KI-Einsatz beim Bauen im Bestand
Michael Schuster: Ich erinnere mich gut an mein erstes Interview für die DBZ mit der Bundesstiftung Baukultur. Gerade war der Baukulturbericht 2022/23 mit dem Titel „Neue Umbaukultur“ veröffentlicht. Die Bundesstiftung hatte angeregt, nicht mehr von „grauer Energie“ zu sprechen, sondern von „goldener Energie“, die im Bestand gespeichert ist, um so dem Wert des Bestands eine neue Bedeutung zu geben. In den vergangenen Jahren ist vielen ins Bewusstsein gerückt, dass sich klimapolitische Ziele nur mit dem Bestand realisieren lassen. Welche Bedeutung hat Deiner Meinung das Bauen im Bestand?
Jan R. Krause: In den aktuellen Erhebungen der Bundesarchitektenkammer wird die Bedeutung für den Planungsalltag deutlich. Architektinnen und Architekten in Deutschland haben inzwischen den größeren Teil ihrer Aufträge im Bestand als im Neubau. Auch die Konjunkturprognose von Architekturbüros geht in die gleiche Richtung. Sanierungsprojekte werden zunehmen, das Neubauvolumen wird nach Einschätzung der Architektinnen und Architekten eher stagnieren oder schrumpfen. Das ist ein interessanter Indikator, der bestätigt, dass es sich nicht um einen akuten Zustand, sondern um eine anhaltende Entwicklung handelt.
Michael Schuster: Diese Entwicklung scheint sich auch in den Architekturpreisen widerzuspiegeln. Beim Balthasar Neumann Preis wurden mit dem Hobelwerk in Winterthur von Pascal Flammer, dem Coppenrath Innovation Centre in Osnabrück von Kresings Architekten und der Hyparschale in Magdeburg von gmp Architekten Projekte ausgezeichnet, die mit dem Bestand und mit wiederverwendeten Materialien arbeiten. Gerade habe ich in einer Jury erlebt, dass es mehr Einreichungen von umgebauten Bestandsimmobilien als von Neubauten gab. Ist das auch eine Tendenz, die zeigt, dass dieser Bewusstseins- und Wertewandel die Menschen erreicht hat?
Jan R. Krause: Das war vor zehn Jahren noch ganz anders, da war ich in Jurys von Architekturpreisen, in denen wir händeringend nach guten Sanierungsbeispielen gesucht haben. Wir erleben quantitativ und qualitativ eine deutliche Steigerung in Architekturwettbewerben, Aufträgen und auch in der medialen Berichterstattung. Das ist gut, denn gleichzeitig erfahren wir immer noch große Vorbehalte von Bauherren und Investoren, die höhere Kosten und geringere Gestaltungs-
möglichkeiten befürchten. Hierfür brauchen wir viele realisierte, abgerechnete Beispiele mit Vorbildfunktion. Denn es gibt gute Argumente für das Bauen im Bestand, auch ökonomische Argumente, insbesondere wenn man die kompletten Lebenszykluskosten und Umweltauswirkungen mit einrechnet.
Michael Schuster: Das ist Anlass für uns, ganz fokussiert einen Blick auf den Einsatz von Künstlicher Intelligenz für das Bauen im Bestand zu richten. Große Bestandshalter in Deutschland, zum Beispiel im Wohnungsbau, schieben einen gewaltigen Investitions- beziehungsweise Renovierungsstau vor sich her. Inwiefern kann KI dazu beitragen, Potenziale zu erschließen und das Portfolio ökologisch und ökonomisch zukunftsfähig zu machen?
Jan R. Krause: Es ist interessant, in diesem Kontext die Perspektive zu wechseln und auf die Bestandshalter und Investorenseite zu blicken, nachdem wir uns in den Gesprächen zuvor weitgehend mit den KI-Optionen für Architekten und Ingenieure befasst haben. Gleichzeitig ist dieser Perspektivwechsel und die qualifizierte Beratung ja ureigenste Architektenaufgabe. Am Anfang jeder Bauaufgabe steht die gründliche Analyse. Für die Bestandsanalyse und Bewertung mit möglichst verlässlichen Zahlen, die auf großen Datenmengen aufbauen, kann KI einen erheblichen Beitrag leisten, um eine frühe Einschätzung für die räumlichen, programmatischen und auch ökonomischen Perspektiven des Gebäudebestands zu bekommen.
Michael Schuster: Zur Bestandsanalyse gehört das Aufmaß des Gebäudes. Sven Lechner von nyx Architekten, bei dem wir heute in Nürnberg zu Gast sind, durchläuft mit einem 3D-Laser-Scanner die Gebäude und kommt mit Punktwolken ins Büro, die eine ziemlich präzise Grundlage für das digitale Gebäudemodell liefern. Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz beim Gebäudeaufmaß?
Jan R. Krause: Alle Maße sind am Bau zu prüfen, steht auf jedem Architektenplan. Das digitale Laseraufmaß ist eine fantastische Grundlage, insbesondere für Innenräume, zum Beispiel mit NavVis. Das dazugehörige KI-basierte Tool NavVis Ivion hilft bei der Bereinigung der riesigen Punktwolken, die wir mit solch einem Laseraufmaß erzeugen. KI-gestützt können diese Datenmengen um 90 Prozent reduziert werden. KI-gestützt kann auch der Abgleich mit Bestandsplänen erfolgen, sofern diese überhaupt vorliegen. Oft stimmen Pläne und Bestand nicht überein, weil zum Beispiel Umbauten und Veränderungen nicht in den Plänen nachgeführt wurden. Hier können KI-Tools helfen, Abweichungen zu erkennen.
Michael Schuster: In diesem Fall können KI‘s also einen Beitrag zur Ressourcenschonung, zu mehr Schnelligkeit, größerer Präzision und geringerem Datenvolumen leisten. Welchen Nutzen kann ein Architekt oder eine Architektin beim Bauen im Bestand sonst noch aus KI‘s ziehen?
Jan R. Krause: Mit einer KI wie Syte lassen sich für den Gebäudebestand Nutzungsszenarien darstellen und Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen erstellen. Mit einer KI wie keeValue lassen sich entwurfsbegleitend Kosten ermitteln und Umweltauswirkungen einschätzen. Gerade bei Sanierung und Umbau sind das nützliche Tools, die frühzeitig Orientierung und Sicherheit für Planungsentscheidungen geben.
Michael Schuster: Sicherheit suchen Investoren und Bestandshalter nicht nur in der Planung, sondern auch im Betrieb über eine lange Lebensdauer. Welche Möglichkeiten bieten KI‘s hier, die richtigen Entscheidungen zu treffen?
Jan R. Krause: KI‘s können einen Beitrag zur Risikoabschätzung leisten. Das kann für Architekten bei der Beratung von Bestandshaltern und Anlegern interessant sein. Sophie Kilian, Consultant für Geschäftsmodellentwicklung und digitale Transformation bei TLGG berichtet, dass angesichts von Klimawandel, Starkregenereignissen und anderen menschengemachten Klimakatastrophen die Versicherungsprämien für Gebäude steigen werden. Eine frühe datenbasierte und KI-gestützte Risikoabschätzung kann dazu beitragen, Gebäude angemessen einzustufen, bestenfalls Gefahren zu vermeiden und eine größere Sicherheit für die Lebensdauer von Immobilien zu bekommen. In der Regel sind das noch Einzel-KI‘s für Spezialaufgaben. Deshalb spricht Sophie Kilian von der „KI-Orchestrierung“. Solange nicht alles in einer KI drin ist, muss es jemanden geben, einen Facility Manager für KI-Orchestrierung, der die richtigen Tools für die richtigen Fragen beherrscht.
Michael Schuster: Wäre das nicht auch ein separates Berufsfeld innerhalb der Architektur? Ähnlich wie mit den Projektsteuerern, die vor 40 Jahren begonnen haben, Kernkompetenzen der Architekten zu einem eigenen Berufsbild zu machen? Wird KI zum begleitenden Co-Piloten in diversen Softwareanwendungen für alle Anwender im Planungsalltag oder werden sich daraus berufliche Spezialisierungen entwickeln?
Jan R. Krause: Es werden neue digitale Geschäftsmodelle entstehen. Wir beobachten schon seit Jahren zahlreiche Spezialisierungen in der Architektur. Es gibt Architekturbüros, die sich auf Leistungsphase 1 bis 4 spezialisieren, andere auf 5 bis 9. Bauleitung, Kommunikation oder Visualisierung werden extern vergeben. Ich habe aus vielen Gesprächen mit Architektinnen und Architekten den Eindruck, dass es eine Hemmschwelle für den konsequenten und effizienten Einsatz von KI‘s gibt, weil das auch mit Investitionen verbunden ist. Florian Scheible von Schöne Neue Welt Ingenieure hat errechnet, dass ein komplett mit KI-Tools ausgestatteter Arbeitsplatz für ihre Zwecke als Fassadenplaner und Tragwerksingenieure einen jährlichen Betrag von 5 000 bis 6 000 € erfordert. Das muss durch eine entsprechende Effizienzsteigerung erst einmal ausgeglichen werden. So steht jedes Architekturbüro an der Schwelle zu prüfen, was mache ich selbst und wo wird es so speziell, dass ich das besser vergebe, weil die professionelle Arbeit mit KI‘s Lizenzen oder KI-Credits, Software-Abos oder Hardware voraussetzt. Daneben erfordert die Arbeit mit KI‘s auch Investitionen in Schulungen und Know-how-Transfer. Mitarbeiter sind im rechtmäßigen und effizienten Umgang mit KI‘s zu schulen. Und auch KI‘s sind wie neue Mitarbeiter zu trainieren, damit sie das liefern, was genau zu unseren Fragestellungen, zu unserer Aufgabe und zu unserer Arbeitsweise passt. Es handelt sich um Investitionen auf vier Ebenen: Personalschulung, KI-Training, Hardware und Lizenzen. Das kann dazu führen, dass neue Geschäftsmodelle entstehen und architektonisch denkende Dienstleister genau diese KI-Serviceleistungen anbieten.
Michael Schuster: KI-Schulungen gibt es bei den Architektenkammern. Wie werden sich die Schulungsangebote weiterentwickeln?
Jan R. Krause: Ähnlich wie die KI‘s, werden auch die Schulungsangebote differenzierter. Die einen brauchen eine generelle Einführung in Künstliche Intelligenz und die Verpflichtungen, die sich aus dem AI-Act der EU ergeben. Andere brauchen Rechtsberatung zu Urheberrechten. Bei meiner academy for architectural thinking werden vermehrt Inhouse Coachings zur KI-Implementierung im Architekturbüro angefragt. Dafür gibt es keine Blaupause. Da muss mit jedem Büro ein eigener Weg entwickelt werden. Das hat mit der jeweiligen Organisationsstruktur eines Büros zu tun. Ich erlebe, dass das Schulungsspektrum in Zukunft sehr viel spezialisierter sein wird. Es wird Schulungen zur KI-gestützten Potenzialermittlung, zu KI‘s für Kostenermittlung und Ökobilanzen, zu KI‘s in Energieeffizienz und für den KI-Einsatz in BIM-Modellen und im digitalen Zwilling geben. Ähnlich wie es an vielen Architekturfakultäten Professuren für Bauen im Bestand gibt, wird es auch spezialisierende KI-Schulungen für das Bauen im Bestand geben. Das alles sind Gebiete, die spezielles Know-how voraussetzen und differenzierte Angebote erfordern.
Michael Schuster: Das ist auch der Hintergrund, weshalb wir in unserem KI-Dialog in der DBZ monatlich ein spezifisches Thema beleuchten. Welche KI-Empfehlungen lassen sich denn an Architekturbüros, die sich mit dem Bestand beschäftigen, aussprechen?
Jan R. Krause: Wenn wir Architekturbüros in dieser Frage beraten, dann splitten wir den Analyse- und Planungsprozess in unterschiedliche Handlungsfelder auf: Aufmaß, Analyse, Bestandsbewertung, Energieeffizienz, Bauschadensanalyse, Potenzialermittlung, Nutzungsszenarien, Entwurfsplanung, Konstruktion und Materialisierung, Kostenermittlung und Ökobilanzierung, Baustellenorganisation und Logistik, planungs- und baubegleitende Kommunikation und Dokumentation, administrative Prozesse und Personalführung, Betrieb und Facility Management. Für alle Handlungsfelder prüfen wir die Arbeitsabläufe und suchen nach geeigneten KI-Tools, die die spezifische Arbeitsweise eines Büros bestmöglich unterstützen.
Michael Schuster: Gehen wir doch diese Handlungsfelder einmal durch. KI‘s für Aufmaß, Potenzialeinschätzung und Kostenermittlung hast Du schon genannt. Welche weiteren konkreten KI-Tools kannst Du für das Bauen im Bestand nennen?
Jan R. Krause: Zu den Anwendungsbeispielen für Aufmaß und Punktwolkeninterpretation zählt neben NavVis Ivion auch das KI-Tool Aurivus. Das Programm erkennt anhand der Punktwolkenstruktur Architekturelemente, Einrichtungsgegenstände, Sanitärobjekte, strukturiert und bereitet Scandaten so auf, dass BIM-Modelle einfacher und schneller generiert werden können. Für den Baustellenalltag eignet sich OpenSpace Capture. Mithilfe handelsüblicher 360 °-Kameras wird der aktuelle Baustellenzustand erfasst und in einem virtuell begehbaren Modell dokumentiert, das mit Projektbeteiligten online geteilt werden kann. Die Spatial AI engine ordnet die Baustellenbilder automatisch den Grundrissen und BIM-Daten zu. Mit Tools wie der BIM-Kollaborationsplattform Autodesk Construction Cloud lassen sich BIM-Modelle, Ausschreibungsdaten oder Bauzeitenpläne KI-gestützt auswerten, potenzielle Verzögerungen oder Ressourcenengpässe im Vorfeld erkennen, mögliche Fehler, Konstruktionsmängel oder Montageprobleme identifizieren. Das senkt Fehlerquoten, steigert die Ausführungs- und Projektqualität und verringert änderungsbedingte Nacharbeiten oder unnötigen Materialverbrauch.
Michael Schuster: Gibt es auch Tools für die Bauschadens-analyse?
Jan R. Krause: Ich bin überzeugt, dass Bauschadenssachverständige mit ihrem Fachwissen und ihrer Erfahrung auch weiterhin eine ganz wichtige Aufgabe haben. Es ist aber erstaunlich, wie gut KI‘s aus der Interpretation von Bildern bereits Hinweise geben können. Der Bauschadenssachverständige Thomas Möller, Bauingenieur bei Bauwens, hat mit Bildern von Feuchteschäden, Algenbefall und Rissen gezeigt, wie sogar eine Universal-KI wie Chat GPT 4.0 Bauschäden auf Fotos erkennt, beschreibt, Vermutungen zu Ursachen anstellt und Sanierungslösungen vorschlägt, die erstaunlich praxistauglich sind.
Michael Schuster: Es gibt für Analyse und Planung im Bestand einen großen Werkzeugkasten für die einzelnen Aufgabenfelder. Kann die KI also die Spezialisten ersetzen?
Jan R. Krause: Vorläufig werden KI‘s weder die Architekten noch die Sachverständigen ersetzen. Ich glaube nach wie vor fest an den Menschen, seine Bildung, seine Erfahrung und seine Kreativität. Gerade im Bereich der Kreativität sind wir den KI‘s noch deutlich voraus, weil KI‘s nur wiederholen können, was sie kennen. Wir werden zu neuen Formen der Zusammenarbeit von Mensch und Maschine kommen und eine Frage immer wieder neu ausloten: Was können wir als Menschen besser und wo können wir diese Maschinen gut nutzen als Beschleuniger, als Hinweisgeber, vielleicht auch als Instrument, um zu einer größeren Präzision zu kommen. Aber am Ende müssen wir Menschen das letzte Korrektiv bleiben. Die KI nimmt uns Arbeit, aber keine Verantwortung ab. Die tragen wir als Architekten und Ingenieure selbst.
Michael Schuster: Das ist ein gutes Schlusswort und zugleich eine Möglichkeit zu unseren nächsten Themen überzuleiten. Wir sprechen über Künstliche Intelligenz im Engineering, KI in der Nachhaltigkeit und KI für die Resiliente Stadt. Und wir möchten an dieser Stelle unsere Leserinnen und Leser einbeziehen: Welche Fragen haben Sie zu Künstlicher Intelligenz in Architektur und Bauingenieurwesen? Welche Themen interessieren Sie? Wir laden Sie ein, sich an diesem Dialog zu beteiligen. Schreiben Sie uns an:
michael.schuster@dbz.de
jan.krause@hs-bochum.de