Geometrischer Körper mit Fernwirkung
Victoria Tower, Stockholm/SE
Innovative Fassade und innovatives Brandschutzsystem, das die Wirtschaftlichkeit des Hochhauses erhöht: Der Victoria Tower ist nicht nur Landmark, sondern setzt auch neue Akzente in der Hochhaus-Diskussion.
Boomender Immobilienmarkt, steigende Wohnungsnot auch in Ballungsräumen und nicht zuletzt die Tatsache, dass mit Santiago Calatravas Turning Torso seit 2005 der höchste Wolkenkratzer Schwedens in Malmö steht, haben die Hochhaus-Diskussion in Stockholm neu entfacht. Projektentwickler und Architekten werden nicht müde, immer neue Vorschläge für Wolkenkratzer zu veröffentlichen. Internationale Architekturstars sollen auch in den Medien Begeisterung wecken. So gewannen im Sommer diesen Jahres Rem Koolhaas und sein Büro OMA einen Wettbewerb für zwei 100 m hohe Wohnhochhäuser im Stockholmer Entwicklungsgebiet Hagastaden. Interessant an der Diskussion ist die ökologische Dimension der neuen Turmprojekte. Das dänische Büro CF Møller Architects soll für eine große schwedische Wohnungsbaugesellschaft ein 34-geschossiges Wohnhochhaus im citynahen Bezirk Marieberg bauen. Das Gebäude soll bis auf den Aufzugskern komplett aus Holz sein. Die schwedische
Architektin Rahel Belachew Lerdell machte jüngst Schlagzeilen mit dem „Stroh-Turm“, einem experimentellen Vorschlag, der Wohnen und Gewinn von elektrischer Energie kombiniert: Sie will den Söder-Turm im zentralen Stadtbezirk Södermalm um ein paar Geschosse erhöhen und mit einem Fell aus piezoelektrischen Fasern überziehen, die bei Wind Strom erzeugen. In Kista dagegen, einem Vorort, der auf halber Strecke zwischen Flughafen und der Stockholmer Innenstadt liegt, steht schon seit 2003 der Kista Science Tower (Entwurf: White arkitekter, Göteborg), der in seiner funktionalistischen Ästhetik an die berühmten, zwischen 1955 und 1966 entstandenen Hochhäuser an der Sergelgatan erinnert. Der 117, 2 m hohe Turm ist Wahrzeichen des größten IT-Zentrums Schwedens, das einst Ericsson-City genannt wurde, inzwischen aber von zahlreichen Startups bevölkert wird.
Seit 2012 muss sich der Science Tower die Höhenkrone in der sehr lockeren Bebauung von Kista teilen. Der Victoria Tower, benannt nach Kronprinzessin und Thronfolgerin Victoria von Schweden, ist sogar noch 40 cm höher und damit nach dem bereits 1967 fertig gestellten Fernsehturm Kaknästornet Stockholms zweithöchstes Gebäude. Und weil der jüngere Turm gleichsam eine Handbreit von der von dichten Wäldern flankierten Autobahn weg erbaut wurde, hat er eine ungleich größere Fernwirkung als sein beinahe gleich hoher Konkurrent. Will man nach den Netzaktivitäten urteilen, ist der Turm aufgrund seiner markanten Form und seiner spektakulären Fassade bereits zu einem Lieblingsmotiv der Stockholmer Hobbyfotografen geworden. Der Entwurf stammt von Gert Wingårdh und seinem Arkitektkontor.
Wingårdh wurde schon in jungen Jahren als Erbauer des ersten postmodernen Hauses in Schweden bekannt, in Deutschland machte er sich mit der schwedischen Botschaft in Berlin (1996-1999) einen Namen. Vorbild für den Victoria Tower war, so der Architekt, der John Hancock Tower in Boston von Henry N. Cobb. Mit ihm hat der Victoria Tower das Parallelogramm als Grundriss und die Glasfassade gemein. Anders als das US-amerikanische Vorbild hat der aus Göteborg stammende Architekt das Parallelogramm nur für den Turmschaft verwendet.
Aus einem L-förmigen, 2-geschossigen Sockel, der nicht nur die Hotelrezeption, sondern auch eine Bar, zwei Restaurants, Konferenzräume und die Hotelverwaltung beherbergt, erwächst bis in die 32. Etage das Parallelepiped des Hochhausschaftes. Auf einer Grundfläche von 589 m² wurden in den ersten 22 Geschossen jeweils 15 Hotelzimmer untergebracht, in den restlichen acht jeweils Büroräume – meistens Großraumbüros. Darüber erstreckt sich ein 5-geschossiger Quader mit einer Grundfläche von 693 m², der an zwei Ecken bis zu 6,30 m auskragt. In drei Geschossen davon sind Büros untergebracht, in einem weiteren Konferenzräume und im obersten, im 34. Geschoss, die Technikräume, eine „Sky-Bar“ und eine offene „Sky-Terrace“. Die verschiedenen geometrischen Figuren sollen, so der Architekt, die verschiedenen Nutzungen ausdrücken. Obwohl der Turm nur ein Mittelklasse-Hotel beherbergt, wurden Lobby, Restaurant, Bar und auch die Zimmer auf Wunsch des norwegischen Bauherrn mit Designklassikern von Vitra, Flos und Kasthall ausgestattet. Wingårdh, der in den 1970er Jahren in Schweden Ladeneinrichtungen als Designaufgabe entdeckte und davon eine ganze Reihe, heute meist verloren gegangener, baute. Sein Team wollte den Räumen des Towers skandinavische Natürlichkeit verleihen und schuf Interieurs voller heiterer Ungezwungenheit, lockerer Atmosphäre und bunter Farben. Den Boden der Hotellobby belegten sie mit massiven „Douglasie“-Planken, mit denen auch der 16 m lange Empfangstresen verkleidet ist. Auch die Böden der Hotelzimmer sowie der Sky-Bar wurden mit Holzdielen belegt. In den Fluren allerdings findet sich ein flauschiger Teppichboden mit Dreiecken in kräftigen Farben.
Dreiecke prägen ebenfalls die Fassade, wobei diese eher wie ein Pailletten-Kleid aussehen sollte, welches das Gebäude als ebenso skulpturales wie schlankes Volumen betont. Die vorgehängte Fassade besteht aus vorgefertigten Elementen mit umlaufendem Aluprofil und jeweils acht Dreiecken aus Sonnenschutzglas. Vor den Hotelzimmern sind je drei, vor den Büros je vier dieser Dreiecke transparent, die fünf bzw. vier anderen opak. Gläser in den Farbtönen Silber, Gold oder helle Bronze wurden dazu auf Isolierpaneel geklebt. Weil es anders als in den 1970er Jahren in Europa derzeit keine goldenen Gläser gibt, mussten die Architekten kreativ werden: Die Rückseite der silbernen Gläser schimmerten golden. Nachdem alle Tests hinsichtlich k-und g-Wert gemacht wurden, und sich die Rückseiten ebenso wärmedämmend erwiesen wie die Vorderseiten, wurden die Rückseiten verwendet. Den Architekten war wichtig, dass die verschieden-farbigen Dreiecke kein Muster oder eine regelmäßige Struktur ergeben. Deswegen entwickelten Wingårdhs Mitarbeiter zusammen mit der englischen Firma Aedas eine Software, die auf Java, Excel und Autocad basiert (Das Interface war in Java). Neben der gewünschten Zufälligkeit waren weitere Parameter: Schallschutz, unterschiedliche Tageslicht- und Transparenzanforderungen von Büro- und Hotelräumen sowie die Dreiecks-Struktur. Es galt zu vermeiden, dass zwei Dreiecke gleicher Farbe entstehen, die aneinander gelegt ein Rechteck bilden würden. Um die Zufälligkeit zu steigern, wurden für einige Gold-Dreiecke andere Glasscheiben verwendet, die stärker glänzen als die Übrigen.
Das Tragwerk
Das Tragwerk des Turmes ist eine herkömmliche Konstruktion aus Stahlverbundstützen und Verbunddecken mit aussteifendem Stahl-beton-Treppenhaus und Stahlbeton-Aufzugsschacht. Allerdings wurde zugunsten von mehr Hotel- bzw. Büroflächen auf ein Fluchttreppenhaus verzichtet. Zwar sind auch in Schweden in Gebäuden, die höher als 16 Geschosse sind, zwei Treppenhäuser vorgeschrieben, doch die dort bisher einzigartige und ziemlich aufwändige Lösung, die Wingårdhs Büro zusammen mit den Brandschutz-Ingenieuren der Firma Brandskyddslaget entwickelte, genehmigten die Behörden. Der größte Unterschied zu herkömmlichen Brandschutz-Modellen besteht darin, dass auch die Aufzüge zur Evakuierung verwendet werden. Im Brandfall werden die Aufzüge priorisiert in die Geschosse geleitet, in denen das Feuer brennt. Die Aufzugsvorhalle ist gesprinklert und mit einer F90-Tür versehen, ebenso der Hotel- bzw. Bürokorridor, das Sicherheitstreppenhaus und die Sicherheitsschleuse. Anders als etwa in Deutschland, in dem bei Aufzugs- und Treppenhausschächten meist mit Überdruck gearbeitet wird, gibt’s im Victoria Tower ein Unterdrucksystem, dessen Entrauchungsvolumen im Brandfall bei 4 m³ pro Sekunde liegt. Auch der Aufzugsvorraum hat eine Entrauchungsanlage mit Unterdruck, zusätzlich ist ein Notruftelefon installiert. Sollte es im Erdgeschoss brennen, halten die Aufzüge im 1. Obergeschoss, über das Evakuierung mit zusätzlichen Treppen möglich ist. Mit dem innovativen Brandschutzsystem wurde die Wirtschaftlichkeit des inzwischen mehrfach preisgekrönten Gebäudes drastisch erhöht. Auch die spektakulär schimmernde Fassade findet viele Bewunderer. Die Hochhaus-Befürworter in Stockholm jedenfalls können mit dem Victoria Tower ein weiteres starkes Argument vorweisen.