Hotel Wilmina, Berlin
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Einst beherbergte das Frauengefängnis an der Kantstraße in Berlin Charlottenburg unter anderem Menschen, die sich dem Regime im Nationalsozialismus widersetzt haben. 1896 wurde es zusammen mit dem zugehörigen Strafgericht von den Architekten Adolf Bürckner und Eduard Fürstenau gebaut. Das wilhelminische Gerichtsgebäude, das sich im vorderen, straßenseitigen Grundstücksteil befindet, wurde zuletzt als Grundbuchamt Charlottenburg-Wilmersdorf genutzt. Heute ist daraus der Kultur- und Veranstaltungsort „Amtsalon“ geworden. Das Gefängnis wurde 1985 geschlossen. Es beherbergt nun Hotelgäste, die hier eine ruhige und grüne Oase abseits des Hauptstadttrubels finden.
Das ehemalige Gerichtsgebäude an der Kantstraße ist heute der „Amtsalon“, ein Kunst- und Kulturort. Hinter dem Gebäude befindet sich das ehemalige Gefängnis, in dem heute Hotelgäste schlafen
Foto: bocci
Als das Gebäudeensemble Ende der Nuller Jahre in einem Bieterverfahren zum Verkauf stand, beauftragte ein privater Bauherr Grüntuch Ernst Architekten mit einer Machbarkeitsstudie. Im Laufe der Zeit verlor er das Interesse an dem Projekt. Auch bei den anderen Bieter:innen fehlte die Fantasie, wie dieser geschichtsträchtige Ort zeitgemäß umgenutzt werden könne, erzählt Armand Grüntuch, der das Architekturbüro Grüntuch Ernst zusammen mit seiner Frau Almut Grüntuch-Ernst leitet. Schließlich stieg der Bauherr aus dem Projekt aus und die Architekt:innen kauften 2010 die Gebäude an der Kantstraße selbst. „Als Architekt fällt es einem leichter, mit den Widersprüchen einer solchen Bauaufgabe umzugehen. Es ist eine der Grundaufgaben der Architektur, daraus eine versöhnliche Lösung zu schaffen“, erklärt Grüntuch die Ambitionen von ihm und seiner Frau für die Weiterführung des Projekts.
Die Renaturierung des Innenhofs verdeutlicht den neuen Kontext des Ortes bereits von Außen
Foto: Wilmina
Natur
Betritt man heute das Grundstück, ist nichts von den ehemaligen Machtverhältnissen, sondern viel mehr von einer einladenden Leichtigkeit zu spüren. Um zum Hotel zu gelangen, müssen Besucher:innen als erstes das Tor des ehemaligen Amtsgerichts an der Kantstraße passieren. Es beinhaltet nicht nur den Amtsalon, sondern auch die Hotelrezeption. Sie kommen in den ersten Hof, in dem sich heute der Eingang zum Restaurant Lovis befindet. Durch ein weiteres Tor gelangen die Hotelgäste in einen begrünten Innenhof. „Das ist quasi das erste Zimmer, das grüne Zimmer“, erzählt Almut Grüntuch-Ernst. Zu diesem Ort haben nur die Hotelgäste zutritt. Wo früher grauer Asphalt den Boden bedeckte, wachsen heute üppige Stauden sowie wilde Farne und Kletterpflanzen. Hier genießen die Gäste eine Ruhe, die man in unmittelbarer Nähe der vielbefahrenen Kantstraße nicht vermuten würde. „Wie kann man mit Trauer umgehen? Das ist auch ein klassisches Thema auf Friedhöfen. Die Natur hat etwas Versöhnliches“, erläutert Armand Grüntuch die Intention der beiden Architekt:innen. „Die Renaturierung war uns sehr wichtig. Als Kontrast zu dem Starren der alten Mauern kommt das Ungeplante der Natur“. Die zwei eingeschossigen Trakte – ein neues Restaurantgebäude sowie das alte Waschhaus – sind ebenfalls üppig begrünt. Hier wachsen nicht nur Bodendecker. Es wurden unter anderem Reispapierbäume, chinesische Götterbäume und Winterschachtelhalm gepflanzt. Ein Experiment auch für die Forschung der Architektin an der TU Braunschweig zur „Hortitecture“- die Suche nach Synergien zwischen Architektur und Pflanzen.
Die Architekt:innen fanden die Bausubstanz in einem guten Zustand vor. Die massiven Außenwände mussten lediglich gereinigt werden. Die Fenster vergrößerten sie und ließen die alten Gittter davor als Zeichen der alten Nutzung
Foto: Wilmina_pp
Licht
Die oberste Priorität der Architekt:innen bestand darin, den Ort der Beklemmung in einen hellen Ort der Gastfreundschaft zu verwandeln. Sie ergriffen gezielte Maßnahmen, um den Besucher:innen sinnliche Raumerfahrungen zu ermöglichen. An erster Stelle stand das Thema Licht. „Wir haben uns zum Licht vorgekämpft“, erzählt Armand Grüntuch, „indem wir erstmal sehr viel altes Material rausgenommen haben“. Zum Beispiel vergrößerten die Architekt:innen die Zellenfenster. Die Brüstung war vorher so hoch, dass die Insassen nur den Himmel sehen konnten. „Das war die wichtigste Entscheidung, die wir getroffen haben: Die Fenster zu vergrößern, indem wir sie aufschneiden und das alte Fensterbrett weiter unten wieder ins Mauerwerk einsetzen“, sagt Almut Grüntuch-Ernst. Die alten Gitter bleiben im oberen Fensterteil erhalten. Die herausgenommenen Steine haben die Handwerker:innen gesammelt und für den neuen Anbau des Restaurants genutzt.
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Aber nicht nur beim Tageslicht haben die Architekt:innen nachjustiert. Ein wiederkehrendes Motiv im Hotel sind Leuchtenensembles aus zahlreichen kleinen Glaskugeln, die der Designer Omer Abel für die Marke Bocci entworfen hat. Sie scheinen im Nichts zu schweben. Im Dunkeln spiegeln sie sich in den Fenstern, sodass ein endloser Raumeindruck entsteht. „Das Licht wird zum Hauptakteur“, fasst Armand Grüntuch zusammen.
Der alte Lichthof ist ein besonderer Ort. Wo früher Sicherheitsnetze spannten, hängen heute gläserne Pendelleuchten
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Foto: Wilmina
Blickbezüge
Im Gefängnis sollten die Menschen sich untereinander möglichst wenig sehen. Heute gibt es viele zum Teil überraschende Sichtverbindungen. Nicht nur in den ehemaligen Zellen mit den zu hohen Fenstern haben die Architekt:innen die Blicke umgeleitet. Auch in den öffentlichen Bereichen gibt es immer wieder kleine Fenster und Wandöffnungen, durch die man in einen anderen Raum blicken kann. So haben die Gäste in den verwinkelten Innenräumen immer etwas Neues zu entdecken.
Den Haupteingang ins Gebäude haben die Architekt:innen um ein halbes Geschoss nach unten versetzt, damit die Gäste nun ebenerdig in eine eineinhalbgeschossige Lobby kommen, anstatt, wie früher, einige Stufen zu erklimmen, um ins Hochparterre mit niedriger Deckenhöhe zu gelangen. Armand Grüntuch erklärt: „Die Menschen sollten im Gefängnis klein gemacht werden, man musste den Kopf nach unten neigen. Jetzt hebt man beim Gang durch das Gebäude immerzu den Kopf“.
Damit der Eingang ins Hotel luftig und großzügig wirkt, haben die Architekt:innen eine Zwischendecke entfernt. Für die Tür vergrößerten sie ein altes Fenster
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Haptik
„Man liest das Gebäude anders, wenn man versteht, was es vorher war“, sagt Almut Grüntuch-Ernst, „überall findet sich Narbengewebe, das wir ganz bewusst so gelassen haben“. Denn ein weiterer Aspekt der Transformation war das Thema Haptik. Spuren der wechselhaften Geschichte des Gebäudes sollten bleiben und im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar werden. „Hier im zentralen Treppenhaus sind wenige Eingriffe zu sehen, aber wir hatten ein Problem: Die Höhe des Treppengeländers stimmte nicht mehr für die heutigen Anforderungen“, erzählt die Architektin in dem hohen Raum, dessen einzige neue Elemente die kugelförmigen Glasleuchten zu sein scheinen. Grüntuch-Ernst und ihr Mann fanden eine ungewöhnliche Lösung: Alle Eisenstangen wurden geteilt und mit 20 cm neuem Material verlängert. Der Eingriff fällt Betrachter:innen erst auf den zweiten Blick auf. „Eine anstrengende Übung, aber wir fanden, dass es sich lohnt“, resümiert die Architektin. Neben dem alten Geländer streifen die Hände der Besucher:innen auch freigelegte alte Wände oder, beim Betreten ihrer Zimmer, die alten Zellentüren. Diese mussten komplett aufgearbeitet werden, um den Anforderungen an Brand- und Schallschutz zu entsprechen. Eine weitere aufwändige Maßnahme, die im Nachhinein kaum auffällt.
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Ein Ort im Hotel verdeutlicht die Transformation besonders: Der Flur des Zellentraktes mit einem Luftraum über alle fünf Etagen. Man kennt ihn aus Filmen, eine klassische Typologie. Nebeneinandergereihte Zellen an zwei Gängen, die im 90-Grad-Winkel aufeinandertreffen, sodass sich die Gefangenen möglichst wenig sehen können. Am Kreuzungspunkt war der Platz der Wärter:innen, von hier konnten sie alle Zellentüren einsehen. Heute steht an diesem Platz eine große Zimmerpflanze. Früher waren die Lufträume mit Netzen bedeckt, um der Suizidgefahr vorzubeugen. Heute sind sie offen, von oben kommt Licht durch die Dachverglasung. Im Luftraum scheinen die kleinen Leuchten von Omer Abel zu schweben.
Immer wieder kommen die Gäste mit alten Elementen in Berührung. Das Mauerwerk ist weiß verschlämmt
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Struktur
Die meisten Zimmer befinden sich in den alten Zellen. Hier dominieren ruhige, helle Farben und Naturmaterialien. Zwischen zwei und vier Zellen legten die Architekt:innen zusammen, um verschieden große Hotelzimmer anbieten zu können. Alle mit einem eigenen Badezimmer und alle ein wenig unterschiedlich. Die kleinste Variante „Cosy“ besteht aus einem winzigen Vorraum, von wo aus man geradeaus in das Badezimmer gelangt. Nach links gelangt der Gast über wenige Stufen nach oben in die zweite Zelle, die nahezu vollständig mit einem großen Bett ausgefüllt ist. Hier ließen die Architekt:innen die Fenster in alter Größe. Das Problem mit der Brüstungshöhe lösten sie, indem sie den Boden der Zelle um einige Zentimeter anhoben. In den etwas größeren Zimmern bilden zwei oder drei Zellen den Schlafraum.
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Barrierefreie Zimmer befinden sich im Verwaltungsbereich, die Anforderungen ließen sich nicht mit den Zellengrundrissen vereinen. Weitere, größere Zimmer befinden sich in der neuen Dachaufstockung. Einige Entscheidungen waren rein wirtschaftlich sicherlich nicht immer sinnvoll. Mit einem gewöhnlichen Auftraggeber wären sie vielleicht anders ausgefallen. Aber gerade diese Eingriffe machen den Charme des neuen Ortes aus. Sie zeigen, mit wieviel Muße sich die Architekt:innen auch den kleinsten Details widmeten, um eine vollständige Transformation hin zum Licht und zur Ruhe zu erlangen.
Das Pflanzenmotiv wird auch im Gebäudeinneren fortgeführt. Zimmerpflanzen stehen in Aufenthaltsbereichen, die Zimmer sind mit getrockneten Pflanzen dezent geschmückt
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Im Restaurant Lovis, das sich im ehemaligen Schleusenhof befindet, speisen die Gäste unter einem Lichterhimmel
Foto: Wilmina_rr
Grundriss 1.Obergeschoss
Grundriss „Cosy“
Grundriss „Classic“
Grundriss „Classic Garden View“
(barrierefrei)
Grundriss „Penthouse Compact“
Projektdaten
Objekt: Wilmina (mit Lovis und Amtsalon)
Standort: Kantstraße 79, Berlin
Bauherrin: Wilmina GmbH
Architektur/Innenarchitektur: Grüntuch Ernst Architekten, Berlin,
www.gruentuchernst.de
Eröffnung: 2022
Bauleitung: Grüntuch Ernst Architekten
Tragwerksplanung: GTB-Berlin Gesellschaft für Technik am Bau, Berlin,
www.gtb-berlin.de;
StudioC, Berlin, www.studioc.de
Haustechnik: Ingenieurbüro Weltzer, Berlin
Beratung Gartengestaltung: atelier le balto, Berlin, www.lebalto.de; Christian Meyer Garten- und Bepflanzungsplanung, Berlin,
www.buero-christian-meyer.de
Anzahl der Zimmer: 44
Preis pro Übernachtung: ca. 191 €
www.wilmina.com
Herstellerfirmen
Betten: COCO-MAT, www.coco-mat.com; Walter Knoll, www.walterknoll.de
Möbel: Carl Hansen & Søn,
www.carlhansen.com;
Fredericia Furniture, www.fredericia.com
Sanitärkeramiken: Laufen Deutschland, www.de.laufen.com;
Agape, www.agape32.de;
Bette GmbH & Co. KG, www.my-bette.com
Beleuchtung Treppenhäuser, Atrium, Lobby, Rezeption: Bocci, www.bocci.com
Pendelleuchten Tagesbar: Artemide,
www.artemide.com
Deckenleuchten: iGuzzini illuminazione, www.iguzzini.com;
Deltalight, www.deltalight.de;
Penta, www.pentalight.com
Tischleuchten Restaurant Lovis: Tobias Grau, www.tobiasgrau.com
Außenleuchten: Vibia, www.vibia.com;
Flos, www.flos.com; iGuzzini illuminazione, www.iguzzini.com; Deltalight,
www.deltalight.de; BEGA Gantenbrink-Leuchten KG, www.bega.com
Vorhänge: Kvadrat A/S, www.kvadrat.dk
Naturholzboden: mafi Naturholzboden GmbH, www.mafi.com; Parkett Hinterseer GmbH, www.hinterseer.com
Türbänder: Simonswerk GmbH,
www.simonswerk.de
Türdrücker: HAFI Beschläge GmbH,
www.hafi.de
Bad Armaturen: Hans Grohe SE,
www.hansgrohe.de
Drückerplatten: TECE GmbH,
www.tece.com; Geberit AG,
www.geberit.de
Badaccessoires: Keuco, www.keuco.com; Hewi, www.hewi.com; FSB,
www.fsb.de; Menu