Energiewende durch Forschung und Bürger:innen-Beteiligung
Wie kann man die Energiewende auf dem Land intelligent und zukunftsweisend umsetzen? Dieser Frage gehen Forschende an der Hochschule für Technik Stuttgart in Zusammenarbeit mit der Gemeinde Wüstenrot nunmehr seit einem Jahrzehnt nach. Eine bereits gewonnene Erkenntnis: Es kann nur unter aktivem Einbezug der Bürger:innen vor Ort gelingen.
Text: Ursula Pietzsch, Jan Silberer
Im geografischen Mittelpunkt der Flächengemeinde liegt der Rathauskomplex mit PV-Anlagen und einer innovativen Biomasse-Solarthermie-Wärmeversorgung, auch für das angrenzende Wohnquartier
Foto: Dawin Meckel
Die 6 600 Einwohner:innen zählende Kommune, einst Heimat der gleichnamigen Bausparkasse, liegt im Südwesten auf einer Hochebene zwischen Heilbronn und Schwäbisch Hall. Wüstenrot hat keine besonderen Ressourcen, nichts, was sie von Tausenden ähnlich strukturierten ländlichen Gemeinden unterscheiden würde. Gerade deshalb können Referenzprojekte an einem solchen Ort zeigen, welche technologischen Lösungen für die Strom- und Wärmeerzeugung aus erneuerbaren Energien möglich sind – in Wüstenrot und anderswo, im Kleinen wie vielleicht auch im Großen. Doch nicht nur technologische Erfolge mit nachgewiesener operativer Funktionalität sind wichtig. Das Machbare, das wirtschaftlich Umsetzbare und das vielleicht auch Marktfähige muss auch Anwender:innen finden. In Zusammenarbeit mit den Bürgern und Bürgerinnen wird momentan die Umsetzung eines Pilotprojekts in Wüstenrot kooperativ und auf Augenhöhe entwickelt. Im aktuellen Wüstenrot-Projekt Smart2Charge geht es um E-Mobilität, und zwar darum, wie Fahrzeugbatterien als Komponente eines vernetzten Energiesystems mit intelligenter Steuerung eingebunden werden können. V2G, also Vehicle-to-Grid, nennt man diesen Technologieansatz, mit dem in Wüstenrot der Einsatz von E-Fahrzeugbatterien als Pufferspeicher für das Stromnetz ausgelotet werden soll. Und zwar ganz real in einem öffentlichen Carsharing-Pilotprojekt vor Ort.
Nicht nur das neue „Vorreiterviertel“ ist energieautarkt, auch der Altbestand muss mit neuer Technologie, wie Photovoltaik-Anlagen, ausgestattet werden, damit in der Gemeinde die Energiewende gelingen kann
Foto: Dawin Meckel
Wüstenrot wird energieautark
Doch zuvor ein Rückblick auf den Weg, den die Gemeinde und die Forschenden bereits zurückgelegt haben: Bereits 2007 hatte die Gemeinde Wüstenrot per Gemeinderatsbeschluss entschieden, energieautark zu werden. Mit dem Ausbau von Photovoltaik-Anlagen auf den Dächern von Hallen, Schulen und dem Rathauskomplex begann der Ausbau der erneuerbaren Energien. Pläne für zwei Windkraftanlagen lagen in der Schublade. Damit wäre man flugs in den Plusenergiebereich gelangt. Aber schon damals war klar: ein weiterer Ausbau von volatiler, also Schwankungen unterliegender nachhaltig erzeugter Energie würde das Stromnetz der Gemeinde überlasten.
Und wer Strom produziert – und sei es im Plus-energiebereich – gewinnt damit noch lange keine Wärme und ist weiterhin auf fossile Energien angewiesen. Ölbefeuerung herrscht auf dem Land vor, wo man traditionell einen Ölheizkessel im Keller betreibt. Denn die Transmissionsverluste langer Leitungstrassen in der lockeren Siedlungsstruktur lassen eine netzgebundene Wärmeversorgung wirtschaftlich unmöglich erscheinen.
Ein Plan zum Ausbau der erneuerbaren Energien samt Lösungsmöglichkeiten zur Stabilisierung des Stromnetzes wurden in einer Forschungspartnerschaft mit der Hochschule für Technik Stuttgart ausgearbeitet. Unter der Leitung von Dr. Dirk Pietruschka wurden mit dem Team des Forschungszentrums für Nachhaltige Energietechnik einige innovative Demonstrationsprojekte umgesetzt. Stück für Stück kam die Gemeinde ihrem Ziel „Plusenergiestatus“ näher: Das Neubaugebiet „Vorreiterviertel“ mit kaltem Nahwärmenetz war ein Erfolgskonzept: 17 Wohnhäuser werden von einem Agrothermiekollektor und Wärmepumpen versorgt. Strom für die Wärmepumpen und die Haushalte kommt vom Dach. Beides, Strom und Wärme, können gespeichert und damit der Eigenstromverbrauch aus erneuerbaren Energien optimiert werden. Das Konzept ist ebenso genial wie preiswert für die Anwohner. Zwei weitere innovative Wärmenetze wurden auf Basis von Biomasse und Solarthermie gebaut.
Auch das Freibad von Wüstenrot ist mittlerweile mit PV- und Solarthermieanlagen ausgestattet
Foto: Dawin Meckel
Bürger:innenbeteiligung
Als die Forschungszusammenarbeit 2012 begann, war Bürgerpartizipation in technologisch ausgerichteten nationalen Forschungsprogrammen überhaupt noch nicht vorgesehen. Schon ein Budget für Öffentlichkeitsarbeit war schwierig zu erstreiten und doch so wichtig, gerade für die interne Kommunikation auf Gemeindeebene, um die Bürgerschaft „mitzunehmen“. Heute ist klar, dass erfolgreiche Forschung offene, transdisziplinäre Forschungsdesigns braucht, in denen Nutzeranalysen und Co-Creation-Prozesse technologische Entwicklungen flankieren. Mittlerweile sind Stakeholder in vielen Forschungsprojekten von Anfang an in einen solchen Prozess einbezogen – und manchmal überfordert damit. Was sollen wir forschen, wo Schwerpunkte setzen? Diese Frage ist für Nichtwissenschaftler:innen in interdisziplinären Projekten kaum zu beantworten. Weniger beim Entwickeln des Forschungsdesigns, sondern vielmehr bei der konkreten Ausgestaltung und Anwenderfreundlichkeit von Technologie ist die Stakeholder-Einbindung aber absolut vorteilhaft. Denn hier sind die Nutzer:innen Experten:innen.
Das HFT-Forscher:innen-Team unter Leitung von Dr. Dirk Pietruschka hatte das Glück, mit der Gemeinde Wüstenrot auf eine engagierte Partnerin zu stoßen, der die Einbindung der Bürger und Bürgerinnen sehr wichtig war, auch wenn es dafür anfangs keine Förderung gab. Rückblickend ist klar: Es hängt viel von persönlichem Engagement ab, ob anwendungsorientierte Forschung von den Menschen mitgetragen wird. Die Projekt-umsetzung vor Ort lag und liegt seit 2012 in der Verantwortung des Wüstenroter Energiebeauftragten Thomas Löffelhardt und seinem Team. Er selbst stammt aus Wüstenrot, ist gut vernetzt in der Bürgerschaft, in Vereinen und in der Verwaltung. Und er ist jemand, der zu motivieren versteht und sich unermüdlich auch kritischen Diskussionen stellt.
Und die gab es – an den Stammtischen, in den Vereinen und im Gemeinderat – verbunden mit einer gesunden Portion Skepsis. Es brauchte unbedingt einen „Übersetzer“ für die Frage: Was machen denn die Stuttgarter da eigentlich? Diese Rolle füllte Löffelhardt mit Bravour aus, auch wenn er am Anfang selbst nicht alles verstanden habe, wie er verrät. An der Georg-Kropp-Gemeinschaftsschule bereicherten er und das HFT-Team den naturwissenschaftlichen Unterricht mit den Wüstenroter Forschungsthemen. Jüngst beteilig-ten sich die Schüler:innen auch an der Entwicklung einer App zu dem im Sommer neu eröffneten Wüstenroter Energielehrpfad. Außerdem initiierte Löffelhardt für die Planer:innen und die ersten Bewohner:innen des Vorreiterviertels ein gemeinsames Wochenende auf einer Berghütte. Zudem organisierte er Führungen durch die Plusenergiesiedlung, nicht nur für internationale Delegationen, sondern auch für interessierte Bürger:innen. Der Aufbau eines „Infopoints“ beim Rathaus ermöglichte weitere Aktivitäten zur Motivation der Bürgerschaft in Richtung Energiewende, z. B. der energieeffizienten Sanierung des Eigenheims mit entsprechender Förderung. Nachdem drei innovative Wärmenetze in Betrieb gegangen waren, wendeten sich hier Bürger:innen an Löffelhardt, die auch für ihr Quartier ein nachhaltiges Wärmenetz gebaut sehen wollten und gleich in einer ganzen Gruppe Anschlusswilliger erschienen.
Thomas Löffelhardt, Energiebeauftragter von Wüstenrot, und Dr. Dirk
Pietruschka, Leiter des Forschungsteams der HFT Stuttgart, in der Kellerbar des Café Schönblick, wo an vielen Projektideen gefeilt wurde
Foto: Dawin Meckel
E-Fahrzeuge als Stromspeicher
Zurück zum aktuellen Projekt Smart2Charge, gefördert vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, und der Forschungsfrage: Wie kann man E-Fahrzeuge in SmartGrids einbinden? In Wüstenrot ist V2G – Vehicle2Grid – für den Rathauskomplex, im Schulareal der Georg-Kropp-Schule und im Vorreiterviertel geplant. Alle drei Standorte verfügen über ein Gebäude- bzw. Quartiersenergiemanagementsystem und ein Arealstromnetz, in dem PV-Strom erzeugt wird. An den angeschlossenen Carsharing-Ladestationen werden Hybridfahrzeuge mit einer 13,8-kWh-Batterie eingesetzt. Die Batterien können als Stromspeicher dienen, weil sie im Bedarfsfall die gespeicherte elektrische Energie auch ins Gebäude zurückspeisen. Über eine speziell entwickelte Ladeinfrastruktur für das Carsharing kommunizieren die Fahrzeuge prognosebasiert mit dem Gebäudeenergie-Manage-
mentsystem. So können sie Stromüberschüsse aufnehmen und in Fahrkilometer umwandeln. Außerdem arbeiten sie in Standzeiten wie stationäre Batteriespeicher und tragen damit dazu bei, das Stromnetz zu stabilisieren, da sie Stromspitzen und Überlastungen ausgleichen. Mit einer netzdienlichen Tarifstruktur sollen für die Carsharing-Teilnehmer:innen Anreize geschaffen werden, die dieses Konzept unterstützen. So können beispielsweise kostenlose Zeitfenster für die Ausleihe angeboten werden, wenn die PV-Anlagen an sonnigen Tagen Stromüberschüsse erzeugen und der Strombedarf im Gebäudekomplex gedeckt ist. Das Forscher:innenteam entwickelt zur Zeit Modelle der drei Arealstromnetze, mit denen verschiedenste Szenarien simuliert werden können. Parallel dazu ist das „echte“ Carsharing im Aufbau.
Die Beteiligung der Bürger:innen an der Ausgestaltung des Carsharing organisierte das Team Wirtschaftspsychologie der HFT unter Leitung von Prof. Dr. Thomas Bäumer. Dadurch sollte die Diskussion zur nachhaltigen Mobilität generell angeregt und Wege aufgezeigt werden, wie das Carsharing nutzerorientiert gestaltet und möglicherweise über die Projektlaufzeit hinaus als Mobilitätsangebot verstetigt werden kann.
Marita Fritz, Bewohnerin der Plusenergiesiedlung „Vorreiterviertel“, war an der Entwicklung des Carsharing-Konzepts beteiligt
Foto: Dawin Meckel
Qualitative Bürger:innenbefragung
Zur Entwicklung des Carsharing wurden die Bürger:innen in einen Co-Creation Prozess eingebunden. Ziel war es, möglichst früh Barrieren und Potenziale zu identifizieren, sowie Ideen zum Carsharing regelmäßig mit der Sichtweise der Bürger:innen abzugleichen. Das half dabei, innovative Ideen für die Projektumsetzung zu entwickeln. Es wurden eine Umfrage, Interviews und ein Workshop durchgeführt. Ziel der Umfrage war ein Überblick über die mögliche Motivation zur Nutzung eines elektrischen Carsharings. 190 der 3 600 Wüstenroter Haushalte machten mit und beantworteten die Fragen. Daraus ergab sich, dass im ländlichen Raum ebenso wie im urbanen Raum der Nutzen, Spaß und die Erreichbarkeit eines elektrischen Carsharings die Hauptfaktoren der Nutzung sind. Ein derartiger Abgleich war wichtig, um den richtigen Fokus der Produktentwicklung zu setzen. Daraufhin wurden 21 Interviews durchgeführt, um detailliertere Informationen über die Gründe zur Nutzung eines elektrischen Carsharings zu erfahren. Hieraus resultierte, dass der vor-übergehende Bedarf an einem Auto, das Interesse am Antrieb der Fahrzeuge sowie Stationen in Gehweite Treiber zur Nutzung des elektrischen Carsharings sind. Barrieren hingegen sind der Besitz eines Autos und eine ausreichend gute Taktung des öffentlichen Verkehrs. Außerdem wurden die Zielgruppen definiert: Junge Menschen mit Führerschein, aber ohne eigenes Fahrzeug, Haushalte, die ein zweites oder drittes Fahrzeug benötigen, und Touristen oder Geschäftsleute, die nur vorübergehend in Wüstenrot sind. Die Durchführung der Interviews war wichtig, um Maßnahmen anhand der genaueren Beschreibung der Gründe zur Nutzung eines elektrischen Carsharings entwickeln zu können.
In einem nächsten Schritt wurde das elektrische Carsharing-Modell in einem Workshop mit 17 Personen detailliert ausgearbeitet. Ein stationsbasiertes Modell mit angebotenen Testfahrten, Rabatten, einem Belohnungspunktesystem, einem Service, der die Fahrzeuge zurück zur Station bringt und einer Mitfahrfunktion wurde von den Bürger:innen als favorisiertes Modell gewählt. Der Workshop bot den Bürger:innen eine Plattform, um ein konkretes Wunschmodell auszuloten, das mit den technischen und finanziellen Möglichkeiten im Forschungsprojekt abgeglichen werden konnte. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Einbezug der Bürger:innen passgenaue Maßnahmen und ein optimales Modell für Wüstenrot ermöglicht hat.
Impulse
Aus dem Impuls hat sich inzwischen ein neues Projekt entwickelt. Angestoßen durch den von den Wirtschaftspsychologen der HFT moderierten Co-Creation-Prozess ist ein Konzept für ein ländliches Carsharing entstanden, das unabhängig vom Projekt Smart2Charge zusammen mit den Nachbargemeinden Obersulm, Mainhardt und
Löwenstein umgesetzt wird. Damit kann eine weit größere Fläche durch das Carsharing abgedeckt werden und wichtige ÖPNV-Anschlussknotenpunkte sind stationsbasiert integriert. Und mehr noch: ein ursprünglich technologieorientiertes Projekt bekommt eine wertvolle soziale Komponente. Denn mit in das Projekt eingestiegen ist die evangelische Stiftung Lichtenstern, ansässig in der Nachbargemeinde Löwenstein. Mit dieser Partnerin wird die im letzten Jahr neu gegründete Carsharing-Betreiber gGmbH „Mobile Inclusive“ Menschen mit einem Handicap neue Beschäftigungsmöglichkeiten bieten.
Ursula Pietzsch,
Projektmanagement, HFT Stuttgart/Zentrum für Nachhaltige Energietechnik
Foto: HFT Stuttgart
Jan Silberer,
Wirtschaftspsychologie, HFT Stuttgart/Zentrum für Nachhaltiges Wirtschaften und Management
Foto: HFT Stuttgart/