Hilfe beim Erinnern
Digitale Strategien zur Bestanderfassung können in der Baudenkmalpflege einen wichtigen Beitrag leisten – wenn sie richtig ungesetzt werden. Ein Gespräch mit Andres Putz, Professor für Neuere Baudenkmalpflege an der TU München über Big Data, digitale Kopien und die Kunst der standardisierten Datenerfassung.
Interview: Jan Ahrenberg/ DBZ
Denkmal als digitaler Klon: München, Amalienpassage: Blick in den Türkenhof, Ausschnitt aus der Punktwolke
Abbildung: Carina Thomas, MA Thesis Professur Neuere Baudenkmalpflege, Prof. Putz, 2021
Herr Putz, die Denkmalpflege hat in Deutschland traditionell ein eher konservatives Image. Wie sieht das in puncto Digitalisierung aus? Wie innovationsfreudig ist der Berufszweig?
Tatsächlich begleitet uns das Thema Digitalisierung in der Denkmalpflege schon sehr lange. Die Katalogisierung und Archivierung von Befunden macht ja einen Großteil unserer Arbeit aus, da sind digitale Verfahren natürlich sehr nützlich. In nahezu allen Landesdenkmalämtern, Schlösserverwaltungen, Dombauhütten, Museen und Stiftungen etc. wird heute digital gearbeitet. Zum Beispiel sind digitale, georeferenzierte Daten über den Denkmalbestand heute öffentlich zugänglich. In der historischen Bauforschung, der Archäologie und der Konservierung/Restaurierung gibt es zudem eine wachsende Vielzahl erprobter digitaler Technologien zur Bestands- und Zustandserfassung, die Einsatz finden. Wir arbeiten mit durch 3D-Scans und Photogrammetrie erzeugten Punktwolken und daraus generierten Gebäudemodellen mit Datenbanken und online Repositorien. Augmented und Virtual Reality halten Einzug. HBIM, also die virtuelle Rekonstruktion his-torischer Gebäude in einem 3D-Modell, ist in den vergangenen Jahren zunehmend Thema geworden. „Das Digitale und die Denkmalpflege“ war schon 2016 Gegenstand der Jahrestagung des Arbeitskreises Theorie und Lehre der Denkmalpflege (AKTLD) in Weimar. Das Kompetenzzentrum in Bamberg ist in diesem Thema aktiv. Wir an der TUM tragen unseren Teil bei und haben natürlich den Vorteil des unmittelbaren fachlichen Austauschs mit den hervorragenden Kollegen der (Bau-)Informatik und anderen angrenzenden Fächern vor Ort.
Alles in allem also ein Stand, der vergleichbar mit dem Neubau ist. Was ist anders?
Uns geht es zusätzlich auch um theoretische Fragen und Reflexion. Was etwa sind die Chancen und Risiken digitaler Rekonstruktionen, was ist unser Zugang zur Geschichte und deren materiellen Zeugnissen in Zeiten digitaler Abbilder und KI erzeugter Fakes? Ein digitales Modell erzeugt ja eine neue Realitätsebene. Was, wenn sie manipuliert wird und so unser Wissen über die Vergangenheit korrumpiert? Auf dem 37. Deutschen Kongress für Kunstgeschichte 2024 in Erlangen zum Beispiel werden Martin Bredenbeck und ich eine Sektion leiten zum Thema „Bild und Verführung: Denkmalpflegerischer Umgang mit digital erzeugten Räumen und ihren Bildern von Geschichte“.
Welche Hürden und Herausforderungen sehen Sie aktuell?
Aktuell findet ein grundlegender Wandel des Planungswesens statt, der auch die Baudenkmalpflege betrifft. Die Einführung von Building Information Modelling (BIM) ist eines der Stichworte, also die in IFC-Modellen etablierte Verknüpfung von geometrischen und alphanumerischen Informationen. Was für den Neubau funktioniert und zunehmend Anwendung findet, gilt für den Bestand noch lange nicht. Hier läuft die technologische wie methodische Entwicklung hinterher. Auch, weil der Bestand, und das ist das Spannende an ihm, immer Unwägbarkeiten und Risiken bereithält – Unsicherheiten, die man im Modell erst einmal abbilden können muss.
Digitale Denkmalerfassung: München, Amalienpassage, Lageplan der Vermessung mit Kartierung der Scan Standorte
Plan: Carina Thomas, MA Thesis Professur Neuere Baudenkmalpflege, Prof. Putz, 2021
Das müssen Sie erklären …
Es geht hier um mehr als das spezifische Level of Information oder das Level of Detail, sondern auch um Fragen der Genauigkeit und Verlässlichkeit der etwa mittels Scan-to-BIM generierten 3D-Modelle. Historische Kenntnisse der Umbaugeschichte sind mittels 3D-Scan allein nicht zu gewinnen und auch die in Einzelstichproben gewonnenen Ergebnisse von Bauuntersuchungen müssen sinnvollerweise verortet und verallgemeinert werden. Letztlich könnten aber in zukünftigen BIM-Modellen die komplexen Informationen über den Bestand digital verknüpft und von der Planung bis zum Facility-Management nutzbar gemacht werden. Dazu gehört aber auch die bewusste Entscheidung über die Grenzen dessen, was wir über den Bau erfahren können oder wollen. In die Rolle des Pathologen, der von allen Medizinern seine Patienten am besten kennt, wollen wir ja nicht kommen.
Sondern?
Um im Bild zu bleiben: in die der lebensbegleitenden Hausärzt:in. Es geht darum, Vorsorge zu betreiben und auf den Bedarfsfall zu reagieren. Es braucht eine Übersicht über die immer sehr spezielle Patientengeschichte, um angemessen reagieren zu können – nicht alles, was möglich ist, ist auch nötig. Dazu müssen ganz verschiedene Informationen über den Bau zusammenfließen, gespeichert werden, findbar und weiterverwendbar sein. Neben ganz wesentlichen Fragen der 3D-Modellierung, des Scannens und Erfassens, geht es aktuell vordringlich um die Fragen des Datenmanagements und der Langzeitarchivierung. Das betrifft nicht nur die (Bau-)Denkmalpflege, sondern letztlich jedes Architekturbüro. Wir reden in der Forschung von den FAIR Prinzipien, von Open Access und Open Source. Das die eigenen Daten auffindbar, zugänglich, interoperabel und wiederverwendbar sein sollten, wird auch jedes Büro wohl noch unterschreiben – was das auf der praktischen Ebene heißt, wie es gelebt wird, ist dann schon wieder eine andere Sache. Auch die Inhalte auf meinem eigenen Laptop sind ganz sicher nicht FAIR. Open Access und Open Source sind aber für Architekturbüros üblicherweise nicht vorstellbar. Die Langzeitarchivierung und Sicherung in öffentlichen Datenbanken und Repositorien verlangt jedoch danach.
Was heißt das für die Zugänglichkeit heutiger gebäudebezogener Daten in naher Zukunft? Wie gehen wir mit Fragen zum Beispiel des Urheberschutzes um? Zumal der Strom der Daten angesichts der zunehmenden Digitalisierung der Büros nicht versiegt …
In der Tat. Wir haben heute schon dieses Problem in den Architektursammlungen mit den Nachlässen, die aktuell auf uns zukommen. Seit Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre haben sich überall Terrabyte an Projektdaten akkumuliert. Wer will sich da durchgraben? Wie können wir auf alte CAD-Daten zugreifen? Kommen wir noch irgendwie an die alten Programme? Was kann, was soll davon erhalten werden, wie können Informationen darin auffindbar gemacht werden? Auch bei den großen Bauverwaltungen (Unibauämter, staatl. Bauämter etc.) ist es heute einfacher, originale Pläne aus den 1960er-Jahren zu finden als Pläne aus den 1990er- oder 2000er-Jahren. Mir sind archäologische Probegrabungen bekannt, um Versorgungsleitungen wiederzufinden, die in den 1990er-Jahren verlegt wurden. (Forschungs-)Datenbanken und (Forschungs-)Datenmanagement müssen also ernst genommen werden, sonst ertrinken wir in den Daten. Für die Denkmalpflege ist die „Datenbank Bauforschung-Restaurierung“ des Landesdenkmalamts in Baden-Württemberg ein sehr interessanter erster Aufschlag gewesen. Es gibt aber seit gut 20 Jahren in der Denkmalpflege eine recht große Vielzahl von Einzellösungen an Systemen, je nach Bundesland und Organisation.
Welche Bemühungen gibt es, diese Einzellösungen zu integrieren?
Auf Bundesebene haben wir seit ein paar Jahren die nunmehr 26 Konsortien der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI), die für das gesamte deutsche Wissenschaftssystem Datenbestände systematisch erschließen, vernetzen und nachhaltig nutzbar machen sollen. Für die Architektur und Baudenkmalpflege liegen zum Beispiel NFDI4Culture (materielle und immaterielle Kulturgüter) und NFDI4Objects (materielle Hinterlassenschaften der Menschheitsgeschichte) nahe, es gibt aber auch noch z. B. NFDI4Memory (historisch arbeitende Geisteswissenschaften) oder NFDI4ING (Ingenieurswissenschaften). Noch ist nicht ganz klar, ob und wo am Ende die Daten der Architektur und Denkmalpflege ihr Zuhause finden werden. Das Projekt baureka.online könnte, als Perspektive für die Zukunft, zwischen den vorhandenen Einzellösungen der Ämter, Büros und Hochschulen auf der einen Seite und den NFDI auf der anderen vermitteln. Als Fachcommunity müssen wir also über Semantiken, Normdaten, Vokabulare nachdenken und uns abstimmen. Denn maschinenlesbar, auffindbar und nutzbar sind die Datenbestände (Stichwort Linked Open Data) im Semantic Web nur über Metadaten.
Wie könnte eine Vereinheitlichung der Datensätze aussehen? Was muss sie leisten?
Die Bamberger Kollegen habe da zuletzt interessante Vorschläge gemacht, wie gerichtete, kategorisierende, multihierarchische Begriffsbezeichnungen und assoziative Relationen in architekturspezifischer Ausprägung unter Anheftung von Kontexten für eine maschinenlesbare Standardisierung in der Befundbeschreibung aussehen könnten. Letztlich muss das Ziel sein, eine fachterminologische Präzision zu erreichen. Das ist aber in der Baudenkmalpflege nicht so einfach. Das fängt bei Bauteilen und Konstruktionsarten an, deren zeitgenössische und historische Benennung regional und je nach Hersteller differieren. Ein Doktorand bei mir versucht zum Beispiel aktuell, eine einheitliche Systematik der Bezeichnung von Metall-Glas-Fassaden der Nachkriegszeit zu erstellen. Da existieren z. B. die Begriffe Glaswand, Fassadenglaswand, Fensterwand, Fassade aus Stahlkonstruktion und Stahlglaswand parallel nebeneinander – und meinen teils ein- und dieselbe Konstruktion. Gleiches gilt für Materialien. Was für natürliche, regionale Baustoffe dank fehlender oder unzulänglicher Übersichtswerke schon nicht immer einfach ist, gilt seit der Industrialisierung noch mehr.
Im jüngeren Baubestand müssen wir Baustoffe von Vorprodukten von Fertigteilen von Bauprodukten von Markennamen von Patenten und Lizenzen unterscheiden. Und wie benenne ich die Prozesse und Baumaßnahmen im Bestand richtig? Ich zum Beispiel vermeide, so gut es geht, den fürchterlichen Begriff der Sanierung.
Warum?
Der Begriff ist zum einen historisch kontaminiert, zum anderen ist er nicht wirklich konkret. Impliziert wird ja, dass da etwas krankhaft ist, vielleicht sogar ansteckend. Unhygienische Zustände kann man sanieren, auch bei Asbestsanierungen mag es noch angehen, bei Maßnahmen für eine bessere Gebäude-Energieeffizienz redet man besser von energetischer Ertüchtigung, bei Beton von Instandsetzung, ansonsten von Bauerneuerung oder Modernisierung. Der Punkt ist, es gibt da keine wirkliche Festlegung, die sich wirklich durchgesetzt hat, im Alltag versteht man sich ja auch so. Ältere Bauleiter in Ostdeutschland sagen zum Beispiel noch heute manchmal rekonstruieren und meinen etwas wieder gebrauchstauglich zu machen.
Wie sieht die Perspektive für die künftige Erfassung, Sicherung und Zugänglichmachung von Baudenkmaldaten aus?
Wenn das Management, die Langzeit-Archivierung und die Bereitstellung digitaler Daten über den denkmalgeschützten, erhaltenswerten, hochwertigen Baubestand immer wichtiger und notwendiger werden, muss man sich fragen, ob dies nicht eine öffentliche Aufgabe ist. Jedenfalls wäre mir dabei wohler, als dass private Konzerne oder Plattformen mit diesen Informationen Geschäfte machen. Wir sind ja politisch auch gegen eine übermäßige Macht der Wissenschaftsverlage. Die Aufgabe, das öffentliche Interesse am Denkmal – an unserer gebauten Umwelt – zu vertreten, haben in Deutschland aber die Institutionen der staatlichen Denkmalpflege, nicht zuletzt die Landesdenkmalämter. Ich sehe hier für die Zukunft die neue umfassendere Aufgabe auf sie zukommen, das digitale Wissen über den gesamten Baubestand in geeigneter Art und Weise als open access vorzuhalten. Und warum sollten wir nicht von den Objekten, die uns besonders wichtig sind, über digitale Zwillinge verfügen, die erlauben, über die Zeiten und den Wechsel engagierter Persönlichkeiten hinweg, Wissen und Erfahrung zu tradieren? Die Alternative sind kaum die Universitäten, jedenfalls nicht die wenigen noch in Deutschland verbliebenen Lehrstühle für Denkmalpflege mit ihrer aktuellen Ausstattung. Die sogenannte „akademische Denkmalpflege“ – also die forschungtreibende Schar derer, die auch für den Nachwuchs zu sorgen hat – kann da Hilfestellung geben, Kontakte vermitteln, Übersetzungsarbeit leisten. Gerade auch zu den Nachbarlehrstühlen der (Bau-)Informatik und verwandten Fächern.
Wie sieht die Zukunft aus?
Der Idealfall für mich als Architekt in der Baudenkmalpflege ist immer noch: die Dinge anfassen, klopfen, prüfen, im Gespräch auf dieses oder jenes zeigen und in persönlicher Abstimmung mit Bauherr:in und Handwerker:in an Ort und Stelle über eine sinnvolle Maßnahme entscheiden, im Vertrauen auf das handwerkliche Können und die fachlich geschulte Erfahrung mit dem historischen Material. Da braucht es keinen Rechner. Die Realität sieht anders aus. Die Abläufe und Abstimmungen sind komplexer, zeitaufwändiger. Es braucht Untersuchungen, Diskussionen, Begründungen, Nachweise, Zulassungen, Bewilligungen, Mittel, Fristen. Auch fassen wir kaum etwas zum ersten Mal an und wo finden wir die alten Aufzeichnungen? Das Analoge hat den Vorteil des Unmittelbaren, das aber in der Masse leicht verloren geht. Das Digitale ist immer nur vermittelnd, aber es kann helfen, sich zu erinnern.
Andreas Putz ist Professor für
Neuere Baudenkmalpflege an der
Technischen Universität München
Foto: privat
Forschungsportal
Mit baureka.online bauen der Lehrstuhl für Architekturgeschichte der RWTH Aachen, das Fachgebiet Bau- und Stadtbaugeschichte der TU Berlin und FIZ Karlsruhe ein fachspezifisches, digitales Portal für die Historische Bauforschung auf. Das Portal will der der Fachcommunity einen Speicherort für die zentrale und langfristige Sicherung der umfangreichen Konvolute meist digitaler Daten zur Verfügung stellen, die bei bauhistorischen Untersuchungen anfallen. Das können Vermessungsprotokolle, Punktwolken, die daraus abgeleiteten Zeichnungen und Modelle oder Fotos, Scans und Kartierungen sein. Darüber hinaus soll das Portal den Austausch, die Nachnutzung und die projektübergreifende Auswertung von Forschungsdaten fördern, indem es von Bauforscher:innen erhobene Daten nach klaren Regeln zugänglich macht.
www.baureka.online