Spielerischer Wohnpragmatismus

Wohntürme Norra Tornen, Stockholm/SE

Die Verbindung zwischen Vielfalt in der Nutzung auf der einen und Vereinfachung im Bauen auf der anderen Seite zeichnet die beiden Wohntürme ­„Innovationen“ und „Helix“ im Nordosten des Stockholmer Zentrums aus. Städtebaulich war an dieser Stelle schon vor 12 Jahren eine Torsituation geplant worden.

2020 wurden die Wohntürme „Norra Tornen“ in Stockholm mit dem Internationalen Hochhauspreis ausgezeichnet. Dabei spielten auch ökologische und soziale Aspekte eine wesentliche Rolle. Das könnte auf den ersten Blick erstaunen, da jedem Betrachter zunächst die Begriffe „unmaßstäblich“ und „Plattenbau“ auf der Zunge liegen mögen. Das allerdings wird diesem vom Architekturbüro OMA realisierten, ausgesprochen durchdachten Projekt mit qualitativ hochwertigen 320 Wohneinheiten nicht gerecht. Dabei ist mit hochwertig kein Luxuswohnen gemeint. Es sind Eigentumswohnungen der mittleren bis gehobenen Preisklasse, je nach Lage im Gebäude.

Gewünschte Torsituation

Um das Projekt der „Norra Tornen“, der nördlichen Türme, zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass es für diesen Standort bereits seit zwölf Jahren eine stadtplanerische Vorgabe auf Grundlage eines Entwurfs des Stockholmer Stadtarchitekten Aleksander Wolodarski gab. Die Idee zweier Türme war also keine Investoren-Idee, sondern von der Stadt Stockholm explizit so gewollt. Die Planung der ArchitektInnen musste dadurch nicht nur auf die dafür relativ kleinen Baugrundstücke mit 660 und 575 m2, sondern im Prinzip auch in die vorgegebene Silhouette eingepasst werden. Im Ausstellungskatalog des Deutschen Architekturmuseums zum Hochhauspreis heißt es dazu: OMA löste sich von den engen Vorgaben des Planungsamtes, indem sie das Hauptaugenmerk auf die Vielzahl von Balkon- und Terrassenflächen legten. Die vorgegebene vertikale Gliederung und getreppte Form wurde durch die horizontale Auflösung in Kuben ... ins Gleichgewicht gebracht. „Doppeltürme sind in Stockholm durchaus, wenn auch nicht in dieser Höhe, ein typisches stadtgestalterisches Motiv“, erläutert der Direktor des Deutschen Architektur Museums (DAM) und Jurymitglied Peter Cachola Schmal. „Die so entstandene Torsituation verbindet in diesem Fall den in den 1930er-Jahren gebauten Stadtteil Vasastaden mit dem neu entstehenden Quartier Hagastaden rund um das Karolinska Institut. Das ist ein sehr großes Gebiet, in dem neben 23 000 neuen Arbeitsplätzen in sehr kurzer Zeit 6 000 Wohneinheiten in zehn- bis zwölf-geschossigen Gebäuden geschaffen wurden.“

Das ändert nichts an dem gewaltigen Maßstabssprung der beiden Türme mit immerhin 36 („Innovationen“) und 32 Geschossen („Helix“). Durch die Auflösung der Figur in einzelne Boxen aber, die in unterschiedlicher Tiefe „übereinander gestapelt“ wurden mit Vor- und Rücksprüngen, Loggien, Balkonen und Terrassenflächen, bekommen die riesigen Türme etwas Spielerisches, Nahbares. In der Farbigkeit der Fassadenbekleidung in einem hellen Braunton zeigt sich ebenfalls die Absicht der Architekten, sich nicht gänzlich abheben zu wollen, sondern eine Verbindung zur Stadt zu schaffen. Mit dem sanften Braun der umgesetzten Lösung fügt sich die Fassade in die erdige Farbpalette Stockholms, die alle Schattierungen von Beige bis Rot umfasst, bestens ein, heißt es dazu auch im erwähnten Ausstellungskatalog.

Vorgefertigte Fassadenelemente

Die Betonfertigteilelemente der Fassade erhielten einen Zuschlag aus dänischem Sandstein mit bunten Kieselsteinen sowie eine gerippte Oberfläche. Die Rippenstruktur wurde mithilfe elastischer Strukturmatrizen aufgebracht. Breite, Tiefe und Winkel der Rippen beziehungsweise ihrer Zwischenräume wurden nach den Vorgaben der Architekten angefertigt. Die Rippen wurden abschließend mit glatten Schnitten begradigt, wodurch die eingeschlossenen Kieselsteine ähnlich einem ­Terrazzoboden zur Geltung kommen. Betonfertigteilelemente klingt dennoch nach Plattenbau, langweiliger Wiederholung und im schlimmsten Fall Billigbauweise. Reinier de Graaf, Partner im Büro OMA und Verantwortlicher im Projekt, hatte selbst mit einem Augenzwinkern vom „Plattenbau für Reiche“ gesprochen. Der Architekt ist in einem Plattenbau groß geworden und konnte dem sehr viel Positives abgewinnen – insbesondere, dass sich in der Gleichheit der Gebäude die Gleichheit der Bewohner widerspiegelt.

Nun ist es in den beiden Türmen aber nicht so, dass zugunsten der Baukosten die Grundrisse vereinheitlicht wurden. Es wurde versucht, bei einer möglichst hohen Anzahl sich wiederholender Fertigbauteile eine möglichst große Vielfalt an Wohnungen zu erreichen. „Von außen ist allerdings gerade nicht ablesbar, wie groß eine Wohnung ist, ob sich hinter einer Bienenwabe eine 2-, 3- oder 4-Achsen-Wohneinheit verbirgt“, so Cachola Schmal. „Es gibt sehr kleine Wohnungen mit 44 m2 und einem Balkon, sehr viele 80 bis 120  m2-Wohnungen mit mehreren Freisitzen sowie das Penthouse mit 280 m2. Es gibt also eine Vielfalt in der Fassade und eine Vielfalt der Wohnungen und doch lässt sich das eine nicht vom anderen ableiten.“ Die 4,10 x 2,10 m großen Fensteröffnungen in den Wohnungen sorgen für viel Licht und einen beeindruckenden Ausblick über die Stadt. Eine Qualität, die den Bewohnern jeder Wohnung an mindestens einer Stelle geboten wird. Der Verzicht auf eine Untergliederung mit Pfosten und Riegeln soll aber auch ökologische Vorteile durch die Reduzierung möglicher Wärmebrücken bieten.

Vielfalt und Einfachheit

Vereinfachung von Konstruktion und Technik bei gleichzeitiger Schaffung hoher Wohnqualitäten war die Motivation der Planung insgesamt. „Ein sich wiederholendes Thema, das uns durch das Projekt begleitet hat, war die Vereinfachung der Konstruktion bei gleichzeitiger Vielfalt der Grundrisse“, bestätigt auch Christian Dercks, der für Arup als Projektleiter unter anderem für die Tragwerksplanung zuständig war. „Es hat uns großen Spaß gemacht, gemeinsam mit den ArchitektInnen die optimalen Lösungen zu finden, um die Anzahl zusätzlicher Abfangträger oder -stützen zu minimieren und die Haustechnik effektiv, beispielsweise durch übereinandergesetzte Bäder, zu koordinieren. Lediglich in den Bereichen der großen Rücksprünge mussten wir jeweils eine Wand mit zwei schräggestellten Stützen zum Abfangen der Lasten integrieren.“

Es handelt sich bei den Türmen um Stahlbetonbauten mit vorgefertigten Wand- und Decken-Elementen. Das statische System basiert auf jeweils einem Aussteifungskern, zusätzlichen Scherwänden sowie Innen- und Außenstützen. Letztere sind in der Regel als Scheiben ausgebildet, um die Last der auskragenden Balkone zu halten. Jede Box besteht also statisch gesehen aus der Bodenplatte, den beiden Längswänden sowie der Deckenplatte. Vor die offenen Boxen wurden dann an der Fassadenseite die vorgefertigten Fertigteilverblendungen samt der großen Drei-Scheiben-Verglasung gehängt. Zwischen der gerippten Betonverkleidung und den vorgefertigten Stahlbetonelementen sitzt eine 23 cm dicke Wärmedämmung.

„Die Skandinavier sind sehr gut in der Anfertigung hochwertiger Fertigbetonteile“, betont Tragwerksplaner Dercks. „Das liegt vermutlich daran, dass es eine sehr lange Zeit im Jahr zu kalt ist, um mit Ortbeton zu arbeiten.“

Gut bewohnbarer Pragmatismus

Wie steht es nun mit der sozialen Komponente? Ein wichtiger Aspekt ist, dass die Eigentümer selbst in den Wohnungen wohnen. Das ist in Stockholm rechtlich geregelt. In den Türmen wohnen also Menschen, die somit auch Leben in das sie umgebende Viertel bringen. Dabei ist allerdings kritisch anzumerken, dass an der Schnittstelle zwischen Gebäude und Stadt, nämlich der Sockelzone der Türme, genau diese Möglichkeit für einen Austausch bisher nur marginal genutzt wurde. Durch die zusätzlichen Angebote in den Türmen allerdings, wie beispielsweise einer Gemeinschaftsküche, wird den Bewohnern hingegen innerhalb der Hausgemeinschaft durchaus Raum für ein Miteinander geboten.

Insgesamt entstand in niederländisch-schwedischer Kooperation in einer für die beiden Länder typischen Herangehensweise eine Architektur mit einer optimalen Mischung aus gut bewohnbarem Pragmatismus und hohem Wohnkomfort, der dennoch nicht protzig an der Fassade zur Schau gestellt wird. Projektmitarbeiter Michel van de Kar aus dem Büro OMA ist sehr zufrieden mit dem Ergebnis: „Es ist uns gelungen, unser ursprüngliches Konzept mit nur wenigen Kompromissen in ein Design umzusetzen.“ Nina Greve, Lübeck

Als neue Landmarke wachsen die Doppeltürme aus der umliegenden Bebauung und markieren als Stadttor eine städtebaulich bedeutsame Lage. Zugleich integrieren sie sich aber durch Materialität und Farbigkeit sowie die kleinteilige Struktur in den Kontext. Die perzeptuelle Verschmelzung von Teil und Ganzem macht das Gebäude zu einer komplexen Skulptur.« DBZ Heftpartner MEIXNER SCHLÜTER WENDT, Frankfurt a. M.

Baudaten

Objekt: Norra Tornen

Standort: Torsplan 8, 113 65 Stockholm/SE

Typologie: Wohnhochhaus, Einzelhandel

Bauherr: Oscar Properties, Stockholm/SE;

www.oscarproperties.com

Nutzer: Wohnungseigentümer bzw. Bewohner

Architektur: OMA, Rotterdam/NL; www.oma.eu

Verantwortlicher Partner: Reinier de Graaf

Mitarbeiter (Team): Alex de Jong, Michel van de Kar, Philippe Braun, Diana Cristobal, Cecilia Del Pozo, Alexander Giarlis, Tobias Jewson, Timur Karimullin, Vladimir Konovalov, Roza Matveeva, Edward Nicholson, Victor Nyman, Vitor Oliveira, Isa Olson Ehn, John Paul Pacelli, Peter Rieff, Silvia Sandor, Carolien Schippers, Lukasz Skalec, Jonathan Telkamp

Bauzeit: 2013 (Wettbewerb); 2015 – 2020

Fachplaner

Tragwerksplanung: Arup, www.arup.com; Sweco GmbH, www.sweco-gmbh.de (lokaler Ingenieur)

Fassadenplanung: Arup Fassadentechnik

Brandschutz: Tyréns AB, www.tyrens.se

Akustik: ACAD-International AB, www.acad.se

Projektdaten

Termine

Baubeginn (Innovationen): Dezember 2015

Baubeginn (Helix): Dezember 2016

Fertigstellung (Innovationen): Dezember 2018

Fertigstellung (Helix): Dezember 2020

Programm

Zwei Wohntürme: Helix und Innovationen

320 Wohnungen, 24 555 m²

Einzelhandel 961 m², Dienstleistungen 895 m², Technische Flächen 2 300 m²

Daten

Grundstücksfläche (Helix): 575 m²

Grundstücksfläche (Innovationen): 660 m²

Nettogrundfläche (Helix): 14 039 m²

Nettogrundfläche (Innovationen): 17 787 m²

Bruttogeschossfläche (Helix): 18 820 m²

Bruttogeschossfläche (Innovationen): 23 479 m²

Höhe (Helix): 110 m (32 Stockwerke)

Höhe (Innovation): 125 m (36 Stockwerke)

Wohnungstypen (Helix):

Wohnung mit einem Schlafzimmer: 1

Apartments mit zwei Schlafzimmern: 21

Apartments mit drei Schlafzimmern: 74

Apartments mit vier Schlafzimmern: 36

Apartments mit fünf Schlafzimmern: 4

Apartments mit sechs Schlafzimmern: 2

Wohnungstypen (Innovationen):

Apartments mit zwei Schlafzimmern: 65

Apartments mit drei Schlafzimmern: 63

Apartments mit vier Schlafzimmern: 40

Apartments mit fünf Schlafzimmern: 10

Apartments mit sechs Schlafzimmern: 2

Apartments mit sieben Schlafzimmern: 2

Wohnungspreise

Helix: 575 000 – 4,3 Mio.€

Innovationen: 572 000 – 6, 35 Mio €

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