Geschichten aus erster Hand

In den Stadtlesebüchern, die seit etwa 15 Jahren in der Stuttgarter edition esefeld & traub als Reihe erscheinen, geschieht vor allem das Eine: Sie öffnen einen anderen, teils ungewohnten Blick auf Städte, die doch schon hunderte Male in Foto- und Textbüchern präsentiert, analysiert und dokumentiert wurden. Ob New York, Moskau, Aleppo, São Paulo, Tokio, Kairo oder Istanbul, die sämtlich bild-, aber auch textstarken und immer schwergewichtigen Bände zeigen intimere Orte oder Bilder von überpublizierten Touristen-Highlights, deren Ikoneskes zunächst gar nicht wahrgenommen wird, so anders sind Perspektive, Ausschnitt, Farbigkeit, Kontextualisierung. Dass diese Fotostrecken teils auf bereits bestehende, also längst gefertigte Arbeiten zurückgreifen, die aber immer durch aktuelle Fotografie kommentiert, erweitert, vielleicht gar fortgeschrieben werden, das macht die Reihe einmalig.

Und: Der Fotomenge werden immer Texte zur Seite gestellt. Texte, die keine Bildbeschreibung sind. Sie kommen aus Autorinnenhänden, die die jeweilige Stadt sehr gut kennen. Wie in der aktuellen Fotografie kommt auch in den Texten Authentisches und immer sehr Persönliches zum Vorschein. Nicht umsonst ist der Titel aller Bände immer mit „Mein“-XY formuliert.

Nun, nach längerer Pause, Barcelona. Mein Barcelona, also LAMEBA. Mehr als 400 Seiten zu einer Stadt, die wir alle zu kennen glauben. Tags, nachts, in den Parks und am Strand, die quirligen Straßen der Superblocks/Superilles, die Ramblas, das Nachtleben. Auch die Armut auf den Straßen, das Betteln, Drogen und Krankheit … Und natürlich Antoni Gaudí, natürlich Barça, das ganze Groß-, Weltstadtinventar eben. Was also noch hinzufügen? Einen Innenblick vielleicht.

Den liefern in den meisten Stadtbüchern vor allem die Texte, Texte von Beteiligten, Texte von Autorinnen, die mit der Stadt eine gemeinsame Geschichte haben, eine mal kürzere, dann eine andauernde, immer eine, die emotional aufgeladen ist, leise oder laut. Und nicht jeder Text ist gleich ein Stück Literatur, manche verfassten ein schlichtes Bekenntnis tiefer Zuneigung zu speziellen Orten, andere schauen und reflektieren Geschichte, Architektur, Städtebau, Kultur und Politik. Aber es gibt auch die Literatur zwischendrin.

Damit changiert auch dieser Band zwischen leiser Banalität (in der Fotografie wie in den Texten) und rhetorischem Feinsinn. Mal möchte/muss man die Fotografie in einen internationalen Fotogeschichte-Kontext stellen, mal denkt man an eigene Amateurarbeit in anderen Städten. Und genau das macht auch dieses Stadtportrait wertvoll, Vielstimmigkeit, Bilder, die immer überraschen, auch überwältigen, auch zum Überblättern einladen. Wir sind schlicht aufgefordert, den Stadtspaziergang zu machen, lesend, schauend und – hier erstmals – auch hörend. Denn was wäre eine Stadt ohne ihren Sound? „Ich lerne sehen“, lässt Rilke den Malte Laurids Brigge in seinen Aufzeichnungen schreiben, und dazwischen die ikonische Beschreibung vom Sound einer (fremden) Stadt. Hier im Stadtbuch werden uns acht „Stadtklänge“ mittels QR-Code angeboten, Straßengeräusche der Rambla, an der Sagrada Familia oder in der Metro. Diese kurzen Klängesammlungen sind so etwas wie das Sahnehäubchen auf einer Stadtgeschichte, von der wir hoffentlich in Zukunft weitere angeboten bekommen! Be. K.

LAMEBA Mein Barcelona. Hrsg. v. Ronald Grätz. Mit Fotos von Bennet Encke, Reter Knaup, Werner Lorke, Walther Schels. Dt./katal./span. Edition ­Esefeld & Traub, Stuttgart 2024, 429 S., zahlr. Farb. u. sw-Abb., 65 €,
ISBN 978-3-9818128-8-6
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