Foto: Therese Mausbach
Ich bin in Paris. Auf dem Gehsteig klackern die Schuhe eleganter Französinnen, etwas bohème wirken die Brillen der Pariser Intellektuellen. Spätestens bei der Bestellung meines Kaffees entlarve ich mich als Urlauberin. Sogleich frage ich mich, ob es Momente gibt, in denen man innerhalb der EU ganz und gar beheimatet ist. Um sich als EU-Bürgerin zu fühlen, bedarf es einer anderen Strategie, fernab der kommerziellen Sehenswürdigkeiten und der typischen Touristenaktivitäten. Souverän, ohne irrenden Blick, will ich mich unter das Volk mischen. Und hierbei gibt es nur einen Kleidungsstil, der die Nationen eint: die Sportklamotte. Leggings, Shirt und Laufschuhe passen gut in das Gepäck und verwandeln die City-Touristin in eine Sportreibende inmitten des urbanen Alltags. Architektur und Stadtplanung machen den lockeren Lauf zum Erlebnis. Gefällt ein Ort mal nicht, tut man immerhin etwas für die Gesundheit. Ein paar schöne europäische Runden sind schon gedreht worden, wie etwa in Straßburg. Dort verwebt sich als EU-Hauptstadt inzwischen vereint französische mit deutscher Geschichte. Start und Ziel der Laufroute ist der Sitz des europäischen Kultursenders Arte. Am Quai in Richtung Innenstadt entlang führt die Strecke zur Église réformée Saint-Paul. Mit einer Biegung nach rechts gerät man zum Place de la République. Das Stadtzentrum umkreisend, setzt sich der Weg am nördlichen Flussarm fort, von wo aus die historische Altstadt auf der „Grande Île“ zu sehen ist. Über den Vauban-Staudamm geht es weiter gen Süden zum Quai Louis Pasteur. Weitläufig eröffnet sich die junge Stadterweiterung Neudorf, die die großzügige Laufrunde insbesondere durch die kulturelle Bespielung des Vorplatzes der Bibliothek André Malraux bereichert. Am Quai des Alpes fällt der Blick auf das industriegeprägte Hafengelände, folgt dem Kanal und wird auf der Zielgeraden vom Parc de l’Orangerie belohnt, an dessen Kopfseite der Europarat tagt. Weiter am Quai entlang schweift der Blick über das europäische Parlament, um bei der nächstgelegenen Brücke zu Stephan Balkenhols Holzskulptur „Giraffenmann“ vor Artes Hauptverwaltung anzukommen.
Europäische Empfehlungen
Eine herrliche Aussicht auf das junge Hafengelände Oslos, auf seine Fjordlandschaften, die Oper, das Munch-Museum bietet der Ekebergpark. Wald, Gestein und Hügel prägen die Anlage. Immer wieder tauchen Skulpturen auf, eine moderne Sammlung internationaler Künstler, die ein Osloer Mäzen der Stadt stiftete. In Schlangenlinien geht es durch das einst zweigeteilte Berlin, vom Hansaviertel – die Interbau 1957 – über die vielfach geschwungenen Wege des Tiergartens, vorbei am Haus der Kulturen der Welt, dem Regierungsviertel und dem Brandenburger Tor. Über die seit kurzem verkehrsberuhigte Friedrichstraße gelingt sogar der Besuch des ehemaligen Grenzübergangs, dem Tränenpalast, um in der nächsten Schlaufe über die Museumsinsel schließlich zum Fernsehturm zu gelangen. Nächste Station: München. Die Stadt feiert dieses Jahr das fünfzigste Jubiläum der Olympischen Spiele. Deren Parkanlage ist architektonisch und landschaftlich bewegend und bildet einen regen Kontrast zur Alternativroute durch den Englischen Garten, der gerade wegen seines wildromantischen Isar-Flusslaufs das Umkehren erschwert. Zwischen den zwei Warschauer Brücken Gdanski und Slasko-Dabrowski befindet sich ein großzügiger Boulevard entlang der Weichsel. Der Blick über das Wasser und auf das andere, verwilderte Ufer lohnt sich. Die Promenade führt vorbei an dem wiederaufgebauten Schloss, dem Museum für moderne Kunst, dem Wissenschaftszentrum und mündet auf erfrischende Weise in einem Springbrunnenpark. In der portugiesischen Algarve wiederum befindet sich der Fischerort Alvor. Südwestlich führt der Holzbohlenweg „Passadiços de Alvor“ die Läuferin durch die Meeresdünen der Lagune entlang zum Strand, an dessen Stelle die Abendsonne einem den Atem rauben kann.
Wieder zurück in Paris
Joggen durch Versailles? War sicher nicht unter Louis XIV. möglich – heutzutage schon. Lässig durch barocke Jardins, durch Labyrinthe und Palmen, den anfänglich vielen Touristen, die – desto weiter vom Schloss entfernt – immer seltener werden. Kreuzförmig erstreckt sich der „Grand Canal“. Alteingesessene Läufer grüßen mit einem anerkennenden Nicken. Völlig akzentfrei nicke ich zurück und denke: „l‘Europe, c’est moi!“
Therese Mausbach arbeitet seit 2019 als Redakteurin für die Bauwelt und die DBZ. Im Bachelor durfte sie als eine der letzten Student:innen ihren Erasmusaufenthalt in England verbringen.