Le Corbusier oder der (Gebäudetyp) Esel

E wie einfach, S wie stur, E wie energieefizient, L wie leidensfähig. Der Gebäudetyp ESEL kann, so unser Autor Alexander Stumm, zum Vorbild werden. Das vermeintlich „faule“ Tier ist bekannt dafür, dass es sich den einfachsten Weg aussucht. Der (unvernünftige) Mensch wiederum „trottelt“ ihm hinterher. Für den großen Meister der Moderne ­­Le Corbusier ist der Esel und seine „gekrümmte Straße“ das Feindbild einer modernen Gesellschaft, in der „die gerade Straße der Weg der Menschen“ sei. Die Konsequenzen dieser auf Profitmaximierung orientierten Ideologie sind heute sichtbar. Wir sollten uns gut überlegen, ob wir nicht doch dem Esel folgen wollen.

Für die längste Zeit der Architekturgeschichte war die Tradition das Vorbild. Anders als ein Blättern im Pevsner suggerieren mag, war Innovation die Ausnahme. In der Bauhütte war der Meister das Vorbild für den Gesellen. Die Gegenwart hatte sich an die Tradition anzupassen, Neuerungen kamen traditionell durch die (historische) Hintertür und nur in Ausnahmefällen wirklich systematisch.

Das ändert sich in der Kunst Anfang des 19., in der Architektur eigentlich erst Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Vorstellung der Avantgarde. Die geistige Vorhut marschiert an der architektoni­schen Entwicklungs-Linie voran, koste es, was es wolle. Der Avantgarde-Architekt ist Vorbild, weil er heraustritt aus der „Masse“, zugleich zu ihrem Wohle, mitunter fast in liebevoller Selbstaufopferung für sie, die ja den richtigen Weg nicht kennt.

Für den handelsüblichen Architekten der Moderne galt demnach derjenige als Vorbild, der Aufbruch und Neuerung repräsentierte. Träumte man sich als feinsinniger, zugleich kompromissloser Ästhet – Mies! Wollte man es etwas preußisch-klassizistischer – Schinkel! Oder eher hemds­ärmelig mit einem Hauch Kalifornien – Neutra!

Auf jeden Fall aber, an ihm gab es keinen Weg vorbei: Le Grand, Le Corbu. Er ist der Archetypus des modernen Architekten. Auch wenn er in seiner Theorie gerne die Tradition als Vorbild heranzieht (Parthenon!), nein, Tradition war sein Ding nicht. In der „neuen Zeit“ der Maschine sollte doch so gut wie alles neu, oder besser: abgerissen und neu gebaut werden. Um zum Vorbild zu werden, hat sich der große Schweizer als Feindbild eines der unwahrscheinlichsten, zugleich schillerndsten Wesen unseres Planeten ausgesucht: den Esel. Lassen wir ihn, Le Corbusier, selbst zu Wort kommen: „Der Mensch schreitet geradeaus, weil er ein Ziel hat; er weiß, wohin er geht, er hat sich für eine Richtung entschieden und schreitet in ihr geradeaus. Der Esel geht im Zickzack, döst ein wenig, blöde vor Hitze und zerstreut, geht im Zickzack, um den großen Steinen auszuweichen, um sich den Anstieg sanfter zu machen, um den Schatten zu suchen. Er strengt sich so wenig wie möglich an.“

Le Corbusier erkennt an: „Der Esel hat alle Städte des Kontinents gezeichnet.“ Denn wo der Esel hinlief, der Mensch der „alten Zeit“ trottete ihm hinterher, wodurch die krummen und schiefen Straßen der mittelalterlichen Stadt entstanden sein sollen. Der Esel muss in der Moderne also auf Linie gebracht werden und das geht nicht ohne Gewalt. Es bedarf eines strengen, ja unerbittlichen und gnadenlosen Hirten. Le Corbusier ist eine Verkörperung der Pastoralmacht. Als diese ist er das Vorbild der Avantgarde schlechthin. Der Weg in die Zukunft ist für Le Corbusier immer geradeaus nach vorne und dabei alle Hindernisse aus dem Weg schaffend.

Vorbild Esel?

„Am schönsten sind nach alledem die Entwürfe des Esels“, merkt wiederum Michael Wilkens, Mitgründer der Baufrösche an. Ein weiterer der vielen zitierwürdigen Sätze von Wilkens war auch: „daß wir so viele (nachweisbar!) schlechte Bauten, Wohnsiedlungen, Bürostädte und ‚Zentren‘ haben, liegt einfach daran, daß die Architekten unbedingt gute Entwürfe machen wollen.“ Die kultische Stilisierung des entwerfenden Architekten zum Künstlergenius war Wilkens ein Graus. Mehr Esel wagen also? Wie lassen sich aber die stadtplanerischen Fähigkeiten des universellen Trag- und Lasttiers auf die Architektur übertragen? Taugt er hier wirklich als Vorbild?

Als Architekt*in kann ich mir den Esel schlecht vorstellen. Aber vielleicht als Gebäudetyp? Gebäudetyp ESEL. Dieser steht für: E wie einfach – das ist klar, der Esel ist ein einfaches, geradezu sprichwörtlich einfältiges Tier, unprätentiös und tendenziell weit entfernt von jeder technischen oder anders gearteten – kostentreibenden – Komplexität (man denke an  „Drahtesel“). S wie stur. Der Esel verwehrt sich jeder aktuellen Modeerscheinung. Er setzt voll und ganz auf das, was sich bewährt hat. Neuerung empfindet er nur da als sinnvoll, wo sie sich positiv auf seine Laufwege oder die Futterstelle (nennen wir es „umweltbedingte und gesellschaftliche Veränderungen“) auswirkt. Für Architekten, die von durch Profitmaximierung getriebenen Lobbygruppen lautstark propagierten Produktneuheiten hinterherlaufen wie einer vor die Nase gehaltenen Karotte, hat er nur ein müdes Schnaufen übrig. E wie energieeffizient. Haben Sie gesehen, mit welch beiläufiger Eleganz der Esel um den Felsblock herumgelaufen ist, anstatt ihn mit großem Aufwand auf eine weit entfernte Deponie zu verfrachten, und wie er sich clever in der Hitze des Tages unter den schattenspendenden Baum stellt, anstatt kurzsichtig ressourcenintensive Klimaanlagen zu erfinden, die zur globalen Erwärmung beitragen? Sparsam, effizient, energetisch vorbildlich. L wie leidensfähig. In aktuellen Architektur- und Klimadiskursen wird gerne das ominöse Wort resilient herangezogen. Wenn wir uns aber E wie Ehrlich machen, wird es, nach 200 Jahren fossilen Brennstoffen und einer umfassenden architektonischen Ausweitung der comfort zone in den nächsten 200 Jahren Klimakrise verstärkt um Leidens­management gehen. Kein Tier hat mehr Peitschenhiebe ertragen als der Esel. Nie kam es ihm in den Sinn, einfach aufzugeben. Eine leidensfähige Architektur ist robust, sie funktioniert auch, wenn der Lack ab ist, und lässt sich wieder reparieren.

Für mich ist der Gebäudetyp ESEL eine runde Sache. Besser als ein architektonisches Vorbild, das doch immer interpretierbar ist und nicht selten beim ersten stärkeren Wellengang über die Reling wandert, finde ich allerdings ein Gesetz. Was denken Sie, Frau Geywitz, haben wir einen Deal? GEBÄUDETYP ESEL – ganz groß, in kapitalen Lettern. Wäre das nicht der krönende Abschluss einer von vielen vorbildlichen Höhepunkten gezeichneten Amtszeit als Bauministerin?

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