederbelebt werden. Wir entwickeln deshalb mit der Stadt in einem Bestandsgebäude einen Bürgertreff. Vergleichbar mit der Platzfassade des Fahrradspeichers wollen wir das Erdgeschoss so offen wie möglich zum Platz hin gestalten und innen auch so luftig wie möglich. Dafür haben wir, nach ähnlichem Prinzip, „Harfen“ entwickelt, bei denen sich die tragende Funktion auf mehrere filigrane Stahlprofile aufteilt. Die „Harfen“ dienen gleichzeitig als Präsentations- und Kommunikationsfläche für die Bürger. Du siehst, uns bleibt das, was wir zusammen entwickeln, im Kopf und es begleitet uns natürlich auch bei der Arbeit zu anderen Projekten.
Habt ihr eigentlich eine Jahreskarte für das Fahrradhaus? Ein Dankeschön von der Stadt für die gute Leistung hier?
RR: Also ich habe noch keine bekommen.
MK: Wir auch noch nicht. Ich muss aber gestehen, dass ich von außerhalb von Nürnberg komme und in Nürnberg mein Fahrrad aktuell nicht hinstellen muss.
Aber das weiß die Stadt ja nicht. Ich werde den Verantwortlichen mal einen Hinweis geben, dann gibt’s die Jahreskarte, hoffentlich!
Mit René Rissland und Martin Kotissek unterhielt sich DBZ-Redakteur Benedikt Kraft am 3. Februar 2022 direkt am Fahrradspeicher.